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       # taz.de -- Eine multiple Persönlichkeit sucht ihr Leben
       
       > ■ Die Bremer Filmemacherin Liz Wieskerstrauch begleitete die Spurensuche
       > einer Frau, die als Kind sexuell missbraucht wurde. „Höllenqualen“ kommt
       > heute im Ersten und Donnerstag ins Kino 46
       
       Meist spricht sie als Nicki zu uns, manchmal als Burghardt, einmal mit der
       kindlichen Stimme einer Achtjährigen und dann mit dem Hüsteln und
       Sprachfehler eines verängstigten Mannes.
       
       Am liebsten würde man das als Hysterie und Schauspielerei abtun, denn was
       diese vielen in einem Körper wohnenden Persönlichkeiten da erzählen, oft
       regelrecht vor der Kamera nacherleben, ist so schrecklich, dass man es
       nicht glauben möchte. Eine Welt voller Schmerz, Angst, Missbrauch und Tod
       tut sich vor uns auf.
       
       Die Filmdokumentation „Höllenleben – eine multiple Persönlichkeit auf
       Spurensuche“ der Bremer Autorin Liz Wieskerstrauch ist leider sehr
       überzeugend. Sie hatte mit „Menschen hautnah: Die Seele brennt“ schon
       früher eine Dokumentation über multiple Persönlichkeiten gedreht. Diese
       wurde immerhin von der konservativen Ärztevereinigung „Hardmannsbund“ mit
       dessen Fernsehpreis ausgezeichnet – das ist wohl ein eindeutiges Indiz
       dafür, dass die multiple Persönlichkeit inzwischen als Krankheitsbild
       anerkannt ist. Kinder unter drei Jahren, die noch keine starke eigene
       Persönlichkeit ausgebildet haben und ein extremes Trauma erleben, spalten
       sich in mehrere Individuen auf, die den Schmerz und die Todesangst unter
       sich aufteilen, um sie so überhaupt bewältigen zu können.
       
       Im welchem Maß Nickis Schilderungen „eins zu eins“ zutreffen, kann
       diskutiert werden. Aber dass sie als als kleines Kind über lange Zeiträume
       hin missbraucht und gequält wurde, ist belegt: Ihr Stiefvater wurde
       deswegen verurteilt. Und: Sie hat eine Vielzahl von körperlichen
       Beschwerden, die alle auf schlimmste Brutalität in der Kindheit hindeuten.
       
       Nach einer mehr als 10-jährigen Therapie entschied sich Nicki, nach den
       Spuren ihrer Vergangenheit zu suchen, also in der Außenwelt die
       entsprechenden Orte und möglichst auch Täter zu finden, die die Höllenwelt
       ihrer Erinnerungen ausmachen.
       
       Dabei begleitete sie das Kamerateam von Liz Wieskerstrauch, und
       dokumentierte so jeweils die Momente, in denen jeweils eine Persöhnlichkeit
       im Körper von Nicki einen Ort wiedererkannte, darauf oft mit
       „Erinnerungsschmerzen“ reagierte, in einer Burg sogar nach einem „Saal mit
       Säulen“ suchte und diesen dann schließlich auch fand. Zu jedem dabei
       gefundenen Indiz wird jeweils recherchiert. Spezialisten, wie ein
       praktischer Arzt, eine Psychotherapeutin, ein Journalist, der viel über den
       Satanismus geschrieben hat, kommen zu Wort und so wird Nickis Geschichte im
       Laufe des Films immer glaubwürdiger.
       
       Dass sie extrem leidet, und dazu gezwungen war, ein herzerreißend
       erbärmliches Leben zu führen, wird schnell klar. Aber letzte Klarheit
       darüber, ob sie wirklich von ihren Eltern einer satanistischen Sekte
       zugeführt wurde, die sie jahrelang missbrauchten, quälten, gar schwängerten
       und dann zwangen, das Neugeborene zu töten, gibt der Film nicht.
       Unumstößliche Beweise fehlen – der Stiefvater lebt zwar noch, wird aber nie
       gezeigt und sein Name wird jeweils mit einem Rauscher unkenntlich gemacht.
       In der letzten Szene des Films erstattet Nicki Anzeige gegen ihre Peiniger,
       und die Polizei hofft auf Hinweise nach der Fernsehaustrahlung.
       
       Liz Wieskerstrauch hat erst gar nicht versucht, eine objektive Perspektive
       für ihren Film zu finden – DokumentarfilmerInnen hätten sicher Gründe,
       „Höllenleben“ nicht in ihr Genre zu rechnen.
       
       Die Kamera folgt Nicki auf ihrer Spurensuche, oft sieht man die
       Filmemacherin direkt im Gespräch mit der jeweils aus ihr sprechenden
       Persönlichkeit. Und weil der Film so eindeutig auf Nickis Seite steht, gibt
       es keine falschen Töne: „Höllenleben“ ist filmisch betont sachlich und
       kunstlos gehalten, wirkt so nie spekulativ, sondern bringt uns diese Frau
       und ihr Leid schmerzlich nahe. Wilfried Hippen
       
       Weil das Thema so umstritten ist, gibt es eine bisher einmalige Nähe von
       Fernsehaustrahlung und Kinovorführung: Heute (23 Uhr) läuft „Höllenleben“
       in der ARD, morgen um 20.30 Uhr wird er noch einmal im Kino 46 in
       Anwesenheit von Nicki und der Filmemacherin gezeigt. Eine Diskussion ist
       geplant.
       
       12 Dec 2001
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wilfried Hippen
       
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