# taz.de -- Täter im Opfer zeigen
> Wie fruchtbar ist George Taboris Theater für die Gedenkdiskussion? Jetzt
> liegt eine Analyse seiner „Vorstellungen vom Holocaust“ vor
von SABINE LEUCHT
Bevor die letzten Überlebenden des Holocaust gestorben sind, läuft die
Erinnerungsarbeit auf Hochtouren: In der deutschen Hauptstadt – und nicht
nur da – werden umstrittene Mahnmale gebaut, Hessen erwägt die Einrichtung
eines Lehrstuhls zu Geschichte und Wirkung des Holocaust, und Norman
Finkelstein fragt nach der Moral des Erinnerungsgeschäfts. Andere Fragen
stellt sich der Beobachter von Straßenszenen, in denen Kampfhunde
Judensterne tragen: Droht der organisierte Massenmord trotz geballten
Gedenkwillens von seinem grausamen Wesen zu genesen? Kriegen wir das
Unvorstellbare vielleicht immer nur an jenem Zipfel zu packen, der uns
selbst betrifft? Und: Gibt es da nicht einen hageren Greis mit funkelnden
Kinderaugen, der das schon lange weiß?
George Tabori ist eine der wildesten Spielernaturen des internationalen
Theaters. Auch wenn es in letzter Zeit ruhiger um den gebürtigen Ungarn
geworden ist und er mit der Eröffnungsinszenierung von Claus Peymanns
Berliner Ensemble Negativschlagzeilen machte – der 86-Jährige hat etliche
Wunder auf die Bühne gebracht. Dabei springt er als Autor wie Regisseur
erbarmungslos noch mit den erbarmungswürdigsten Figuren um. Viele seiner
Witze müsste man antisemitisch finden, wäre ihr Urheber nicht selber Jude.
An einige davon erinnert Jan Strümpel in seinem Buch „Vorstellungen vom
Holocaust“. Die als Dissertation entstandene – und entsprechend etwas
überpenibel daherkommende – Veröffentlichung betont bereits im Titel die
Verwandtschaft der intellektuellen „Vorstellung“ mit der Theateraufführung.
Die untersuchten Stücke nennt er „Rollen-“, „Glücks-“, „Gedächtnis-“
„Verwirr-“ und „Identitätsspiele“, denen gemeinsam ist, dass sie das Grauen
des Holocaust selbst gar nicht fassen wollen, sondern im Davor, im Danach
und im Drumherum auf Entdeckungsreise gehen. Taboris „Kannibalen“ etwa sind
Lagerinsassen, die angesichts ihres lecker zubereiteten Kameraden eine
Entscheidung zu treffen haben. Im Stück spielen hier Söhne die Geschichte
ihrer Väter, der sie sich wie alle Nachgeborenen nur annähern können. Wobei
nicht etwa andächtige Stille herrscht, sondern die Experimentierfreude
derer, die sich für einen Maskenball rüsten: „Sagt mal, war sein Gesicht
rot oder blass?“
Mit Rollentausch oder Spiel im Spiel macht Tabori das Wie von Erinnerung
zum Thema. Konträr etwa zu Hochhuths dokumentarischem „Stellvertreter“
werden eventuelle Gewissheiten konsequent erschüttert. Ähnlich wie in der
Arbeit des israelischen Akko-Theaters gehört zur Erschütterungstaktik auch
die Aufdeckung des „Täterpotentials im Opfer“ wie das, was Tabori den
„Fluch, seinen Feind zu verstehen“, nennt. In der Farce „Mein Kampf“ wird
die Figur Hitler weder allzu ironisch noch mittels Dämonisierung auf
Distanz gehalten. Und in „Mutters Courage“ kommentiert der „Sohn“ die
Rettung von Taboris Mutter durch einen deutschen Offizier. „Korrigier mich,
wenn ich was Falsches sage“, ermuntert er die Mutter. Sie antwortet mit
einer rhetorischen Frage: „Wie können zwei Geschichten gleich sein?“ – und
verweist damit jedes Gedenken ins Reich des Individuellen und der
Phantasie.
Tabori ist bereits ein alter Mann. Doch sein „Projekt einer Herz und
Verstand aktivierenden Imaginationsschule“ können künftige Generationen
weitertreiben. Nicht mit der Frechheit des Meisters, wohl aber mit seinem
Vertrauen in das widerspruchsvolle, immer neu befeuernde Erzählen wider das
glatte, dauerhafte Monument.
Jan Strümpel: „Vorstellungen vom Holocaust: George Taboris
Erinnerungs-Spiele“. Wallstein Verlag 2000, 208 Seiten, 40 DM
5 Sep 2000
## AUTOREN
DIR SABINE LEUCHT
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