# taz.de -- Die totalitäre Avantgarde
> Vor fünfzig Jahren starb Filippo Tommaso Marinetti, Begründer des
> Futurismus und Kriegsverherrlicher. Er hat die technische Welt des 20.
> Jahrhunderts mit ihren großen Mythen versorgt ■ Von Albrecht Koschorke
> und Peter Michalzik
„Futuro-Kybernetisches Manifest“. Ausbau der Autobahnen und der
Hochgeschwindigkeitsstraßen, Vermehrung des Flugverkehrs, Entwöhnung der
Menschheit von der Gravitation. Wir stellen fest, daß unsere Forderungen
sämtlich erfüllt wurden. Die Geschwindigkeit hat die alten Fesseln
gesprengt. Bleiben wir jetzt nicht halbherzig stehen! Laßt vierspurigen
Autoverkehr die müden Fußgängerzonen leerspülen! Erklärt dem
Kopfsteinpflaster, dem Fachwerk, dem Erker den Krieg! Verwandelt die
Nationalparks in militärische Sperrgebiete zurück! Gebt den Wäldern den
Todesstoß, jenen dahinkränkelnden Wucherungen des Sentimentalen und des
zählebigen Romantizismus!
Wir verlangen die Schließung der Grenzen vor den schwarzen Strömen der vom
Neid zerfressenen Elendswanderer, und sei es unter Anwendung von
Waffengewalt! Schwächliches Mitleid! Wir sind eines Sinnes mit dem Aufstand
der Jugend, der Frische der Gewalt auf unseren Straßen und mit der
reinigenden Wirkung der Angst!
Im Bewußtsein unseres historischen Triumphes erklären wir Futuristen, daß
wir rückhaltlos die pharmakologische und gentechnische Erneuerung des
Menschen bejahen. Wir werden die Menschen durch ein einfaches Hirnimplantat
steuerbar machen. Wir werden unseren Körper abstreifen und unsere
Intelligenz vollends entstofflichen. In unerhörte geistige Regionen dringen
wir vor! Wir sind die Primitiven einer neuen Spiritualität!
Es wird ein Konzert der Stimmen ohne Münder, Lüste ohne Gliedmaßen, der
Schmerzen ohne Berührungen geben! Wir setzen die Multiplikation an die
Stelle der Identität! Die Schranken sind gefallen. Nun ist es an uns, unter
dem lastenden Himmel der Geschichte hervorzutreten, den Ekel unserer
Menschhaftigkeit wie eine leere Reptilienhaut hinter uns zu lassen, erfüllt
von einer tödlichen, kristallenen Wonne. Wir haben aufgehört, schwitzendes
Fleisch, kreischender Stahl, gärendes Gebräu biochemischer Formeln zu sein.
Wir sind ausdehnungslose und riesenhafte Zuckungen aus elektronischen
Blitzen geworden. Wir sind endlich die Bewohner des Siliziumsternes ...
## Utopie verwirklicht
So könnte sich ein futuristisches Manifest anhören, würde es heute
geschrieben. Eine Mischung aus Wichtigtuerei, Propaganda, Terror und Spaß.
Ohne Zweifel hätten die Futuristen Grund, sich als Sieger des ausgehenden
zwanzigsten Jahrhunderts zu fühlen. Erstens weil ihnen Opferrollen
grundsätzlich nicht liegen; das Hauptmotiv für ihren Fanatismus, für ihre
Flucht nach vorn, war der Wille, um gar keinen Preis ein Opfer der
Geschichte zu werden. Das unterscheidet Futuristen und Grüne. Zweitens aber
können sie ihre Visionen heute in die Tat umgesetzt finden.
Zwar ist der revolutionäre Totalitarismus, dem sie sich verschrieben haben,
Episode geblieben. Nach dem verlorenen Krieg wurde die vielgeschmähte
liberale Demokratie wieder in Amt und Würden gesetzt. Venedig steht noch,
eines der bevorzugten Opfer ihrer Tiraden. Weder Bibliotheken noch Museen,
Träger der alten, von den Futuristen überwunden geglaubten Kultur, sind in
die Luft gesprengt worden. Nicht einmal die Abschaffung des Fremdenverkehrs
ist den Italienern gelungen. Auch Frauen werden noch immer geliebt, obwohl
sich doch der Futurismus, ein Männerbund, zur militanten „Verachtung des
Weibes“ verschworen hatte. Er sucht sich seine Befriedigung auf anderem
Gelände: in der „gigantischen und erregten Vagina des Schlachtfeldes“.
Aber auf vielen anderen Gebieten wurden die Prophezeiungen der Futuristen
Realität oder von ihr überholt. Der „Kult der Geschwindigkeit“ hat sich
längst über das elitäre Bewußtsein einiger autofahrender und
flugzeugfliegender Künstler hinaus ausgebreitet und übersteigt ihre
kühnsten Entwürfe. Unsere Städte sind nicht fern von den visionären
Energie- und Verkehrszentren des Architekten Sant'Elia. Die Bilder haben
den dinamismo der futuristischen Maler wörtlich genommen und die Leinwand
verlassen, um im Kino, Fernsehen und Videoclips bis zur Unkenntlichkeit
beschleunigt zu werden. Die Zusammenführung von Reklame, politischer
Manipulation und Ästhetik, deren Pionier Marinetti war, ist zum
Medienalltag geworden.
## Mensch = Motor
Vor allem aber ist die „bevorstehende und unvermeidliche Identifizierung
des Menschen mit dem Motor“ vollzogen. Gegenüber der im Golfkrieg
praktizierten Verschaltung von Mensch, Gefährt und Waffe und den
spielerischen Äquivalenten der Unterhaltungsindustrie sind die
„Errungenschaften“ des Ersten Weltkriegs, die den Jubel der Futuristen
auslösten, antiquiert. Auf technischem Niveau haben erst die zivilen
Gesellschaften der Nachkriegszeit zu Ende geführt, wovon die mit dem
Faschismus paktierende italienische Avantgarde träumte.
Filippo Tommaso Marinetti war der Programmdirektor dieser sich sowohl
künstlerisch als auch militärisch verstehenden Avantgarde. Das ist ganz
wörtlich zu nehmen, denn er rief sie mit seinem Programm erst ins Leben.
1909 erscheint auf der Titelseite des bürgerlichen Figaro das erste
„Futuristische Manifest“. Es predigt den Haß auf die Vergangenheit, den
Bruch mit allen Traditionen, die Destruktion, den Krieg und eine
ästhetische Erneuerung, die auf alle Lebensbereiche ausstrahlen soll.
Neben zahllosen weiteren Proklamationen dieser Art entstehen in den
folgenden Jahren die ersten futuristischen Werke. Die Maler Boccioni,
Carrá, Russolo, Balla und Severini schließen sich Marinetti an. Sie
experimentieren mit der Auflösung der Bildgegenstände zugunsten von
Simultaneität und Dynamik. Marinetti selbst bleibt ein mittelmäßiger und
bei allem Radikalismus epigonaler Poet. 1910 erscheint sein Roman „Mafarka
le futuriste“, wo eine Serie von Vergewaltigungen, Frauenmorden und
militärischen Greueln in der geschlechtslosen Erschaffung einer
menschlichen Kampfmaschine gipfelt – Ahn der Supermänner und Terminatoren.
Später entwirft er das Programm der parole in libertá, von Satzbau und
Grammatik befreiter Substantivreihen. In Schlachtbeschreibungen aus dem
italienischen Libyenfeldzug, an dem er als Journalist teilnahm, probiert er
wortmalerische („ZANG TUMB TUMB TUUMB Tuuuum Tuuuum Tuuuum“) und graphische
Neuerungen aus. Auf den futuristischen Séancen werden diese Lärmtexte
verlesen und übertönen nur mühsam den Tumult, der oft genug in einen Hagel
von Kartoffeln, Makkaroni und Eiern, in Prügeleien und Polizeieinsätzen
ausufert.
1919 überfällt Marinetti mit einigen Gesinnungsgenossen die Redaktion der
sozialistischen Zeitschrift Avanti – ein Zeichen für seine ganz
handgreifliche politische Militanz. Im selben Jahr kandidiert er zusammen
mit Mussolini auf der Liste der Mailänder Faschisten. Unter den Jungen und
den Arbeitern, die mit den sozialrevolutionären Programmen sympathisieren,
sind in diesen Jahren Futurismus und Faschismus synonyme Begriffe.
## „Exzellenz“ Marinetti
Nach Mussolinis Machtergreifung 1922 klären sich die Fronten. Immer
deutlicher wird, daß Mussolinis totalitäres System nur begrenzte Verwendung
für den ungezielten Elan der Futuristen hat. Marinetti gestaltet die
Bewegung um und macht sie den neuen Verhältnissen in Italien konform. Nun
treten zur Verherrlichung des Krieges und der industriellen Moderne, zum
Antiliberalismus und Antikommunismus rassistische Töne. Obwohl sein Einfluß
schwindet, bleibt Marinetti dem Regime treu. Das revanchiert sich, ernennt
ihn zum Mitglied der italienischen Akademie und läßt ihn als „Botschafter
des Faschismus“ im In- und Ausland Progaganda betreiben.
Noch 1934 wird in Berlin und Hamburg eine Ausstellung futuristischer Maler
gezeigt – unter der Schirmherrschaft Goebbels' und Görings. Gottfried Benn
hält eine Rede auf die „Exzellenz“ Marinetti und feiert ihn als einen der
ideologischen Stammväter des Hitler-Regimes. Daß sich in Italien die
völkische Linie der nationalsozialistischen Kunstpolitik auch in der Zeit
der wachsenden Abhängigkeit Mussolinis von Hitler niemals vollständig
durchgesetzt hat, ist auch Marinetti zu verdanken. Während das „Dritte
Reich“ von einem agrarisch-kleinbürgerlichen Ressentiment gegen die Moderne
geprägt war, konnte sich Marinetti auf die Verwandtschaft des ästhetischen
Modernismus mit der faschistischen Bewegung berufen.
Marinetti hat seine Verherrlichung des Krieges durch Teilnahme an allen
Kriegen, die für ihn erreichbar waren, beglaubigt. 1935 kämpft er in
Abessinien, und noch als Sechsundsechzigjähriger ist er am Rußlandfeldzug
beteiligt. Das letzte Foto zeigt ihn mit dem befreundeten japanischen
Botschafter Hidaka, dem Vertreter der dritten Nation im Dreimächtepakt. Er
stirbt am 2. Dezember 1944 in Bellagio am Comer See.
## Unter der Schwelle
Die Figur Marinettis bringt die säuberliche Trennung in avantgardistische
Modernität und „Rückfall“ in totalitäre Ideologie durcheinander. Im
Rückblick wird immer deutlicher, wie sehr der Faschismus sich auch ideell
der Moderne bediente. Andererseits haben viele Impulse des Futurismus eine
unterirdische Nachgeschichte bis in unsere Zeit. Das führt über die Frage
nach der Nähe zum Faschismus hinaus. Offenbar bewegt sich ein Großteil der
gesellschaftlichen Antriebskräfte unterhalb der Schwelle erkennbarer
ideologischer Fronten. Der Futurismus hat die technische Welt des 20.
Jahrhunderts mit ihren großen Mythen versorgt. Er hat keine Verlustrechnung
aufgemacht, sondern die Täter und das Werk ihrer Vernichtung verherrlicht.
Das ist ungewohnt für eine Gesellschaft, die in ihren kulturellen
Verlautbarungen von ihrem eigenen schlechten Gewissen erdrückt wird,
während sie unverdrossen die Bedingungen wiederherstellt, unter denen sie
leidet. Der Futurismus hat gezeigt, welche Lüste die moderne Technokratie
mit auf den Weg gebracht haben und dazu beitragen, daß sie (immer noch)
funktioniert.
2 Dec 1994
## AUTOREN
DIR Koschorke / Michalzik
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