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       # taz.de -- Schneller, lauter, hitziger
       
       > Nach 26 Jahren fährt unser Autor wiederim gleichen Gebiet Ski, und (fast)
       > alles hatsich verändert. Wie geht Skifahren in Zeitendes Klimawandels?
       
       Aus Kitzbühel Henning Kober
       
       Der Himmel scheint an diesem Morgen so verführerisch leicht, so licht und
       farblos, auf der Erde löst er ein Gedränge aus, alle wollen ihm näher
       kommen, alle wollen so schnell wie möglich auf den Berg fahren.
       Dienstagmorgen, kurz vor halb zehn in Tirol, letzte Woche im Februar. Die
       Menschen jedoch sind behindert von ihren Ski, ihren Stiefeln, den Stöcken,
       ihrer Winterkleidung, mit der sie in den Eingang der Fleckalmbahn streben.
       Gewirr der Stimmen und der sich wiederholenden Geräusche, langsam schiebt
       sich die Menge in den braun gefliesten Gang, die Treppe nach oben. Anders
       als die meisten habe ich heute niemanden bei mir, auf den ich warten
       könnte, ich bin allein und so dauert es bis zum Einstieg gar nicht so
       lange. Die Türen klappen zu, zu sechst sitzen wir uns auf zwei Bänken
       gegenüber. Schon wird die Gondel an das Zugseil geklemmt, ratternd werden
       wir hinaus beschleunigt.
       
       „Baujahr 1984“ entdecke ich auf einer Plakette und erschrecke, also drei
       Jahre jünger als ich, die Bahn ist einwandfrei, aber doch aus einer anderen
       Zeit. Wir alle stehen in der Zeit, daran muss ich denken. Für einen Moment
       ist es still, dann wieder Rattern, die Kabine fährt über die Rollen an
       einem der Masten. Mir gegenüber wird getuschelt, es geht um eine geheime
       Piste. Der ältere Junge, 18 vielleicht, in einer blauen Skilehrerjacke,
       ruft einen Freund an, um sich zu erkundigen. Sein jüngerer Begleiter, 12
       vielleicht, meint: „Das macht ja überhaupt keinen Sinn, eine Piste, die
       niemand kennt, außer Skilehrer.“ „Eben drum“, flüstert der Ältere, „wenn
       wir sie finden, heizen wir.“
       
       Auf der Ehrenbachhöhe schwingt rot-weiß-rot die Flagge der Republik
       Österreich, auf 1.800 Metern öffnet sich ein Panoramablick: So viele Berge,
       so viele Gipfel, und alle sind weiß. Im Januar hatte es wochenlang
       geschneit, so viel wie schon seit Jahren nicht mehr. Nun seit Wochen Sonne.
       Offizielle Schneehöhe am Berg heute 150 Zentimeter, im Tal 90 Zentimeter.
       
       Zuletzt war ich vor 26 Jahren hier, im Januar 1993, zusammen mit meinem
       Vater. Ich erinnere mich gut an diesen Winter, als alle Wiesen grün waren
       und kein Lift in Betrieb, in der ganzen Region. Sogar das
       Hahnenkamm-Rennen, ausgetragen seit 1931, war abgesagt worden. Wir mussten
       damals zum zwanzig Kilometer entfernten Pass Thurn fahren, dort konnte man
       Ski fahren, dort ragen die Berge bis zu 2.000 Meter auf. Im Sommer danach
       wurden an der Streif die ersten Schneekanonen installiert. Heute wirbt die
       Bergbahn Kitzbühel damit, ihr Skigebiet bis zum 1. Mai offenzuhalten, fast
       alle Pisten werden künstlich beschneit. Überall stehen große Schneekanonen
       von Demaclenko, aus denen ab November die Grundlage des Wintergeschäfts
       produziert wird.
       
       Meine ersten Schwünge kratzen über die noch gefrorene und geriffelte,
       frisch präparierte Piste. Skifahren muss gelernt werden, aber wer das hat,
       für den ist es wie Fahrradfahren. Auf dem ersten Foto auf Skiern bin ich
       eineinhalb Jahre alt, sie waren noch aus Holz und ein Geschenk meines
       Onkels. Meine neuen Salomon-Ski bewegen mich jetzt in präzisen Zügen über
       die Piste 38, „Direttissima“, schwarz markiert, das heißt steil. „Gehen wir
       langsam an“, sagt ein alter Mann zu seiner Frau. Aber die beiden und ich
       sind die Einzigen, die es langsam angehen lassen. Um mich pfeifen talwärts
       rasende Wahnsinnige, sie brettern von hinten heran, auf laut klingenden,
       scharfen Kanten. Die aktuellen Ski machen weite Radien leicht, der elegante
       Kurzschwung ist seltener geworden. Und war es nicht einmal so, dass eine
       Mehrheit der Jüngeren Snowboard gefahren ist? Das hat sich verändert, fast
       selten sind die Snowboarder geworden, und älter.
       
       Wrrrum. Wrrrum. Nacheinander rasen die Hobbyrennpiloten an mir vorbei. Bei
       einem Zusammenstoß würden der Helm und der Oberkörperprotektor, den ich
       unter der Jacke trage, hoffentlich den entscheidenden Unterschied machen.
       
       Es ist merkwürdig, nach so vielen Jahren wieder hier Ski zu fahren, ich
       glaube mich noch gut zu erinnern, an meine Lieblingspiste, auch wie ich
       war, als Kind, mit elf, unterwegs mit meinem Vater, der mir einst mit
       bewundernswerter Geduld Skifahren beigebracht hatte. Vieles hier erinnert
       mich, aber vieles ist auch anders. Dort, wo früher Schlepplifte waren oder
       Doppelsesselbahnen, in denen man in zehn Minuten zum Gipfel schwebte, rasen
       nun kuppelbare Achtersesselbahnen bergauf. Das Seil der Hartkaserbahn
       bewegt sich fünf Meter pro Sekunde, das reduziert die Fahrzeit auf drei
       Minuten und fünfzig Sekunden. Berge im Wandel.
       
       Er ist mehr los auf den Pisten. In den vergangenen Jahren hat die Bergbahn
       Kitzbühel (Jahresumsatz 40 Millionen Euro) die meisten der über 50 Bahnen
       und Lifte erneuert und dabei die Kapazität radikal vergrößert, 95.000 Leute
       können nun pro Stunde auf den Berg gefahren werden. Schnelle Lifte und
       schnelle Ski erhöhen das Tempo am Berg. Dazu kommt, das Skigeschäft in
       Kitzbühel lebt sowieso nicht unwesentlich von einer Speed-Legende: Das
       Hahnenkamm-Rennen auf der Streif gilt als die schnellste, gefährlichste und
       spektakulärste Abfahrt im Alpinen Skiweltcup. Wenn sich die Rennathleten
       mit bis zu 140 Stundenkilometer den Berg hinunterstürzen, werden sie dabei
       von einer Million Zuschauer weltweit beobachtet, ein letzter moderner
       Circus Maximus. Zu normalen Zeiten aber ist die Streif als rote,
       mittelschwere Piste und als „Familien-Streif“ ausgezeichnet, dabei umgeht
       sie die drei anspruchsvollsten Passagen.
       
       Am Starthaus mit seinen rot-weißen, jetzt verschlossenen Läden ist es
       leise, ganz leise. Männer auf Ski und junge Männer auf Ski stehen andächtig
       herum und fotografieren sich. Der gerade Blick führt hinüber zum Wilden
       Kaiser, jener wilden Felsformation, die Wahrzeichen der ganzen Region ist.
       Der Blick nach unten zeigt den Starthang, steil geht es hinab. Der
       Rennläufer fährt ihn pfeilgerade hinunter, der Normalskifahrer macht lieber
       ein paar Schwünge. Sie bringen mich an eine Kante, an dessen Seite eine
       verlassene Tribüne steht, von hier aus beobachten Journalisten und
       Fotografen den Sprung der Rennläufer in die sogenannte Mausefalle.
       
       Ehrfürchtig schauen die Normalskifahrer hinunter, 85 Prozent beträgt das
       Gefälle. Ein paar trauen sich doch, hinunterzufahren, auch ich, mit fünf
       zittrigen Schwüngen und Schmetterlingen im Bauch über die eisharte Piste.
       Von unten gesehen, glaube ich, an einer Wand zu stehen, kühler
       Vollschatten. Oben an der Kante glitzert das Sonnenlicht.
       
       Wagemutiger nach Wagemutiger stürzt sich herunter, Freunde filmen, einer
       verliert den Halt, fällt und rutscht den ganzen Hang hinunter. Die
       Rennläufer springen hier 60 Meter weiter und fahren dann mit Tempo 120 in
       die Kompression. 3,3 Kilometer lang führt die Piste hinunter, der
       Streckenrekord liegt bei einer Minute und knapp 52 Sekunden, gehalten seit
       1997 von dem Österreicher Fritz Strobel. Der Mythos der Streif gründet
       sich, neben all dem Wagemut, auf der Selbstüberschätzung und Gefahr.
       Mehrere Dutzend Skirennläufer haben sich auf der Streif schwer verletzt.
       
       Der Normalskifahrer braucht für die Streif zehn, fünfzehn Minuten. Kommt
       man vor der Hausbergkante aus dem Wald, sieht Kitzbühel, das kein Bergdorf
       ist, sondern eine Stadt mit offiziell über 8.000 Einwohnern, ganz schön
       groß aus.
       
       Am nächsten Morgen habe ich Muskelkater. Es soll warm werden heute. Über
       Nacht sind wieder sämtliche Hänge planiert und in ganzer Breite von den
       Pisten-Bullys mit feinen Rillen überzogen worden. Das Tolle am Skifahren
       ist, dass es sich anfühlt, als wäre man in einem Computerspiel, nur in der
       echten Welt.
       
       Ich fahre hinab in das breite Saukasertal, und es ist wie eine Reise in
       eine andere Zeit. Still, von hinten rast niemand heran, es rattert kein
       Lift, schön geneigt und lang ist die geheime Piste, hinunter in ein ruhiges
       Tal. Schließlich führt sie in den Wald und im Talgrund weiter parallel zum
       Saukaserbach, in dem das Wasser rauscht, weiter in einer schmalen Schneise.
       Warnschilder: Vorsicht, entgegenkommendes Auto. Aber es geht gut. Am Ende
       steht wie eine Fata Morgana ein Taxibus. Nach Jochberg, zum nächsten Lift,
       für zwei Euro? Ja, gern.
       
       Ich hangle mich von Lift zu Lift in Richtung Pass Thurn, dem äußersten
       Punkt des Skigebiets. Viele der neuen Sesselbahnen haben Sitzheizungen, die
       nicht auf die Außentemperaturen abgestimmt sind, im Gegenteil, je wärmer,
       umso mehr Wärme scheinen sie abzugeben. Es ist so heiß, dass ich keine
       Handschuhe mehr tragen möchte und von einem T-Shirt träume. Auf einem
       Monitor an der Bergstation zeigt spöttisch rote Schrift: elf Grad Plus.
       Welt im Wandel.
       
       16 Mar 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Henning Kober
       
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