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       # taz.de -- nordđŸŸthema: Schatten der Vergangenheit
       
       > Die neuen Nord-Krimis sind mal historisch, mal politisch, oft beides. Und
       > reichen von rechter Gewalt gegen einen Kommissar bis zu
       > Psychopharmaka-Experimenten an Heimkindern in den 1970ern
       
   IMG Bild: Auch als Verbrechenskulisse geeignet: Sturmflut von 1962 in Hamburg
       
       Von Petra Schellen
       
       Ist so eine Sturmflut ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Im Resultat
       durchaus – nur dass kein strafender Gott dahinter steht und das Ganze
       inszeniert, um seinen SchĂ€fchen eins auszuwischen. Denn eine Sturmflut –
       die passiert einfach, passierte schon immer; Nordseeinsel- und
       Halligbewohner können ein Lied davon singen.
       
       Wenn sie es noch können, denn die„ManndrĂ€nken“ des 13. bis 17. Jahrhunderts
       haben Tausende Menschenleben gekostet und die KĂŒstenlinien Ost- und
       Nordfrieslands stark verĂ€ndert. Die Überlebenden haben neu eingedeicht und
       ihren Sturkopf gegen die Natur gesetzt.
       
       Auch nach der Nordsee-Sturmluft vom Februar 1962, die besonders in Hamburg
       wĂŒtete, haben die Menschen wieder aufgebaut. Aber das war erst, nachdem 315
       Menschen gestorben waren, weil man nicht alle von den DĂ€chern hatte retten
       können.
       
       Die meisten Todesopfer wohnten im tief gelegenen und besonders
       hochwassergefÀhrdeten Wilhelmsburg. Das war der Stadtteil, in dem viele
       Zuwanderer – damals FlĂŒchtlinge aus den einstigen deutschen „Ostgebieten“ –
       gĂŒnstig in Lauben oder Behelfsbaracken wohnten.
       
       In genau in diesem Mix aus Geologie und Milieu spielt Robert Bracks Krimi
       „Dammbruch“, der eine Verbrechenskette wĂ€hrend der 1962er-Sturmflut
       nachzeichnet. Die ProtagonistInnen unterschÀtzen den Sturm, bis sie aufs
       Dach flĂŒchten mĂŒssen, wie Betty, eine der HauptprotagonistInnen.
       
       SpĂ€testens ab hier ist der Roman des einstigen Chefs des Museums fĂŒr
       Hamburgische Geschichte ambivalent. Denn der Sturm ist sowohl Kulisse als
       auch Kumpan, sowohl Widersacher als auch BegĂŒnstigter der Verbrechen, in
       denen ein Ex-HĂ€ftling und besagte „Ost-FlĂŒchtlingsfrau“ Betty quasi
       wetteifern.
       
       Denn nicht nur, dass der Autor mit großer Hingabe das Crescendo des Sturms
       beschreibt. Auf einer archaischen Ebene beflĂŒgelt die Naturgewalt auch
       destruktive Triebe der Protagonisten. Denn erstens bietet das Chaos
       plötzlich Gelegenheit zum Mord an einem betagten Laubenbewohner, dessen
       bisschen Geld man sich unter den Nagel reißen kann. Andererseits kann man
       den Toten getrost der Flut zuschreiben, die das Verbrechen verdecken wird –
       jedenfalls so lange, bis aufgerÀumt ist. Dass der Autor ausgerechnet die
       FlĂŒchtlingsfrau als Vamp und kalte Kriminelle zeichnet, ist allerdings zu
       viel des Klischees. Dass nicht jedes Unrecht gesĂŒhnt wird, dagegen Teil der
       RealitÀt.
       
       In weit harmloserem Wetter spielt „Wogen des Bösen“, der neue Ostsee-Krimi
       des Flensburger Autors Marc Freund. Auch da wird zwar in Wind und Wetter
       gemordet und verscharrt, aber das ist nicht entscheidend fĂŒr die
       Geschichte, in der der Protagonist den vermeintlichen Lover seiner Frau
       ermordet und es dann kaum schafft, die Spuren zu beseitigen. UngĂŒnstig,
       dass der just zu Besuch kommende Vater der Freundin Ex-Kommissar ist und
       schnell misstrauisch wird. Ein bisschen blutrĂŒnstig das Ganze und etwas
       nervtötend die BeschrÀnktheit des Protagonisten Hannes. Marc Freunds vorige
       Krimis wie „Das Haus am Abgrund“, „Endstation SteilkĂŒste“ oder „MĂŒhlenmord“
       waren feiner geschliffen.
       
       Raffinierter kommt „Der Tote vom Elbhang“ daher, den die aus dem Ruhrgebiet
       stammende, inzwischen in Hamburg lebende Anke KĂŒpper schrieb. Mit viel
       Lokalkolorit geleitet sie einen durch die geologischen und moralischen
       AbgrĂŒnde des vornehmen Blankenese. Um Immobilienspekulationen und den
       ĂŒberteuerten Kauf eines an sich wertlosen GrundstĂŒcks geht es da, auf dem
       man spÀter mysteriöse Knochen findet.
       
       Aber die Geschichte, der die Kommissarin Svea Kopetzki nur mĂŒhsam auf die
       Spur kommt, speist sich auch noch aus einem ganz anderen Milieu, ist frisch
       und voller Wendungen, die tief in die Vergangenheit reichen. Und damit ist
       nicht nur die des Erdbodens gemeint.
       
       Mit Lokalkolorit spielt auch Daniel E. Palus Krimi „Tod im Alten Land“. Der
       italienischstĂ€mmige Kommissar Berlotti – NamensĂ€hnlichkeiten mit Donna
       Leons Kommissar Brunetti sind wohl erwĂŒnscht – ist von Frankfurt/M. zur
       Kripo Hamburg gewechselt, um seinen gebrechlichen Eltern im Alten Land
       beizustehen. Begeistert fÀhrt er durch die Landschaft seiner Kindheit,
       macht sich, da in Deutschland aufgewachsen, keine Gedanken um seine
       Herkunft. Jene, denen er begegnet, als er den Mord an einem
       rechtsgerichteten Journalisten aufklÀren muss, aber sehr wohl. Shitstorm,
       Drohungen und BrandsĂ€tze sind die Folge. Diese Ebene – die Parallele zur
       heute grassierenden Fremdenfeindlichkeit, wenn auch nicht (mehr) in erster
       Linie gegen italienische „Gastarbeiter“ – ist evident.
       
       Und selbstverstÀndlich hat die Geschichte auch eine lokalpolitische
       Dimension: die anstehende Hamburger BĂŒrgerschaftswahl, bei der auch Rechte
       kandidieren. Außerdem sind im Wahlkampf geheime Informationen
       durchgestochen worden. Eine packende Geschichte, die nicht nur als Krimi
       funktioniert, sondern auch die Selbstzweifel des Kommissars spiegelt, der
       sich immer wieder fragt, ob er seinen Eltern zumuten kann, unter der Gewalt
       derer zu leiden, gegen die er von Berufs wegen ermittelt. Sein betagter
       Vater hat dafĂŒr VerstĂ€ndnis. Der Sohn sieht es nicht ganz so locker. Eine
       hoch aktuelle Geschichte, an der nur wenig zu mÀkeln ist: erstens die recht
       dick aufgetragene Ähnlichkeit mit realen Personen – etwa, wenn der
       BĂŒrgermeister, Sonnyboy „van der Heide“ kaum verhohlen als Ole von Beust
       kenntlich ist – was man natĂŒrlich auch humoristisch lesen kann. Zweitens
       gelegentliche Langatmigkeiten, die den Fortgang lÀnger hemmen, als der
       Geduld des Lesers zutrÀglich ist.
       
       Das kann man vom „Alsterschwan“, Regine Seemanns neuem Hamburg-Krimi, nicht
       behaupten. Mit geschickten ZeitsprĂŒngen geht sie mitten hinein in eine
       Halloween-Feier, die irgendwann ins Entsetzen kippt, als ein Junge stirbt.
       Er ist Bote einer lange vergangenen Geschichte, an der die Ermittlerinnen
       Stella Brandes und Banu Kurtoğlu fast scheitern. Bis herauskommt, dass es
       um Psychopharmaka-Versuche an Heimkindern in den 1970er-Jahren geht, um
       SpÀtfolgen und transgenerationelle VerÀnderungen des Erbguts: Da gibt es
       viele Irrwege, wÀhrend derer sich zeigt, dass nicht nur Kripobeamte,
       sondern auch Mörder irren können. Ein Roman, spannend bis zum letzten
       Punkt. Und wenn man bedenkt, dass die Leiden einstiger Heimkinder immer
       noch nicht erschöpfend aufgeklÀrt sind, (sozial-)politisch hoch brisant.
       
       Robert Brack: „Dammbruch“, Ellert-&-Richter-Verlag, 240 S.,12 Euro
       
       Marc Freund: „Wogen des Bösen“, Boyens-Verlag, 265 S., 10,95 Euro
       
       Anke KrĂŒger: „Der Tote vom Elbhang“, Harper-Collins-Verlag, 320 S., 10 Euro
       
       Daniel E. Palu: „Tod im Alten Land“, Emons-Verlag, 320 S., 13 Euro
       
       Regine Seemann: „Alsterschwan“, Gmeiner-Verlag, 315 S., 13 Euro
       
       21 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
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