# taz.de -- Der nicht versöhnte Sohn
> Deutscher zu sein heißt noch einmal lernen, Deutscher zu werden: Die
> schwierige Beziehung zwischen Rainer Werner Fassbinder und der deutschen
> Geschichte – zum 60. Geburtstag des Regisseurs
VON THOMAS ELSAESSER
Schon im Juni 2002, zu seinem 20. Todestag, sollte der Reichenbachplatz in
München nach ihm benannt werden. Es gab Protest, auch seitens der jüdischen
Abgeordneten, und der Stadtrat lehnte den Antrag ab. Seit November 2004
heißt nun eine „kleine noch zu bebauende Fläche“ beim Hauptbahnhof
Rainer-Werner-Fassbinder-Platz. Gerade noch rechtzeitig zum 60. Geburtstag
des berühmten Sohns der Stadt hat man sich zur Ehrung durchgerungen. Tut
sich Deutschland immer noch schwer mit Fassbinder und seinem zwiespältigen
Weltruhm?
Der ist dem 1982 mit 37 Jahren verstorbenen Regisseur inzwischen sicher.
Seit den 90er-Jahren ehren ihn Retrospektiven in New York, London und nun
eine große Werkschau im Pariser Centre Pompidou. Tokio soll folgen: eine
gewiss spannende Perspektive, bedenkt man, wie oft Fassbinder mit Pier
Paolo Pasolini und Yukio Mishima verglichen worden ist. Alle drei waren sie
nicht versöhnte Söhne ehemals faschistischer Regime, die ihre
Homosexualität als politischen Protest, poetische Inspiration und
persönliche Selbstbestätigung lebten.
Lange Zeit hatte das Leben Fassbinders dessen Werk verschlungen. Skandale
lieferten denen, die ihn sowieso nicht mochten, genügend Gründe, sich mit
den Filmen erst gar nicht auseinander zu setzen. Daran hat sich einiges
geändert in den letzten Jahren, nicht zuletzt dank der Rainer Werner
Fassbinder Foundation, die von Juliane Lorenz geleitet wird. Fassbinders
Cutterin und langjährige Lebensgefährtin nahm nach dem Tod der Mutter die
Geschäfte in die Hand. Mag sein, dass trotz ihrer Energie Fassbinders Filme
im deutschen Fernsehen zu selten ausgestrahlt werden und in den Kinos fast
nicht präsent sind. Dieses Schicksal teilt der Regisseur mit allen
deutschen Autorenfilmern seiner Generation – und nicht nur mit ihnen.
Juliane Lorenz setzt auch auf Museen – und DVDs: digital restaurierte
Kopien, Bonusmaterial, dazu Publikationen und Forschungsprojekte.
Fassbinder lebt.
Jean Luc Godard sagte einmal: „Vielleicht stimmt es, dass alle seine Filme
schlecht sind, aber trotzdem ist Fassbinder Deutschlands größter
Filmemacher. Er war zur Stelle, als Deutschland Filme nötig hatte, um zu
sich selbst zu finden. Er ist nur noch mit Rossellini zu vergleichen, denn
selbst die Nouvelle vague hat es nicht geschafft, Frankreich so präsent zu
machen, wie es das Nachkriegsdeutschland in Fassbinder ist.“ Viele
Filmemacher haben sich seinetwegen überhaupt erst definieren können,
besonders im Widerspruch zu ihm. Richtige Erben hatte er nicht, wenigstens
nicht in Deutschland. Lars von Trier hat mit „Europa“ einen echten
Fassbinder-Film gedreht, und „Die Idioten“ sind von Triers „Dritte
Generation“: karnevaleske Terroristen der Normalität. In Frankreich teilen
sich heute François Ozon und Gaspar Noé seine filmische Nachlassenschaft:
der eine das komödiantische Vexierspiel der Gefühle, der andere die
dunklere Seite, mit den nicht unschuldigen Opfern, die genauso infam
handeln können wie alle anderen.
Die Netzwerke der Fassbinder’schen Produktivität gruppieren sich um den
Emotions-Apparat „Ersatz-Familie“ und den Kino-Apparat künstlicher Welten
aus Spiegeln und Blicken, aus Bildräumen, Filmzitaten und Ton-Topografien.
In diese Labyrinthe des Ichs und seiner Echos begeben sich die Personen;
aus ihnen entstehen die Liebesgeschichten zwischen Männern, zwischen
Frauen, zwischen Männern und Frauen. Besonders die Frauen durchkreuzen
dabei die Grenzen von Emanzipation und Unterdrückung in beide Richtungen.
Im Melodram und seinen hoffnungslosen, lächerlichen und tragischen
Liebesbeziehungen erfinden sich, verlieren sich und gehen aneinander
zugrunde so unmögliche Paare wie Ali und Emmi („Angst essen Seele auf“),
Franz und Hanni („Wildwechsel“), Petra und Karin („Die bitteren Tränen der
Petra von Kant“), Elvira/Erwin und Seitz („In einem Jahr von 13 Monden“),
oder Franz und Reinhold („Berlin Alexanderplatz“).
Meist hielt Fassbinders „Ein-Mann-Studio“ die Systeme Familie und Kino im
Gleichgewicht: Die Schauspielerinnen – von Hanna Schygulla, Ingrid Caven
und Margit Carstensen bis Barbara Sukowa, Elisabeth Trissenaar und Rosel
Zech – wurden von ihm zu „Stars“ gemacht. Im Gegensatz dazu waren die
Männer durch emotionale, finanzielle oder sexuelle Abhängigkeiten an
Fassbinder gebunden. Angeblich beutete er sie aus, entweder indem er sie
gegeneinander ausspielte oder mit einer kalkulierten Mischung aus Schikane
und Großmut bestach. Die impliziten Double-Binds hielten die
Produktionsmaschine zusammen, als ob gerade die widersprüchlichsten Gefühle
der beste Treibstoff und die tiefsten Ängste die beste Mechanik wären, den
Motor in Gang zu halten.
Fassbinders Ersatzfamilie war zugleich archaisch, atavistisch, prä- und
post-ödipal: Sie erschuf und zerstörte ständig Identität und Selbstwert und
wagte sich aus den üblichen Formen der Sozialisation heraus. In jeder Phase
seines kurzen Lebens gelang es ihm, den Verlust der Kindheit und den
Verzicht auf die Kleinfamilie zu seinem Vorteil zu nutzen, um andere Arten
von Gemeinschaften zu schaffen. Die Ersatzfamilie oder der Drehort als
Labor des „Spätkapitalismus“, aber auch dessen Gegenfigur, einer eher
anarcho-kommunistisch inspirierten „Bio-power“ der Gefühls- und
Beziehungsarbeit, mit all ihren Möglichkeiten und Abgründen („Warnung vor
einer heiligen Nutte“). Eine recht stimmige Linie verbindet dennoch das
eine mit dem anderen, von der bajuwarisch-ländlichen Großfamilie zur
Hippie-Kommune, von der verschwörerischen „Zelle“ zur Homo-Clique.
Fassbinder schien ein Meister, unbourgeoise neben allzu bourgeoisen
Lebensformen zu imitieren und deren jeweilige Spielarten des Verbands und
des Verbunds produktiv einzusetzen.
Die klaustrophobischen Innenräume schafften Außenwelt, obwohl Fassbinders
Kamera das Studio fast nie verließ. Küche und Schlafzimmer führten direkt
in den soziopolitischen Raum der Nachkriegsrepublik. Wolfram Schüttes Bild
vom Balzac der westdeutschen Gesellschaft traf einen wichtigen Kern. Er
hatte Recht, im Regisseur den scharfsinnigsten Chronisten der
Bundesrepublik zu entdecken, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte zu
fragen: „Wo stehe ich in der Geschichte meines Landes? Warum bin ich ein
Deutscher?“ Dass dabei die Nazizeit eine zentrale Rolle spielte, war
unumgänglich. Doch Fassbinder holte weiter aus: am liebsten zurück zu den
Gründerjahren und dem Ursprung des modernen Antisemitismus in Gustav
Freytags „Soll und Haben“.
Dazu sollte es nicht kommen, und die Chronik beginnt mit dem Niedergang des
Preußentums in Fontanes „Effi Briest“; es folgen die Wirren der Weimarer
Republik („Berlin Alexanderplatz“), das Aufkommen des Nationalsozialismus
(„Despair – Ein Reise ins Licht“), der Hitler-Krieg („Lili Marleen“), die
Trümmerjahre („Die Ehe der Maria Braun“), das „Wirtschaftswunder“ („Lola“),
die späten 50er- („Veronika Voss“) und frühen 60er-Jahre („Der Händler der
vier Jahreszeiten“), die Zeit der Gastarbeiter („Angst essen Seele auf“),
der „heiße Herbst“ 1977 („Deutschland im Herbst“) und das Ende der RAF
(„Die Dritte Generation“): keine Chroniken im Stil von Reitz’ „Heimat“,
sondern immer wieder die Krisenmomente und Kehrpunkte der Geschichte, meist
festgemacht an den bescheidenen Lebensentwürfen von Kleinbürgern,
Mitläufern, Antihelden und asozialen Randfiguren.
Wenn Balzacs Comédie Humaine am Anfang des bürgerlichen Zeitalters stand
und sich mit Geld, Macht und den damit aufkommenden Leidenschaften der
Habgier und des Geizes befasste, so registrieren Fassbinders Filme den
Umbruch, wenn nicht das Ende dieser Epoche: Nun sind es der Ausverkauf der
bürgerlichen Moral, der freie Markt der humanistischen Werte, die zum
Schwarzmarkt der Gefühle gewordene Leistungsgesellschaft. Jeder sucht
seinen Tauschwert hochzupokern oder seine Liebe meistbietend zu veräußern
und kommt doch immer nur betrogen davon. Händler, Hehler, Zuhälter, Dealer,
Mittelmänner sind die miesen Helden dieser Welt, und dennoch wäre es zu
leicht, in ihnen nur den Zerrspiegel eines enttäuschten Idealismus zu
sehen. Dafür waren Fassbinders Figuren zu widerborstig angelegt, zu
realistisch, denn gerade im allgemeinen Tauschgeschäft werden auch neue
Möglichkeiten sichtbar, andere Kurse notiert und frische Energien in Umlauf
gesetzt.
War in den ersten Vorstadtgangster-Filmen die „Ausbeutung“ polarisiert
zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, so entwarf der Regisseur in seinen
späteren Werken ein anderes Spannungsfeld. Zuerst waren es Frauen, die,
stumm oder schweigend, zu desto beredteren Anklägerinnen des Systems
wurden, das schlechte Gewissen der patriarchalischen Gesellschaft. Dann
waren die Opfer oft Homosexuelle, von anderen Schwulen brutal oder zynisch
ausgebeutet wie in „Faustrecht der Freiheit“ und „In einem Jahr mit 13
Monden“, oder Lesben als Opfer von Machtspielen und blinder Leidenschaft
wie in „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“. Schließlich stellten sich
die Herrschaftsverhältnisse zwischen der Mehrheit, den Minderheiten und der
Macht so dar, als seien Täter und Opfer durch mehr als Antagonismus
miteinander verbunden. Das führte zu den schon erwähnten Double-Binds, aus
denen die Personen nicht ausbrechen konnten und, noch verwunderlicher,
nicht ausbrechen wollten. Damit begleitete und kommentierte Fassbinder die
Identity Politics der 70er-Jahre. Frauen-Emanzipation, Schwulenbewegung,
„Terrorismus“: Er hat sie alle genau registriert und zugleich tragikomisch
überhöht, sehr zum Verdruss der Beteiligten. Die Linke sah in ihm den
Anarchisten und Kryptofaschisten, die jüdische Gemeinschaft vermutete
gröbsten Antisemitismus, er galt bei Schwulen als homophob und bei
Feministinnen als frauenfeindlich.
Lag ein Missverständnis vor und ging es Fassbinder vielleicht um etwas
anderes: um einen neuen Begriff des Opfers? Obwohl auch heute die Macht
beileibe nicht bei den Opfern liegt, scheint es dennoch so, als wolle jeder
Opfer sein, denn dort finden wir heute die stärksten Subjekt-Effekte. Auch
hier hat Fassbinder schon vorgearbeitet, und wie üblich scheute er sich
nicht, einem das Letzte abzuverlangen: Es genügt bei Fassbinder nämlich
nicht, Opfer zu sein oder sich als Opfer zu fühlen: man muss erst „Opfer
werden“. Das heißt nicht nur, sich des Unrechts und der Machtverhältnisse,
die das Leiden verursacht haben, bewusst zu sein. Ein Opfer trägt
Verantwortung. Just im Melodram tauscht ja das Opfer sein Leiden ein gegen
die Rechtschaffenheit, die moralische Überlegenheit. Diese muss durch die
Wiederholung immer wieder unter Beweis gestellt werden, weshalb die
Heldinnen des Melodrams fälschlicherweise oft als Masochisten bezeichnet
werden. Sie sind zwar Widerholungstäter, aber in hehrer Sache.
Bei Fassbinder geht es um mehr: Opfer sind eigentlich erst diejenigen, die
aus der symbolischen Ordnung ganz herausgefallen sind, die nichts mehr zu
verlieren haben, die nichts mehr zu tauschen oder zu verkaufen haben, noch
nicht einmal ihren Körper. Abject bodies heißt dies bei Julia Kristeva,
homo sacer bei Giorgio Agamben. Erst wenn sich Fassbinders Figuren des Ichs
oder der es stützenden Fetische entledigen wie in „In einem Jahr mit 13
Monden“, gelangen sie zur Freiheit. Was bloße Selbstaufgabe zu sein
scheint, begründet tatsächlich eine andere Wahrheit des Subjekts und
bereitet auf diese Weise eine neue Ethik vor. Diese Ethik des Opferwerdens
zielt darauf, das Selbst aller seiner physischen, psychischen und
symbolischen Tauschmittel zu entkleiden und so zu einer radikalen Offenheit
dem Leben gegenüber zu kommen.
„Wir wissen, was wir wissen, wir haben es teuer bezahlen müssen“, heißt es
in „Berlin Alexanderplatz“. Fassbinder hat die deutsche Gesichte nicht als
Chronist, sondern als Zeitreisender besucht, und wie jeder Zeitreisende
durfte er „zurück in die Zukunft“ nur unter der Bedingung, an der
Vergangenheit nichts zu verändern, außer sich selbst mit einzubringen und
somit Verantwortung zu tragen für das, was schon geschehen und nicht mehr
zu ändern ist. Also nicht, indem wir die Geschichte aufsuchen, um „ihre“
Opfer gegen „unsere“ Opfer aufzurechnen; nicht indem wir den Anderen oder
das Andere zum Gleichen machen, und auch nicht indem wir uns von der
Vergangenheit als etwas Gestrigem verabschieden. Fassbinders Filme scheinen
von ganz anderen Dingen zu reden, und doch kommen sie immer darauf zurück:
Man muss den Anderen lieben können bis zur Selbstaufgabe, und Selbstaufgabe
heißt nicht Aufopferung, sondern das Andere im Anderen am eigenen Körper
erfahren. Auf die Frage „Wo stehe ich in der Geschichte meines Landes,
warum bin ich Deutscher?“ antworten seine Filme: Deutscher zu sein heißt,
noch einmal lernen, Deutscher zu „werden“. Als Gertrude Stein sich
beklagte, sie sähe nicht so aus, wie Picasso sie porträtiert hatte,
antwortete der Maler: „Nein, aber Sie werden es noch.“ Dasselbe könnte für
Deutschland gelten: Es wird dem Bild, das Fassbinder von ihm hinterlassen
hat, immer ähnlicher.
Hoffentlich, denn der Platz Fassbinders ist für uns heute, an seinem 60.
Geburtstag, tatsächlich eine „noch zu bebauende Fläche“.
31 May 2005
## AUTOREN
DIR THOMAS ELSAESSER
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