URI: 
       # taz.de -- Kunst gegen die Einsamkeit
       
       > Marinella Senatores Kunstwerke entstehen kollektiv und sollen sich der
       > Vereinzelung widersetzen. Im Kunsthaus Stade sind Grafiken, Skulpturen,
       > Filme und Installationen der Italienerin zu sehen
       
   IMG Bild: Mehr als sieben Millionen Menschen haben schon an Senatores Paraden teilgenommen
       
       Von Jonas Kähler
       
       Als Erstes fällt der Blick auf bunte Lichtinstallationen. „We Rise by
       Lifting Others“ steht auf einer der „Luminarie“ im Kunsthaus Stade. Bis
       September zeigt das Kunsthaus unter dem Titel „Together We Stand“
       gesammelte Werke der italienischen Künstlerin Marinella Senatore.
       Grafische, skulpturale, filmische und installative Arbeiten verweisen auf
       Orte, an denen sich Menschen versammeln, um für ein besseres Leben zu
       kämpfen, aber auch, um ihre Verbundenheit zu feiern. In der Tradition der
       griechischen Agora oder des römischen Forums schafft Senatores Kunst
       Öffentlichkeit und Kollektivität, sie bietet einen Ort für Austausch und
       Kreativität. Die Luminarie stehen für geteilte Freude und gemeinsame
       Erfahrungen. In Süditalien haben sie eine lange Tradition. Wenn bei
       Jahrmärkten oder religiösen Festen die Luminarie angehen, beginnt die Feier
       und jede*r ist eingeladen.
       
       Wenn Senatore über ihre Arbeit spricht, zählt sie nicht ihre Kunstwerke
       auf, sondern erzählt von den Menschen, die daran beteiligt waren. Ihre
       Arbeiten sind Gemeinschaftsprojekte, die politischen Protest mit
       künstlerischen Ausdrucksformen verbinden. Dabei geht es immer auch um die
       Selbstermächtigung der Beteiligten in kollaborativen Prozessen. Sie selbst
       hält sich im Hintergrund und versteht sich als Moderatorin.
       
       „Es gibt einen Mangel an Zugehörigkeit, die Isolation ist herzzerreißend,
       die fehlende Verbindung ein Elend“, sagt sie. Ihre Kunst widersetzt sich
       der Vereinzelung: „Wenn man zusammenkommt, zusammensteht, kann man sich
       weniger alleine fühlen.“
       
       Marinella Senatores Kunstwerke entstehen jenseits von Verwertungslogiken,
       durch Menschen, die sonst oft übersehen werden. „In unseren Projekten
       nutzen wir keine Begriffe wie Scheitern, Erfolg oder Misserfolg, produktiv
       oder unproduktiv“, sagt sie. Die Arbeiten feiern das Verbindende. Dabei
       sind sie immer politisch und vermitteln ein Gefühl kollektiver
       Selbstwirksamkeit, also die innere Überzeugung, schwierige oder
       herausfordernde Situationen gut meistern zu können.
       
       So hängen von der Decke der zweiten Etage des Kunsthauses diverse Banner,
       an denen vor allem Geflüchtete und Opfer häuslicher Gewalt gemeinsam mit
       lokalen Näher*innen in Palermo gearbeitet haben. „Wir versuchen auch
       eine Ökonomie zu generieren“, sagt Senatore. Durch den Austausch von
       handwerklichem Wissen konnten viele der Beteiligten einen Weg finden, ihren
       Lebensunterhalt durch die Arbeit mit Textilien zu verdienen.
       
       ## Neue Formen der Gemeinschaft
       
       Die Banner tragen dabei den Geist historischer sozialer Bewegungen in sich,
       ähneln Protestbannern der Arbeiter*innenbewegungen, zu der Senatore auch
       persönlich eine enge Beziehung hat. Zugleich verweisen sie auf aktuelle
       politische Kämpfe oder zeigen ermutigende Slogans. „We Are Here, Because
       Others Were Here Before Us“ steht da zum Beispiel, oder „911 is a Joke“,
       eine Anspielung auf die amerikanische Notrufnummer und die grassierende
       Polizeigewalt in den USA. „Die Ideen für die Sprüche kommen immer von den
       Beteiligten“, sagt Senatore.
       
       2012 initiierte die Künstlerin die „School of Narrative Dance“. Dabei
       kommen Hunderte bis Tausende von Menschen zusammen, um in Workshops und
       Proben eine öffentliche Straßenparade zu gestalten. Mehr als sieben
       Millionen Menschen in 23 Ländern haben bereits an den Paraden teilgenommen,
       die Tanz, Musik und Aktivismus verbinden.
       
       Am Anfang dieses partizipativen Prozesses steht immer ein offener Aufruf in
       allen in der Stadt gesprochenen Sprachen. Senatore sucht Menschen jeden
       Alters und jeder Herkunft, mit unterschiedlichen politischen Positionen und
       ökonomischen Hintergründen. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich, jede*r
       kann mitmachen.
       
       „Die Gruppen sind divers und Unterschiede sind nicht relevant“, sagt
       Senatore. Es gehe darum, gemeinsam etwas zu schaffen, fernab jeglicher
       Konkurrenz. „Es ist egal, ob du aus dem Gefängnis kommst oder reich bist.
       Wir schaffen einen sicheren Raum, in dem sich Menschen entfalten können.
       Das Zusammenkommen und Zusammenstehen entwickelt eine transformative
       Kraft“, sagt sie.
       
       Die „School of Narrative Dance“ stellt den menschlichen Körper in den
       öffentlichen Raum. Er wird zum Mittelpunkt der Kunst und des
       gemeinschaftlichen Geschehens. Der Körper wird sichtbar in seiner
       Verbundenheit und Verflochtenheit mit anderen, aber auch in seiner
       Einzigartigkeit und Verletzlichkeit.
       
       Die Paraden erinnern an traditionelle Umzüge, schaffen aber neue
       Erzählungen, frei von überholten Doktrinen. In München führte die Parade
       2023 durch Straßen, durch die einst die Nazis marschierten. Die Vielfalt
       der Teilnehmenden gibt der Tradition eine neue Bedeutung, die Straße wird
       wieder angeeignet.
       
       In Stade wurde für die Dauer der Ausstellung ein umfangreiches
       Rahmenprogramm entwickelt. Veranstaltungen wie „Together We Paint“,
       „Together We Dance“ oder „Together We Play“ laden im Sinne von Senatores
       Arbeit zur Begegnung im öffentlichen Raum ein. „Wir wollen Kontakt
       aufnehmen mit Menschen, die sonst nicht in die Museen gehen“, sagt
       Kuratorin Luisa Fink. Das Community-Programm sei nur die Spitze des
       Eisberges, es soll dazu beitragen, ins Gespräch zu kommen und neue Formen
       der Gemeinschaft zu erkunden.
       
       Marinella Senatore: Together We Stand: bis 8. 9., Stade, Kunsthaus,
       www.museen-stade.de; After-Work-Führung „One Heartbeat – Wenn Menschen
       zusammenkommen“: Mi, 17. 7., 17.30 Uhr; Gespräch mit Marinella Senatore:
       Fr, 19. 7., 19.30 Uhr
       
       11 Jul 2024
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jonas Kähler
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA