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       # taz.de -- Das Klimaabkommen von Paris: Vertrauen ist Verhandlungssache
       
       > Im Dezember wäre das Klimaabkommen von Paris fast gescheitert und wurde
       > von einer Politik des Vertrauens gerettet. Nun wird der Deal besiegelt.
       
   IMG Bild: Die Architekten des Deals: Laurence Tubiana, Christiana Figueres, Laurent Tubiana
       
       Am Samstag, dem 12. Dezember 2015, gegen Mittag, weiß Laurent Fabius, dass
       er gerade Geschichte schreibt. Der französische Außenminister, ein kleiner
       Mann mit Halbglatze und breitem Lächeln, hat bei der Klimakonferenz ein
       eigenes Büro. Es liegt im „petit Quai d’Orsay“, einem mobilen Bürotrakt,
       der als „kleines Außenministerium“ extra für die Konferenz erbaut wurde.
       Teppichböden liegen hier, Bilder hängen an den Wänden, draußen:
       Buchsbäumchen und Springbrunnen.
       
       Gerade hat Fabius als Präsident der UN-Klimakonferenz den entscheidenden
       Vertragsentwurf für ein neues Abkommen vorgelegt. „Unser Text ist die
       bestmögliche Balance“, hat er den übermüdeten Delegierten aus 195 Staaten
       zugerufen, die sich im Plenarsaal über die 31 eng beschriebenen Seiten
       beugen. „Heute ist für uns alle der Moment der Wahrheit.“
       
       Das gilt auch für ihn und sein Team, das seit Monaten auf diesen Moment
       hingearbeitet hat. Jetzt hoffen sie, dass ihr Text für alle Staaten so weit
       akzeptabel ist, dass sie nicht rebellieren.
       
       Fabius verbreitet Zuversicht. Er hat den Delegierten drei Stunden Zeit
       gegeben bis zur Abstimmung. Dann hat er sie zum Mittagessen geschickt.
       Einen seiner wichtigsten Helfer, den deutschen Staatssekretär Jochen
       Flasbarth, hat er schon nach Berlin verabschiedet. Nach zwei Wochen
       Dauerstress will sich Flasbarth am Abend beim Konzert der Band Erdmöbel
       erholen.
       
       ## Die US-Delegation hat ein Problem
       
       Da meldet sich um kurz vor 13 Uhr US-Außenminister John Kerry, der die
       amerikanische Delegation leitet. Die Amerikaner haben „ein ernstes Problem
       mit dem Text“.
       
       Paris ist nicht irgendeine Konferenz. Hier soll 21 Jahre nach der
       Verabschiedung der Klimarahmenkonvention endlich ein weltweiter Vertrag
       geschlossen werden, der ab 2020 alle Länder der Welt zum Klimaschutz
       verpflichtet: weg von Kohle und Öl, Rettung der Wälder, mehr Geld für die
       Armen, mehr Gerechtigkeit. Bisher ist das noch nie gelungen.
       
       2009 ist der erste Versuch dazu in Kopenhagen gescheitert; am Unwillen, an
       der schlechten Vorbereitung der Dänen. Und am Misstrauen.
       
       Klimaverhandlungen, COPs im UN-Jargon, sind seltsame Veranstaltungen.
       Irgendwo zwischen Abrüstungsverhandlungen und absurdem Theater. Sie sind
       der Versuch, ohne eine Weltregierung die Welt zu regieren. 195 Länder
       sollen einen Konsens finden, die sich sonst nicht über den Weg trauen.
       Immer schwingen bei den Debatten globale Machtansprüche und das Erbe des
       Kolonialismus mit, der Frust von Jahren des Stillstands und die Angst vor
       wirtschaftlichem Abstieg. Nichts ist so nötig wie Glaubwürdigkeit, denn
       niemand kann zu irgendwas gezwungen werden.
       
       Wenn es also in Paris Fortschritt geben soll, müssen Diplomaten, die ihr
       Gegenüber und dessen Argumente seit Jahrzehnten kennen, neues Vertrauen
       fassen. Aber wie genau geht das? Der Druck ist riesig: Alle kennen die
       Fakten der Wissenschaftler. Alle wissen, dass sie sich gemeinsam bewegen
       müssen. Aber ohne das Zutrauen, dass der andere gleichzeitig springt, gibt
       kein Diplomat einen Millimeter Boden auf.
       
       Für diese Seelenmassage ist Fabius zuständig, der als Präsident der
       Konferenz eigentlich machtlos ist. Wenn er in die Geschichtsbücher eingehen
       will, ist er zum Erfolg verdammt. Er weiß: Dafür muss er zwei Wochen lang
       loben, zuhören, trösten, schmeicheln – und im richtigen Moment zupacken.
       
       ## Klimadiplomaten haben etwas Masochistisches
       
       Die Franzosen haben für den Erfolg von Paris geschätzte 30 Millionen Euro
       investiert. Die Organisation ist perfekt. Trotz verschärfter Auflagen drei
       Wochen nach den Terrorangriffen in Paris gibt es an den
       Sicherheitsschleusen kaum Schlangen; überall stehen freundliche Helferinnen
       und Helfer, Hybridbusse und Vorortzüge bringen die 40.000 Teilnehmer ans
       Ziel. In einem Glaskasten zaubern Bäcker des Gourmet-Boulangers „Paul“
       täglich 1.000 duftende Baguettes vor den Augen der Delegierten. Monatelang
       haben Laurent Fabius und sein Präsident François Hollande als Gastgeber
       eine Koalition der Willigen aus Politik, Wirtschaft, Umweltgruppen und
       Kirchen geschmiedet. Noch nie war ein Klimagipfel besser vorbereitet.
       
       Und trotzdem wäre Paris beinahe zu einem zweiten Kopenhagen geworden.
       Unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit stand die Konferenz an diesem
       Nachmittag kurz vor dem Scheitern. Gerettet wurde sie durch gute
       Vorbereitung und kluges Verhandeln, vor allem aber: durch gegenseitiges
       Vertrauen.
       
       Sonst ist „Trust among the parties“ auf Klimakonferenzen eher selten. Da
       versteckt sich hinter formeller Höflichkeit oft Frust über Verletzungen der
       Vergangenheit. Da werden schwache Länder eiskalt ausgebootet, da bestimmt
       der größte Bremser das Tempo, da haben am Schluss alle schlechte Laune.
       
       Klimadiplomaten haben etwas Masochistisches. In Paris sollen sie sich
       wohlfühlen.
       
       ## Die Weltrettung gibt es nur im Konjuktiv
       
       Fabius ist seit dem Alarm der Amerikaner angespannt. Er berät sich mit
       einer kleinen Frau mit weißen Haaren und einem gewinnenden Lächeln:
       Klimabotschafterin Laurence Tubiana, 63, vormals Chefin des Pariser
       Thinktanks IDDRI, eine Ökonomin und Insiderin der Klimapolitik. Sie hat die
       Konferenz minutiös vorbereitet. Ihr Stab von Dutzenden Experten hat alle
       Klimakonferenzen im Detail studiert, in Planspielen die taktischen Manöver
       der verschiedenen Lobbys und Staatengruppen vorausgedacht und Verhandler
       der wichtigsten Staaten schon lange vor der Konferenz zu vertraulichen
       Treffen zusammengebracht. Überall auf der Welt haben Fabius und Tubiana an
       zwei Dingen gearbeitet: Transparenz und Vertrauen. „Es wird keine
       Hinterzimmerdeals geben“, betonen sie bei jeder Gelegenheit.
       
       Genau danach sieht es aber an diesem Samstagnachmittag plötzlich aus. In
       dem Textentwurf steht unter Artikel 4.4.: Die Industrieländer „werden
       weiterhin die Führung bei der Anwendung von Reduktionszielen übernehmen“.
       Im englischen Text: „shall take the lead“. Die US-Delegation läuft Sturm.
       Der Text sei nicht abgestimmt. Bisher stand in allen Papieren an dieser
       Stelle: „should take the lead“ – „sollten“ statt „werden“. Mit dieser
       Festlegung kann sich Präsident Barack Obama im von Republikanern
       dominierten US-Kongress nicht blicken lassen. Die Delegation um Kerry macht
       klar: Die Rettung der Welt gibt es nur im Konjunktiv.
       
       Außerhalb des engsten Verhandlungskreises bleibt alles ruhig: Viele
       Delegationen, Journalisten und Umweltgruppen beugen sich zunehmend
       begeistert über den Text des Abkommens, der den Klimaschutz deutlich
       schärfer formuliert als die Entwürfe davor. Fabius und Tubiana telefonieren
       jetzt hektisch. Wie kommt das „shall“ in den Text? Und wie kommt es da
       wieder raus? Der Delegierte eines Entwicklungslandes sagt zu einem
       US-Verhandler: „Das ‚shall‘ ist der Grund, warum wir mit dem Text
       einverstanden sind“ – „Das ist völlig verrückt“, sagt der Amerikaner. „Wir
       haben dem niemals zugestimmt.“
       
       ## Der Vertrag ist ein Meisterwerk der Klima-Diplomatie
       
       Dieser Entwurf ist ein fein austarierter Kompromiss. Ein Meisterwerk,
       dessen nüchterne Juristenprosa ein Diplomat einen „wunderschönen Text“
       nennt. Er legt fest, den Klimawandel unter 2 Grad zu begrenzen, ja sogar
       1,5 Grad anzustreben. Alle Länder verpflichten sich zum Handeln, aber die
       Reichen müssen anfangen. Jede wichtige Gruppe bekommt genau so viel, wie
       sie für einen Kompromiss braucht, die Schmerzgrenzen sind präzise
       abgezirkelt. Wer in diesem komplexen Gebäude einen Pfeiler antastet, der
       riskiert, dass auch andere noch Änderungswünsche haben – und dass alles
       zusammenbricht.
       
       Genau das fordern jetzt die Amerikaner. Bei der „shall/should“-Frage sind
       sie kompromisslos. Nur, wie gibt man ihrem berechtigten Drängen nach, ohne
       den Text auch für alle anderen Forderungen zu öffnen? Solche Verhandlungen
       sind ein Balanceakt: Handfeste wirtschaftliche Interessen mischen sich mit
       „weichen Faktoren“ wie Gruppendynamik, Sympathie, Glaubwürdigkeit. Die
       Franzosen haben das mit eingeplant: Alles muss stimmen, vom Transport bis
       zum Essen. Fabius und Tubiana betonen immer wieder, ihre Türen stünden
       allen offen. Mit eigenen Vorschlägen haben sie sich zurückgehalten.
       
       „Akzeptanz und Vertrauen in die Autorität des COP-Präsidenten sorgen für
       guten Willen unter den Delegationen und garantieren dem Präsidenten
       Spielraum für wichtige Entscheidungen“, hat der deutsche
       Politikwissenschaftler Kai Monheim etwa zehn Monate vor der Konferenz in
       einer Studie geschrieben. „Sie reduzieren auch das Potenzial für
       Blockaden“. Diese Analyse haben Fabius und seine Leute damals sehr
       aufmerksam gelesen. Monheim reiste zu den Regierungen nach Paris, London,
       Berlin und zum UN-Klimasekretariat in Bonn.
       
       ## Viel fliegen, kompetent sein, Humor zeigen
       
       Seine Ratschläge für eine erfolgreiche Konferenz: die Chance auf
       persönlichen Kontakt zwischen den Delegierten und Fabius, viele
       Flugkilometer, um den Ländern ihre Bedeutung zu zeigen, Kompetenz bei dem
       Thema – und nicht, wie der dänische Ministerpräsident in Kopenhagen vor dem
       Plenum sagen: „Ich verstehe eure Regeln nicht!“ Außerdem absolute
       Neutralität des Vermittlers, was Fabius durch Vorschläge beweist, die
       Europäern und Amerikanern wehtun. Und schließlich: Humor.
       
       Um das Problem der Amerikaner zu lösen, beraten sich Fabius und Tubiana mit
       der Chefin des UN-Sekretariats UNFCCC, Christiana Figueres. Auch die
       energische Diplomatin aus Costa Rica will in Paris ihr Meisterstück
       abliefern. Seit dem Desaster von Kopenhagen leitet sie die UN-Behörde, die
       die Klimadiplomatie organisiert.
       
       Das Thema hat in der UNO hohe Priorität; UN-Generalsekretär Ban Ki Moon
       fehlt bei keiner Klimaverhandlung. Figueres ist der Motor im Hintergrund:
       Sie treibt ihre Leute dazu an, dass die Organisation reibungslos läuft,
       Dokumente rechtzeitig übersetzt werden und auch Delegierte aus Tuvalu oder
       Swasiland ihren Sitzplatz bekommen. Die Tochter des ehemaligen Präsidenten
       von Costa Rica mit den kurzen braunen Haaren und dem wachen Blick weiß: Die
       „shall/should“-Frage kann die Konferenz sprengen.
       
       Ein Jahr zuvor bei der Klimakonferenz in Lima hat ein zu früh
       veröffentlichtes Papier die Verhandlungen in der entscheidenden Phase einen
       ganzen Tag lang blockiert. Und in Kopenhagen 2009 war es ein „Geheimpapier“
       der Dänen, das die Konferenz platzen ließ. Sollte auch Paris an einem
       solchen Fehler scheitern? Selten wird klar, ob das wirklich Fehler sind
       oder ob eine Strategie dahintersteckt.
       
       ## Ist es Sabotage? Oder nur Müdigkeit?
       
       Die hektischen Ermittlungen zeigen: Das umstrittene „shall“ ist in das
       Dokument gelangt, obwohl es in keinem der vorherigen Entwürfe stand.
       Geschrieben haben den Text zwei Franzosen und ein UN-Angestellter. War es
       Sabotage, um den Vertrag im Plenum scheitern zu lassen? „Vielleicht ist der
       Text von außen gehackt und verändert worden“, vermutet eine Insiderin.
       Immerhin hatten Aktivisten der Gruppe „Anonymus“ die Website der UNFCCC
       während der Konferenz angegriffen und teilweise lahmgelegt. Dass solche
       Theorien diskutiert werden, zeigt, wie wacklig das Vertrauen sein kann –
       und wie wichtig es ist. Offiziell klingt die Antwort wenig dramatisch: Die
       Experten seien übernächtigt gewesen, der Begriff sei durchgerutscht.
       
       Einerseits ist diese Erklärung einleuchtend. Andererseits: Die Franzosen
       haben bis zu diesem Zeitpunkt die Konferenz „ohne jeden Fehler“ geleitet,
       wie alle Beobachter sagen. Unterläuft diesen Profis wirklich so ein
       Schnitzer? Vor allem Tubiana ist genauestens informiert. Bei ihr laufen
       rund um die Uhr Informationen zusammen, auch über die Stimmungen auf den
       Fluren des Konferenzzentrums. Per geschützten SMS und WhatsApp-Nachrichten
       werden Details geklärt und Probleme gelöst, manchmal ganz banale: „Wir
       brauchen hier Unterstützung. Meine Leute sind so müde, dass sie nicht mehr
       klar denken können.“
       
       Und immer gilt für das ganze Team: Stimmung hochhalten, lächeln, Konflikte
       im Ansatz erkennen. Fabius nennt die Delegierten konsequent: „Mes chers
       amis!“ Tubiana leitet unermüdlich Sitzungen, bearbeitet Delegierte,
       informiert Journalisten. Niemand merkt ihr an, dass sie erst eine Woche vor
       Beginn der Konferenz am Blinddarm operiert wurde. Im Sommer hat sie sich
       nach einem schweren Reitunfall auf Krücken zu den Gesprächen gequält. Seit
       2014 waren Fabius, Tubiana und Figueres für die Vorbereitungen der
       Konferenz unterwegs. In Paris zahlt sich das aus.
       
       ## Die Drama-Queen aus Venezuela
       
       Aber plötzlich melden am Samstagnachmittag noch andere Länder Bedenken an.
       Die Türkei hat eine unmögliche Forderung: Weiter als Industrieland gelten,
       aber Zugang zu den Geldtöpfen für Entwicklungsländer bekommen. Dem
       sozialistischen Nicaragua ist der Verweis auf marktwirtschaftliche Regeln
       nicht geheuer, es ist ohnehin eines der wenigen Länder, die sich der Logik
       der Konferenzen verweigern und keinen Klimaplan aufstellen. Und in der
       „afrikanischen Gruppe“ mit über 50 Staaten fliegen hinter verschlossenen
       Türen die Fetzen: Die wirtschaftlich mächtigen Länder Nigeria, Ägypten und
       Südafrika wollen, falls Geld zugesagt wird, als genauso bedürftig
       eingestuft werden wie die bettelarmen Entwicklungsländer. Fabius und
       Tubiana brauchen jetzt eine schnelle Lösung, sonst droht ein zweites
       Kopenhagen.
       
       Bisher ist die Strategie der französischen Regie aufgegangen: Transparenz,
       Zuhören und Hoffnung geben. Als die Staatschefs am ersten Tag der Konferenz
       erschienen, signalisierten sie Kompromissbereitschaft. Angela Merkel und
       François Hollande brachten die lange vergessene Obergrenze von 1,5 Grad
       wieder ins Spiel. Das Ziel ist praktisch kaum zu erreichen, aber ein Signal
       an die Inselstaaten: „Wir haben euch noch nicht aufgegeben.“ Auch Barack
       Obama widmete den Inselstaaten einen Teil seiner knappen Zeit. Und die
       reichen Nationen und Konzerne versprachen in der ersten Woche viel Geld für
       arme Länder, die schon bald gute Absatzmärkte sein könnten: Für besseren
       Schutz der Wälder, für Solarenergie in den Tropen, für die Entwicklung in
       Afrika. „Als im ersten Textentwurf der Franzosen die 1,5 Grad auftauchten,
       dachten wir: Sie nehmen uns wirklich ernst“, erinnert sich eine
       afrikanische Verhandlerin.
       
       Geschickt hat Fabius alle Fraktionen eingebunden. Er besetzte den Vorsitz
       der Arbeitsgruppen zu kniffligen Fragen teilweise mit den größten
       Kritikern: Über die zentrale Frage, welche Länder welche Pflichten
       übernehmen, ließ er ausgerechnet die Delegierte aus dem Bremserstaat
       Singapur verhandeln. Und für die Präambel engagierte er die venezolanische
       UN-Botschafterin, die als „Drama-Queen“ gefürchtete Claudia Salerno. Wer so
       beteiligt wird, kann hinterher nicht mit dem Argument kommen: „Wir wurden
       übergangen!“
       
       Außerdem stehen in Fabius’ Texten Vorschläge, die der EU und den USA
       überhaupt nicht schmecken, zum Beispiel zum heiß umkämpften Thema Finanzen.
       So hat er Punkte bei den Entwicklungsländern gemacht.
       
       ## Deals aus den Augen der anderen sehen
       
       Langsam ist unter den Delegierten das gegenseitige Misstrauen gewichen. Ein
       EU-Verhandler erinnert sich an die etwa zehn vertraulichen Treffen aller
       wichtigen Delegationsleiter im Jahr 2015, bei denen jeder seine roten
       Linien formulieren konnte: „Plötzlich befand man sich im Kopf des anderen
       und sah die Fragen aus dessen Sicht.“ Selbst hartgesottenen Diplomaten sei
       dann manchmal ein Licht aufgegangen: „Ah, so klingt diese Formulierung
       also, wenn ich ein Saudi bin.“
       
       Zur Vertrauensbildung gehört auch geteilte Übermüdung. Donnerstag der
       zweiten Woche: Fabius hat das „Comité de Paris“ einberufen. In einem
       abgeschirmten schmucklosen Raum von der Größe einer Turnhalle saßen wieder
       einmal die Vertreter aller wichtigen Ländergruppen um ein Karree von
       Tischen. Pro Staat waren nur drei Delegierte erlaubt, es wurde „sondiert“.
       Das ewige Palaver zog sich die ganze Nacht hin. Eine Wortmeldung folgte der
       nächsten, obwohl alle Positionen längst bekannt waren. Trotzdem redete man
       bis in den Morgen. Ohne greifbares Ergebnis, außer einem: Alle haben sich
       ausgesprochen. Und gemeinsam gelitten.
       
       Die Zeit für die endgültige Beratung am Samstagnachmittag – 15.45 Uhr – ist
       längst verstrichen. Fabius setzt als neuen Termin 18 Uhr an. Beobachter und
       Journalisten ahnen jetzt, dass nicht alles glatt läuft. Hollande
       telefoniert mit seinem Amtskollegen Erdoğan. Die Türkei schwenkt ein. Um
       das rebellische Nicaragua kümmert sich die katholische Kirche: Der Vatikan
       setzt den Erzbischof von Managua in Gang, damit der Staatspräsident eine
       Blockade verhindert. Und in der Afrika-Gruppe kommt es zum offenen
       Konflikt: Die armen Länder stellen ihre reichen Nachbarn vor die Wahl –
       entweder mit ihnen das Ergebnis akzeptieren oder sich im Plenum allein
       gegen alle stellen. Fabius sichert Türken und Afrikanern zu, sich nach der
       Konferenz persönlich um ihre Anliegen zu kümmern.
       
       Da weiß noch niemand, dass Fabius zwei Monate später seine Posten als
       Außenminister Frankreichs und als Präsident der Klimakonferenz aufgeben
       wird. Ein kalkulierter Vertrauensbruch? Das gehört wohl auch zu den
       Spielregeln. Allen Beteiligten ist bewusst: Vertrauen in politischen
       Verhandlungen hat eine kürzere Halbwertszeit als im Privaten.
       
       Um 18 Uhr strömen die Delegationen und Beobachter in die Messehalle „La
       Seine“. Der Raum hat einen Boden aus Holz, ist mit weißen Stühlen möbliert,
       an den Seiten geben rötliche Lampen der schmucklosen Halle ein warmes
       Licht. An der Stirnseite erhebt sich das Podium für die Prominenz: François
       Hollande, UN-Generalsekretär Ban Ki Moon, Klima-Stars wie der ehemalige
       US-Vizepräsident Al Gore oder der Ökonom Nicolas Stern. In der Luft hängt
       die Erwartung des großen Finales.
       
       ## Bewährungsprobe fürs Vertrauen
       
       Eine französische Diplomatin zittert vor Schlafentzug und Aufregung, ein
       US-Delegierter trippelt angespannt zwischen den Besucherreihen hin und her.
       Plötzlich schiebt sich eine breite Front von Politikern aus dem Eingang.
       Eingehakt erscheinen der EU-Klimakommissar Miguel Arias Cañete, die
       deutsche Umweltministerin Barbara Hendricks, der Unterhändler der
       Marshall-Inseln Tony de Brum, die Vertreter der USA, Brasiliens und etwa
       zwei Dutzend weiterer Staaten. Wie sie da einmarschieren, ähneln die
       Politiker Gladiatoren.
       
       Alle sind versammelt. Aber es geht nicht los. Fabius trifft sich abseits
       des Podiums mit vielen verschiedenen Vertretern in einem „Huddle“, einem
       informellen „Haufen“. Sein Team erklärt den wichtigsten Delegationen das
       „shall/should“-Problem. Jetzt muss sich zeigen, was die Investitionen von
       Fabius und Tubiana in „trust building“ wert sind. Es funktioniert: Die
       wichtigsten Figuren im Klimapoker lassen sich von den Franzosen davon
       überzeugen, dass es ein Versehen war und kein Foulspiel der US-Delegation.
       
       Der chinesische Verhandler Xie Zhenhua lächelt um die Wette mit Claudia
       Salerno aus Venezuela, die sonst abonniert ist auf dramatische
       antikapitalistische Auftritte. US-Außenminister John Kerry wandert durch
       die Stuhlreihen und stellt sich wie zufällig mit Xie und der Botschafterin
       von Südafrika zusammen, die für die Entwicklungsländer spricht. Das Bild
       soll allen deutlich machen: Hier gibt es keine Probleme. Während hinter
       ihnen genau diese Probleme gelöst werden.
       
       Kurz vor 19 Uhr ruft Fabius endlich den Saal zur Ordnung. Mit einem breiten
       Lächeln übergibt er dann zur „Klärung des Dokuments“ an Richard Kinley vom
       UN-Sekretariat, den Stellvertreter von Figueres. „Es geht um technische
       Korrekturen“, betont der. Und rasselt in schnellem Englisch ein Dutzend
       Änderungen von Kommas und Textdopplungen herunter.
       
       ## Fabius' entscheidender Schlag.
       
       Er entschuldigt sich für die Fehler von „Mitarbeitern, die seit Tagen nicht
       geschlafen haben“. Etwa in der Mitte seines Redeflusses erwähnt er auch:
       „In Absatz 4.4. sollte das „shall“ ein „should“ sein …“ Die Eingeweihten
       halten die Luft an. Jetzt wäre der Zeitpunkt für Widerspruch. Aber alles
       bleibt still.
       
       Der Text ist bereinigt. Jetzt holt Laurent Fabius zum entscheidenden Schlag
       aus. Er setzt seine Lesebrille korrekt auf die Nase und spricht ruhig und
       in schnellem Französisch, das die meisten Delegierten erst mit der
       Verzögerung des Simultandolmetschers verstehen. Statt wie üblich erst eine
       Diskussion zu eröffnen, hat er das umgekehrte Verfahren angekündigt, sagt
       aber, „wie es ja normal ist“: erst Abstimmen, dann reden.
       
       Nach ein paar einschläfernden technischen Details hebt er um 19.26 Uhr kurz
       den Blick ins Publikum und sagt: „Die Reaktion auf meine Vorschläge ist
       positiv, ich sehe keine Gegenstimmen.“ Seine zitternde Hand sucht nach dem
       Hammer des Konferenzleiters. „L’accord de Paris est accepté“, sagt Fabius.
       Dann schlägt er mit dem Hammer auf den Tisch.
       
       Der Saal explodiert in Jubel, Tubiana hat nach einer langen Umarmung mit
       Figueres Tränen in den Augen.
       
       Als nach minutenlangem Toben wieder Ruhe eintritt, melden sich die
       Delegationen zu Wort. Wenn jetzt große und wichtige Ländergruppen ihr Veto
       einlegen, kann alles noch kippen.
       
       Zuerst spricht Südafrika für die Entwicklungsländer – Zustimmung.
       
       Australien für die Bremser bei den Industriestaaten – Zustimmung.
       
       China für China – Zustimmung.
       
       So geht es Schlag auf Schlag weiter. Alle beglückwünschen Fabius und sich
       selbst. Nur Nicaragua bleibt in der Schmollecke, stellt sich aber nicht
       gegen den Kompromiss.
       
       Am 12. Dezember 2015 haben 195 Staaten gezeigt, was möglich ist, wenn sie
       sich gegenseitig einen Vorschuss an Vertrauen geben.
       
       Am 22. April 2016 wird das Abkommen von Paris in New York unterzeichnet.
       
       Dann muss es nur noch Realität werden.
       
       22 Apr 2016
       
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   DIR Bernhard Pötter
       
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       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Al Gores neuer Klimawandel-Film: Eine allzu bequeme Wahrheit
       
       Wieder will Al Gore die US-Öffentlichkeit aufrütteln. In Zeiten von
       US-Präsident und Klimawandel-Leugner Trump ist das nötig. Gore scheitert
       dennoch.
       
   DIR Klimaskeptiker in Australien: Regierung setzt auf Kohle
       
       Klimawissenschaften sind in Australien dramatisch unterbesetzt. Die
       „klimaskeptische“ Regierung trägt zum Expertenmangel bei.
       
   DIR Erfolg für UN-Klimapakt: 60 Länder ratifizieren Abkommen
       
       Das Pariser Klimaabkommen hat eine weitere Hürde genommen: mehr als 55
       Länder haben es ratifiziert. In Kraft treten kann es aber noch nicht.
       
   DIR Klimaflüchtling über Flut und Dürre: „Das Meer kommt immer näher“
       
       Sigeo Alesana aus Tuvalu spricht über die Gründe, seine sinkende Heimat zu
       verlassen. Er erklärt, warum Klimaflucht dort verpönt ist.
       
   DIR Kolumne Wir retten die Welt: Mit dem Sonderzug zum Staatsbesuch
       
       Joachim Gauck bemühte sich stets nach Kräften. Aber die nächste
       Bundespräsidentin sollte endlich mal jemand sein, die öko buchstabieren
       kann.
       
   DIR Klimakonferenz in Bonn: Eine langsame Gradwanderung
       
       195 UN-Länder diskutieren die Zukunft des Klimaschutzes: Das 1,5-Grad-Ziel
       ist kaum zu erreichen, wenn nicht sofort gehandelt wird.
       
   DIR UN-Klimaschützerin für klaren Fahrplan: „Regierungen allein schaffen es nicht“
       
       Die neue Generalsekretärin des UN-Klimasekretariats Patricia Espinosa warnt
       vor einem Rückfall ins „business as usual“. Klimaschutz sei Teamwork.
       
   DIR Ökopersonal bei den Vereinten Nationen: Die neuen Grünhelme
       
       Patricia Espinosa wird neue Klimachefin der Uno, Erik Solheim übernimmt das
       Umweltprogramm. Eine kluge Entscheidung.
       
   DIR Angela Merkel in der Türkei: Lob für Flüchtlingspolitik
       
       Die Bundeskanzlerin besuchte ein Flüchtlingslager nahe der syrischen
       Grenze. Die Türkei verlangt Visafreiheit für die Einreise in EU-Staaten.
       
   DIR Klimaabkommen wird unterzeichnet: Weltrettung auf dem Papier
       
       Über 150 Staaten unterzeichnen am Freitag das Pariser Abkommen zum
       Klimaschutz. Es soll schnell in Kraft treten. Nur die EU bummelt.
       
   DIR Wieder mehr CO2-Emissionen: Eine Fünf für den Klimastreber
       
       Ist Deutschland das Vorbild beim Klimaschutz, als das es sich gern
       bezeichnet? Womöglich ist das eigene Klimaziel für 2020 schon jetzt tot.
       
   DIR Kampf gegen Erderwärmung: Neue Klimakrieger gesucht
       
       Die Amtszeit der wichtigsten UN-Klimaverhandler geht zu Ende. Im Dezember
       verhandelten sie das „Wunder von Paris“. Wer übernimmt?
       
   DIR Nach dem Klima-Abkommen von Paris: Große Hoffnung, Kleingedrucktes
       
       Umweltschützer, Delegierte und Diplomaten feierten bis in die Nacht. Das
       Pariser Abkommen wurde weltweit bejubelt. Wie geht es jetzt weiter?
       
   DIR Endspurt der Klimaverhandlungen: High Noon in Paris
       
       Die Konferenzleitung legt den Klimavertrag vor. Jetzt heißt es: so gute
       Stimmung machen, dass keiner eine Ablehnung wagt.
       
   DIR Klimakonferenz in Paris: Fabius legt finalen Entwurf vor
       
       Der Abschlusstext für das Weltklimaabkommen ist da. Nun muss er nur noch
       übersetzt und einstimmig gebilligt werden.
       
   DIR Vertragsentwurf der Klimakonferenz: 29 Seiten, 48 Stunden
       
       Konferenzpräsident Fabius legt den entscheidenden Vertragsentwurf vor.
       Jetzt zeigt sich, wie wirksam hinter den Kulissen gearbeitet wurde.