Baustelle Europa unter Wachstumszwang 19. Juli 2003 - Neue Zürcher Zeitung Ungeachtet hitziger Wortwechsel italienischer und deutscher Politiker, die disharmonische Lebensgefühle an die europäische Oberfläche trieben, ist auf der Baustelle Europa in den vergangenen Monaten produktiv und konstruktiv gearbeitet worden. Der EU-Konvent hat einen Entwurf für einen neuen Grundvertrag geboren, die wichtigsten Beitrittskandidaten aus dem Osten haben ihre Referenden ohne Unfälle hinter sich gebracht, und die vor dem Irak-Krieg aufgeschütteten transatlantischen und innereuropäischen Gräben sind zwar nicht zugeschüttet, aber doch eingeebnet worden. Auch sind in Frankreich, Deutschland und Österreich Reformen, wenn auch unterschiedlicher Qualität und Nachhaltigkeit, auf den Weg gebracht worden. Die Widerstandskraft grosser Gewerkschaften und Verbände war offensichtlich überschätzt worden. Noch hat man zwar Mühe mit der Vorstellung, ein Schröder könnte sich zum Bannerträger eines deutschen Thatcherismus entwickeln. Man kauft ihm das innere Feuer des überzeugten Mauereinreissers nicht ab. Auch der Gedanke, in Frankreich breche nun ein liberales Zeitalter an, ist weiterhin sehr gewöhnungsbedürftig. Die harte Erkenntnis, dass die westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten am Ende ihrer alten Zukunft angelangt sind, hat sich noch nicht überall durchgesetzt und auch zu wenig politische Dynamik entfaltet. Andauernde Wirtschaftsflaute, leere öffentliche Kassen, Globalisierung immer noch, abnehmende Wettbewerbsfähigkeit, hohe Arbeitslosigkeit und ungünstige demographische Perspektiven bestimmen die Szene ganz unabhängig von politischen Strategien und Utopien. Dass Europa zu stärkerem Wirtschaftswachstum zurückkehren müsste, auch nur um bestehenden Ambitionen gerecht zu werden, ist ein Gemeinplatz geworden. Das jüngste Europa-Manifest des Philosophen Habermas atmet aber eine ganz andere Grundstimmung. Man orientiert sich an Vorstellungen der Linken in den siebziger Jahren - ungebrochenes Vertrauen in das Steuerungsvermögen des Staates, unverhohlene Skepsis gegenüber jenem des freien Marktes. Misstrauen gegenüber dem Markt ist, natürlich, eine voraussehbare Folge der kapitalistischen und persönlichen Exzesse in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, jenes ``irrationalen Überschwangs'', der jetzt so schmerzhaft aus dem System gewrungen werden muss. Doch wäre die Neo-Linke schlecht beraten, wenn sie ihre eigene Vergangenheit - unter den Auspizien des Kalten Krieges - in die Zukunft projizierte. Die Demonstrationen gegen die Amerikaner vor und während des Irak-Kriegs verleiten zur Annahme, hier sei europäische Identität raumgreifend und in den Bevölkerungen stark verankert im Entstehen. Den alten Kontinent als Antithese zur Neuen Welt zu definieren, drängte sich für Europa-Idealisten geradezu auf. Unterscheidet sich Europa aber wirklich so grundsätzlich von Amerika, dass es sich durch diesen Gegensatz selber charakterisieren und die viel gesuchte Identität finden kann - im Alles-nur-nicht-Amerikaner-Europäer? Ist das westeuropäische Sozialstaatsmodell - anstelle der Karikatur eines ``Neoliberalismus'' nach Wildwestmanier - in seiner gegenwärtigen und möglichen künftigen Verfassung für Europa tatsächlich attraktiv genug, um identitätsstiftend sein zu können? Wie stark ist denn eine europäische ``Hochkultur'', die gegen den Angriff des amerikanischen ``Primitivismus'' durch protektionistische Vorkehren geschützt werden muss? Ist Europa durch den Holocaust wirklich mehr ``sensibilisiert'' als ein Amerika, das während mehr als 200 Jahren der totalitären Versuchung widerstanden, zwei der übelsten Varianten bekämpft und besiegt und sich erst vor kurzem recht rabiat für vergessene Opfer der deutschen Judenvernichtung eingesetzt hat? Derartige europäische Identitätssuche befindet sich wohl auf dem Holzweg. Das Misstrauen gegenüber Amerika mag in einem grossen Teil der europäischen Öffentlichkeit derzeit stark sein und findet etwa in der amerikanischen Hegemonie- Mentalität im Rechtsgebaren und in Exklusivitätsansprüchen aller Art immer wieder neue Nahrung. Ein deutsch-französisches Direktorat für Europa träfe aber ebenso auf ausgeprägten Unwillen. Dennoch, es scheint, dass das Projekt Europa abseits irgendwelcher Identitätsprobleme vorankommt. An der vom Konvent präsentierten Verfassung wird die Regierungskonferenz trotz den Warnungen Giscard d'Estaings noch Änderungen anbringen - und sei es nur, um ihre Existenzberechtigung unter Beweis zu stellen. An den Eckpfeilern des Entwurfs wird sie kaum mehr rütteln. Der Text ist zwar kein grosser Wurf und ist deswegen auch kritisiert worden. Doch ist er ein gutes Abbild des zurzeit mit friedlichen Mitteln, mit ``Do ut des'', mit Kompromiss und Ausgleich, politisch Möglichen. Es bringt praktische Fortschritte für eine Union, die mit wesentlich mehr Mitgliedern funktionieren muss und es auch kann, ohne dass sie auf den allseits geschmähten Status einer gehobenen Freihandelszone zurückfallen wird. Die Aufnahme der neuen Mitglieder wird die Union ohnehin beleben und sie aus ihrem gewohnten Trott reissen. Es wird für Frankreich schwieriger werden, seinen Willen durchzusetzen, und Deutschland findet sich ebenfalls in einer neuen Position wieder, von der aus es bei Bedarf neue Allianzen und Zweckbündnisse schliessen wird. Grossbritannien hat dies in der Irak-Krise bereits instinktiv begriffen. Doch jene, die von einer Weltmacht Europa träumen, die mit Amerika ``auf gleicher Augenhöhe'' stehen könnte, finden im Konventsentwurf wenig Konkretes. Die Aussen- und Sicherheitspolitik bleibt dem Prinzip Einstimmigkeit unterworfen, und die nationalen Regierungen behalten sehr weit gehend die Kontrolle über Budgetgelder und Militär. Für seinen Vorstoss am Quatorze Juillet, man müsse den Stabilitätspakt ``geschmeidiger'' machen, hat Präsident Chirac wenig Applaus erhalten. Im Sinne der Erfinder sollte der Pakt Stabilität bringen und Wachstum fördern. Seine Reichweite ist umstritten, seine Wirkung wohl in erster Linie eine politische. Dass die Defizitgrenze bei drei Prozent des Bruttoinlandprodukts für alle Zeiten und Umstände liegen muss, bedarf in der schwierigen Gegenwart einer besonders guten Begründung, auch wenn Anpassungsmechanismen im System vorgesehen sind. Wenn Paris und Berlin Jahr für Jahr ungestraft Bestimmungen verletzen, die sie einst feierlich eingegangen sind, um Vertrauen in den Euro aufzubauen, ist das ein Problem von einiger Sprengkraft, das in Zukunft zu lösen sein wird. Den allgemeinen wirtschaftlichen Einwänden gegen Wachstumsbremsen tut dies keinen Abbruch. Unter den herrschenden misslichen Bedingungen kann man wohl nicht viel anderes tun als die Augen schliessen, die Nase zuhalten und den Sündern einen bedingten Freipass geben. Man könnte diese ``Toleranz'' vielleicht in politisches Kapital ummünzen und ihnen wachstumsbegünstigende Konzessionen auf andern Gebieten abringen: Frankreich müsste in eine ``geschmeidigere'' Agrarpolitik einwilligen, Deutschland ganz allgemein zentralistische Impulse dämpfen. Korrekturen an der staatlichen Geld- und Fiskalpolitik werden so oder so nicht genügen; um langfristig wirkende Strukturänderungen werden die beiden Fehlbaren nicht herumkommen. Die Arbeit am Projekt Europa ist weiterhin und auf lange Sicht sehr notwendig. Wer sich die jüngsten unsäglichen Äusserungen von Politikern zu Gemüte führt, blickt in eine europäische Seele mit dunklen Stellen. In den Niederungen von Politik und Boulevardpresse regt und bewegt sich allerlei, das sicher nicht völkerverbindend ist. Offenbar leben nicht nur die europäischen Nationalstaaten weiter, sondern auch die damit verbundenen, oft wenig erbaulichen Gefühle, die einige Mitglieder dieser Völkerfamilie einander gegenüber immer noch hegen. Im Roman ``Lord of the Flies'' lässt Golding einen Charakter sagen: ``The rules are the only thing we've got.'' Regeln verhindern, dass wir in die Barbarei zurückfallen. Die Schutzschicht der Zivilisation ist dünn. Das gilt insbesondere für Europa. Gut deshalb, dass es die Europäische Union gibt und nach einem Sommer des Missvergnügens auf der Baustelle Europa wieder Hochbetrieb aufkommen wird. H. K. .