10. August 2002, 03:05, Neue Zürcher Zeitung Langer Abschied vom Dritten Weg Während die Architekten des politischen Europa unter der Anleitung des Franzosen Giscard d'Estaing über die künftige Gestalt der Brüsseler Union meditieren, hat auf dem alten Kontinent wieder einmal die politische Windrichtung umgeschlagen. Die hohe Zeit des Dritten Wegs und der rosaroten Dominanz- und Einheitsträume, in der man einst dem EU-Mitglied Österreich die politische Ausrichtung diktieren wollte, ist vorbei. Man trägt immer öfter wieder Hellblau. Schweden und Deutschland wählen zwar erst im September, doch Frankreich, Spanien, Italien, Portugal, Dänemark, die Niederlande und Österreich haben eine politische Häutung hinter sich. Nicht sozialdemokratisch ist auch die irische Regierung, doch dies traditionsgemäss, nicht als Folge turnusmässiger Wechsel. Noch vor knapp drei Jahren waren in elf der fünfzehn EU-Staaten nominell linke Regierungen an der Macht. Noch im März lachten der Portugiese Guterres, der Franzose Jospin und der Holländer Kok vom Familienbild des EU-Gipfels in Sevilla. Ein Trend nach rechts ist zurzeit deutlich erkennbar. Schwerer tut man sich aber mit der konkreten Frage, was dies für die Bürger wirklich zu bedeuten hat. Stoiber gehört ja einer Partei an, die neben dem hohen «C» ein unübersehbares «S» im Namen führt und dieses auch im eigenen Herrschaftsbereich praktiziert. Bayrischer Paternalismus, der Organisationsgrad und die Durchdringung der Gesellschaft tragen durchaus sozialdemokratische Züge. Sollte der CSU-Kandidat den Stagnationskanzler schliesslich schlagen, würde der Sieger Deutschland nicht umkrempeln. Am Stammtisch macht deshalb die Feststellung auf gut Schweizerisch die Runde: Schröder oder Stoiber - «was Hans, was Heiri!» Doch wie immer hat der Stammtisch nicht einmal halb Recht. Warum denn haben immerhin sieben der fünfzehn Mitglieder der Europäischen Union den Sozialdemokraten nach knapp bemessener Frist wieder den Laufpass gegeben? Warum hält sich Tony Blair als einsame Grösse immer noch im Amt? Warum wird Schweden entgegen dem genannten Trend im September vermutlich sozialdemokratisch wählen? Die erste und einfachste Antwort ist die, dass Europa politisch nicht im Gleichtakt tickt. Seine historisch gewachsene Vielgestaltigkeit ist auch im Politischen bestimmend, immer noch oder mehr denn je. Die nicht durch politischen Wagemut auffallenden Schweden werden dann wieder eine sich bürgerlich nennende Alternative wählen, wenn sie dem Gefühl erliegen, eine solche biete einen allgemeinen Aufschwung bei genügender Sicherheit an. Andernfalls bleiben sie lieber beim Alten. Anders auf den Britischen Inseln. Wichtiger als die Zugehörigkeit Blairs zur Labourpartei ist die Tatsache, dass er vom Temperament her ein Reformer ist und die Energie aufgebracht hat, zuerst seine eigene Partei gegen starken Widerstand zu erneuern. Er tat dies zum richtigen Zeitpunkt, dann nämlich, als der politische Hauptgegner, vom Regieren ermüdet, nicht mehr die Kraft aufbrachte, einen innerparteilichen Zwist von grosser Sprengkraft rechtzeitig zu entschärfen: die Europafrage. Solange die Tories diese und ähnliche Dinge «nicht in den Griff kriegen», hat Blair leichtes Spiel. Er versteht es auch glänzend zu «triangulieren», das Spiel um die politische Mitte zu spielen - in seiner neuen Form übrigens eine amerikanische Erfindung. In Deutschland wurde das auch versucht, wenn auch weniger raffiniert: Mitte sei jeweils da, wo sich die linke Volkspartei SPD befinde, erklärte der damalige Generalsekretär Müntefering im Februar 2001 recht apodiktisch. Nun bedeutet «sozialdemokratisch» nicht in allen Ländern Europas das Gleiche. Schwedische Bürgerliche wären weiter südlich Mitglieder der SPD oder der Grünen, «Blairiten» dagegen ohne weiteres im Bürgertum mehrerer europäischer Länder anzutreffen. Auch Inhalt und Bedeutung des Begriffs «politische Mitte», von Schröder einst als neu bezeichnet, wechseln von Land zu Land und mit der Zeit. Ob die Talfahrt an den Börsen und die bekannt gewordenen Bilanz- und Kontrollskandale nun die Gewichte wieder mehr nach links verschieben, wie sich einige Genossen erhoffen, ist offen. Das hängt wohl davon ab, wie lange ein Aufschwung auf sich warten lässt, mehr aber noch, wie die Unternehmenswelt reagiert und ob Zweifel über die Sicherung der Renten zerstreut werden können. Der Glaube an die Solidität der freien Wirtschaft mag nicht mehr Berge versetzen, untergraben ist er noch lange nicht. Der Wechsel in Frankreich zeigt, dass es eine Rolle spielt, ob der Premierminister Jospin oder Raffarin heisst. Zwar wird erst die kommende Konfrontation mit Gewerkschaften und Verbänden Anhaltspunkte liefern, aus welchem Holz die neue Regierung wirklich geschnitzt ist. Doch während Berlin einen unglücklichen Verteidigungsminister in die Wüste schickte, hat Chirac schon im Juli angekündigt, dass die Verteidigungsausgaben bis zum Jahr 2008 erhöht würden. Und dies, obwohl sonst gespart wird - beim TGV, bei einem dritten Pariser Flughafen und mit der Streichung der Weltausstellung. Denkbar ist, dass ein neuer Versuch unternommen wird, Frankreichs Rückkehr in die integrierte Kommandostruktur der Nato zu bewerkstelligen, die vor Jahren ebenfalls unter Chirac am Streit mit den Amerikanern um das Südkommando gescheitert war. Gut vorstellbar ist auch, dass die französisch- deutsche Achse als Motor der Weiterentwicklung der EU nach einem Wechsel zu Stoiber wieder besser funktioniert. Es ist für Historiker und Soziologen verführerisch, in der gegenwärtig sichtbaren Abwendung von der traditionellen Sozialdemokratie in Europa langfristige und grundlegende Strömungen am Werk zu sehen. Der französische Soziologe Alain Touraine, selbst einer der Protagonisten der 68er Generation, richtet sein Augenmerk auf die Wandlungen in der Wirtschaft, vor allem der industriellen Produktionsgesellschaft, auf die Dominanz der Märkte als Regelungsinstrument und auf gewisse Schwächen des Nationalstaats. Er sieht in all dem Symptome von Veränderungen, die nicht zugunsten einer Sozialdemokratie wirken, welche sich an Altem festzuklammern versucht. Hinzu kommt ein wachsendes Unbehagen im linken Lager generell über die Globalisierung, über Pazifismus und Migrationsprobleme. Diese Themen belasten die neue wie die alte Linke und markieren Bruchlinien, die man überdecken möchte. Es zeigt sich erneut, dass der Dritte Weg zwar als Formel für den Weg zur Macht taugt, die programmatische Festlegung und Verpflichtung auf Dauer aber nicht ersetzt. Nach den jüngsten wirtschaftlichen Schwächezeichen wird man nun deutlicher sehen können, ob linke Postulate wieder populärer werden: hohe Abgaben an den Staat, mehr staatliche Lenkung in der Wirtschaft und eine stärkere Umverteilung von Einkommen und Besitz. Zurzeit scheint nicht sehr wahrscheinlich, dass es dazu wirklich kommt. Der einsame Erfolg Blairs ist aber nicht nur das Spiegelbild endemischer Schwäche der Tories, sondern beruht auch auf Eigenleistung. «New Labour» ist im Gegensatz zu andern linken Parteien bereit, bei Themen wie der inneren Sicherheit und der Einwanderung bewusst eine härtere Linie zu fahren. Ganz offensichtlich profitiert der Premier auch immer noch von der Gewerkschaftspolitik seiner resoluten Vor-Vorgängerin Margaret Thatcher, die einen wesentlich flexibleren britischen Arbeitsmarkt geschaffen hatte. Nicht umsonst ist der Beschäftigungsgrad in Deutschland, Frankreich und Italien um einiges geringer als in Britannien. Als in Deutschland die Ära Kohl zu Ende ging und in Frankreich Chirac sich nach zwei Jahren im Amt mit der abrupt gewählten linken Regierung Jospin arrangieren musste, waren die erwähnten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandlungstendenzen bereits im Tun. Über Regierungswechsel entscheiden denn auch nicht unbedingt nur Grundströmungen, sondern ebenso kurzfristige und persönliche Phänomene. Politik läuft eher selten nach Regeln und Drehbüchern einer politischen Wissenschaft ab. Es bleibt, Gott sei Dank, genügend Raum für Überraschungen. H. K. Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter: http://www.nzz.ch/2002/08/10/al/page-kommentar8B58O.html Copyright (c) Neue Zürcher Zeitung AG .