The Project Gutenberg eBook, Die Familie Pfaeffling, by Agnes Sapper This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Die Familie Pfaeffling Author: Agnes Sapper Release Date: February 2, 2004 [eBook #10917] Language: German Character set encoding: US-ASCII ***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FAMILIE PFAEFFLING*** E-text prepared by Olaf Voss, Michael Wymann-Boeni, and Project Gutenberg Distributed Proofreaders Die Familie Pfaeffling Eine deutsche Wintergeschichte von Agnes Sapper 1909 Meiner lieben Mutter zum Eintritt in das 80. Lebensjahr. Die Familie Pfaeffling muss *Dir* gewidmet sein, liebe Mutter, denn was ich in diesem Buche zeigen moechte, das ist Deine eigene Lebens-Erfahrung. Du hast uns vor Augen gefuehrt, welcher Segen die Menschen durchs Leben begleitet, die im grossen Geschwisterkreis und in einfachen Verhaeltnissen aufgewachsen sind, unter dem Einfluss von Eltern, die mit Gottvertrauen und froehlichem Humor zu entbehren verstanden, was ihnen versagt war. Noch jetzt, wo wir Deinem 80. Geburtstag entgegengehen, steht die Erinnerung an Deine Kinderzeit Dir lebendig vor der Seele, und wenn Du die Beschwerden und Entbehrungen des Alters in geduldiger, anspruchsloser Gesinnung ertraegst so ist das nach deinem eigenen Ausspruch noch immer eine Wirkung, die ausgegangen ist aus einer entbehrungsreichen und dennoch glueckseligen Jugendzeit. Nicht eben *Deine* Familie, aber eine von demselben Geist beseelte moechte ich in diesem Buch der deutschen Familie vorfuehren. Herbst 1906. Die Verfasserin. * * * * * Inhalt 1 Wir schliessen Bekanntschaft 2 Herr Direktor 3 Der Leonidenschwarm 4 Adventszeit 5 Schnee am unrechten Platz 6 Am kuerzesten Tag 7 Immer noch nicht Weihnachten 8 Endlich Weihnachten 9 Bei grimmiger Kaelte 10 Ein Kuenstlerkonzert 11 Geld- und Geigennot 12 Ein Haus ohne Mutter 13 Ein fremdes Element 14 Wir nehmen Abschied 1. Kapitel Wir schliessen Bekanntschaft. Ihr wollt die Familie Pfaeffling kennen lernen? Da muss ich euch weit hinausfuehren bis ans Ende einer groesseren sueddeutschen Stadt, hinaus in die aeussere Fruehlingsstrasse. Wir kommen ganz nahe an die Infanteriekaserne, sehen den umzaeunten Kasernenhof und Exerzierplatz. Aber vor diesem, etwas zurueck von der Strasse, steht noch ein letztes Haus und dieses geht uns an. Es gehoert dem Schreiner Hartwig, bei dem der Musiklehrer Pfaeffling mit seiner grossen Familie in Miete wohnt. Um das Haus herum, bis an den Kasernenhof, erstreckt sich ein Lagerplatz fuer Balken und Bretter, auf denen Knaben und Maedchen froehlich herumklettern, turnen und schaukeln. Meistens sind es junge Pfaefflinge, die da ihr Wesen treiben, manchmal sind es auch ihre Kameraden, aber der eine Kleine, den man taeglich auf den obersten Brettern sitzen und dabei die Ziehharmonika spielen sieht, das ist sicher kein anderer als Frieder Pfaeffling. Um die Zeit, da unsere Geschichte beginnt, ist uebrigens der Hof verlassen und niemand auf dem weiten Platz zu sehen. Heute ist, nach den langen Sommerferien, wieder der erste Schultag. Der Musiklehrer Pfaeffling, der schlanke Mann, der noch immer ganz jugendlich aussieht, war schon fruehzeitig mit langen Schritten den gewohnten Weg nach der Musikschule gegangen, um dort Unterricht zu geben. Sechs von seinen sieben Kindern hatten zum erstenmal wieder ihre Buecher und Hefte zusammengesucht und sich auf den Schulweg gemacht. Die lange Fruehlingsstrasse mussten sie alle hinunterwandern, aber dann trennten sich die Wege; die drei aeltesten suchten weit drinnen in der Stadt das alte Gymnasiumsgebaeude auf, die zwei Schwestern hatten schon etwas naeher in die Toechterschule und Frieder, der noch in die Volksschule ging, haette sein Ziel am schnellsten erreichen koennen, aber das kleine runde Kerlchen pflegte in Gedanken verloren dahinzugehen und sich mehr Zeit zu lassen als die andern. Im Hause Pfaeffling war nach dem lauten Abgang der sieben Familienmitglieder eine ungewohnte Stille eingetreten. Es blieb nur noch die Mutter zurueck, und Elschen, das juengste niedliche Toechterchen, sowie die treue Walburg, die in der Kueche wirtschaftete. Frau Pfaeffling atmete auf, die Stille tat ihr wohl. Was war das fuer ein Sturm gewesen, bis der letzte die Tuere hinter sich zugemacht hatte, und was fuer eine Unruhe all die Ferienwochen hindurch! Waehrend sie ordnend und raeumend von einem Zimmer ins andere ging, war ihr ganz festtaeglich zu Mute. Sie war von Natur eine stille, nachdenkliche Frau und gern in Gedanken versunken, aber das Leben hatte sie als Mittelpunkt in einen grossen Familienkreis gestellt, und es drehten sich lauter lebhafte, plaudernde, fragende, musizierende Menschen um sie herum. Waehrend nun die Mutter sich der Ruhe freute, wusste Elschen gar nicht, wo es ihr fehlte. Allein zu spielen hatte sie ganz verlernt. So ging sie hinunter in den Hof, wo die grossen Balken lagen. Oft hatte sie sich in den letzten Wochen geaergert, wenn sie aengstlich auf den glatten Balken kleine Schrittchen machte, dass die Brueder das so flink konnten und sie ihnen immer Platz machen sollte. Jetzt hatte sie alle die Baumstaemme allein zu ihrer Verfuegung, aber nun machten sie ihr keine Freude. Sie ging weiter zu den Brettern, die uebereinander aufgestapelt lagen. Dort oben, wo ein kleines dickes Brett querueberlag, war Frieders Lieblingsplatz, auf dem er immer mit der Ziehharmonika sass. Wenn er gar zu lang spielte und sie nicht beachtete, war sie manchmal ungeduldig geworden und hatte sogar einmal gesagt, die Harmonika sei eine alte Kroete. Aber jetzt, wo es ueberall ganz still war, haette sie auch die Harmonika gern gehoert. Sie setzte sich auf Frieders Platz und dachte an ihn. Es war so langweilig heute morgen--fast zum weinen! Da tat sich oben im Haus ein Fenster auf und der Mutter Stimme rief: "Elschen, flink, Essig holen!" Einen Augenblick spaeter wanderte auch Else die Fruehlingsstrasse hinunter, zwar nicht mit den Buechern in die Schule, aber mit dem Essigkrug zum naechsten Kaufmann. Im untern Stock des Hauses wohnte der Schreiner Hartwig mit seiner Frau. Es waren schon aeltere Leute und er hatte das Geschaeft abgegeben. Sie war eine freundliche Hausfrau, die aber auf Ordnung hielt und auf gute Erhaltung des Besitzes. Als diesen Morgen die Pfaefflinge nacheinander die Treppe hinunter gesprungen waren, hatte sie zu ihrem Mann gesagt: "Hast du schon bemerkt, wie die Treppe abgenutzt ist? Seit dem Jahr, wo Pfaefflings bei uns wohnen, sind die Stufen schon so abgetreten worden, dass mir wirklich bang ist, wie es nach einigen Jahren aussehen wird." "Verwehr's ihnen, dass sie so die Treppen herunterpoltern," sagte der Hausherr. "Ich will gar nicht behaupten, dass sie poltern, sie sind ja ruecksichtsvoll, aber hundertmal springen sie auf und ab und es pressiert ihnen allen so, ein Gehen gibt's bei denen gar nicht, sie muessen immer springen. Ich will sie aber gleich heute aufmerksam machen auf die abgetretenen Stellen." "Tu's nur, aber das Springen wirst du ihnen nicht abgewoehnen, springt doch der Vater selbst noch wie ein Junger. Wir haben doch nicht gewusst, was es um so eine neunkoepfige Musikersfamilie ist, wie wir ihnen voriges Jahr selbst unsere Wohnung angeboten haben in ihrer Wohnungsnot. Und jetzt haben wir sie, und zu kuendigen braechtest du doch nicht uebers Herz." "Nein, nie! Aber du auch nicht." "Dann sprich nur beizeiten mit deinem Schwager, dass er Bretter fuer neue Boeden bereit haelt," sagte der Hausherr und die Frau ging hinaus, stand bedenklich und sinnend vor der Treppe, wischte mit einem Tuch ueber die Stufen, aber sie blieben doch abgetreten. Die Vormittagsstunden waren endlich voruebergegangen, die kleine vereinsamte Schwester stand am Fenster, sah die Strasse hinunter und erkannte schon von weitem den Vater, der mit raschen Schritten auf das Haus zukam. Bald darauf tauchten zwei Maedchengestalten auf, das waren die Zwillingsschwestern, die elfjaehrigen, Marie und Anna, die der Bequemlichkeit halber oft zusammen Marianne genannt wurden. So rief auch Else jetzt der Mutter zu: "Der Vater ist schon im Haus und Marianne sehe ich auch, aber sie stehen bei andern Maedchen und machen gar nicht voran. Aber jetzt kommt der Frieder und dahinter die drei Grossen, jetzt muss ich entgegen laufen." Die Schwestern hatten sich den Bruedern zugesellt und so kamen sie alle zugleich ins Haus herein, wo ihnen die Kleine laut lachend vor Vergnuegen entgegenrief: "Alle sechs auf einmal!" Sie wollte zu Frieder, der zu hinterst war, aber die Schwestern hatten sie schon an beiden Haenden gefasst und alle draengten der Treppe zu, als die Tuere der untern Wohnung aufging und Frau Hartwig herbeikam. Flugs zogen die Brueder ihre Muetzen, denn die Ruecksicht auf die Hausleute war ihnen zur heiligen Pflicht gemacht, und die ganze Schar stand seit dem letzten Umzug in dem Bewusstsein, durchaus keine begehrenswerte Mietspartei zu sein. So blieben sie auch alle stehen, als Frau Hartwig ihnen zurief: "Wartet ein wenig, Kinder, ich muss euch etwas zeigen. Schaut einmal die Treppe an, seht ihr, wie die Stufen in der Mitte abgetreten sind? Voriges Jahr war davon noch keine Spur, wer hat das wohl getan?" Eine peinliche Stille, lauter gesenkte Koepfe. "Das habt ihr getan," fuhr die Hausfrau fort, "weil ihr mit euern genagelten Stiefeln hundertmal auf und ab gesprungen seid. Wenn ihr nicht Acht gebt, dann richtet ihr mir in _einem_ Jahr meine Treppe ganz zugrunde." Sie standen alle betreten da, die Blicke auf die Treppe gerichtet. So schlimm kam ihnen diese wohl nicht vor, aber die Hausfrau musste es ja wissen! In diesem kritischen Moment kam Karl, dem grossen, der Mutter Hauptregel ins Gedaechtnis: nur immer gleich um Entschuldigung bitten! "Es ist mir leid," sagte er, und alle Geschwister wiederholten das erloesende Wort: "Es ist mir leid", und darauf fing Karl, der grosse, an, langsam und behutsam die Treppe hinaufzugehen, ihm folgte Wilhelm, der zweite und Otto, der dritte. Ihnen nach schlichen unhoerbar Marie und Anna mit Elschen. Nur Frieder, der vorhin zuhinterst gestanden war und deshalb den Schaden an der Treppe noch nicht hatte sehen koennen, der verweilte noch und betrachtete nachdenklich die Stufen. Dann sagte er zutraulich zu der Hausfrau: "Nur in der Mitte sieht man etwas, warum denn nicht an den Seiten?" "Kleines Dummerle," sagte Frau Hartwig, "kannst du dir das nicht denken? In der Mitte geht man wohl am oeftesten." "So deshalb?" sagte der Kleine, "dann gehe ich lieber an der Seite," und indem er dicht am Gelaender hinaufstieg, rief er noch freundlich herunter: "Gelt, so wird deine Treppe schoen geschont?" "Ja, so ist's recht," sagte die Hausfrau und indem sie wieder in ihre Wohnung zurueckkehrte, sprach sie so fuer sich hin: den guten Willen haben sie, was kann man mehr verlangen? Oben an der Treppe hatte Elschen schon auf Frieder gewartet, sie zog ihn ins Zimmer und rief vergnuegt: "Jetzt sind sie alle wieder da!" Den Esstisch hatte Frau Pfaeffling gedeckt, ihr Mann war dabei lebhaft hin und hergelaufen und hatte ihr erzaehlt, was Neues von der Musikschule zu berichten war. Je mehr aber Kinder hereinkamen, um so oefter lief ihm eines in den Weg, so gab er das Wandeln auf und klatschte mit seinen grossen Haenden, was immer das Zeichen war, zu Tisch zu gehen. Da gab es schnell ein Schieben und Stuhlruecken und einen Augenblick lautloser Stille, waehrend die Mutter das Tischgebet sprach. Es war nicht alle Tage dasselbe, sie wusste viele. Sie fragte manchmal den Vater, manchmal die Kinder, welches sie gerne hoerten und richtete sich darnach. Heute sprach sie den einfachen Vers: "Du schickst uns die Arbeit, du goennst uns die Ruh, Herr gib uns zu beidem den Segen dazu." Das Essen, das die grosse Walburg aufgetischt hatte, schmeckte allen, aber das Tischgespraech wollte heute den Eltern gar nicht gefallen. Sie kannten es schon, es war immer das gleiche beim Beginn des Wintersemesters. "Wir muessen jetzt ein Physikbuch haben." "Die alte Ausgabe von der Grammatik, die ich von Karl noch habe, darf ich nimmer mitbringen." "Zum Naehtuch brauchen wir ein Stueck feine neue Leinwand." "Bis Donnerstag muessen wir richtige Turnanzuege haben." "In diesem Jahr kann ich mich nicht wieder ohne Atlas durchschwindeln." "Mein Reisszeug sei ganz ungenuegend." So ging das eine Weile durcheinander und als das Essen vorbei war, umdraengten die Plaggeister den Vater und die Mutter; nur Frieder, der kleine Volksschueler, hatte keine derartigen Wuensche, er nahm seine Ziehharmonika und verzog sich; Elschen folgte ihm hinunter auf den Balkenplatz, wo eine freundliche Herbstsonne die Kinder umfing, die sich noch sorgenlos in ihren Strahlen sonnen konnten. Herr Pfaeffling suchte sich dem Draengen seiner Grossen zu entziehen, indem er hinueberfluechtete in das Eckzimmer, das sein Musik- und Stundenzimmer war. Dort wartete ein Stoss neuer Musikalien auf ihn, die er pruefen sollte. Aber es waehrte nicht lang, so folgten ihm seine drei Lateinschueler nach, und ein jeder brachte wiederholt sein Anliegen vor und suchte zu beweisen, dass es dringend sei. "Ich glaube es ja," sagte der Vater, "aber alles auf einmal koennen wir nicht anschaffen, ihr muesst eben warten, bis sich wieder Geld angesammelt hat. Woher sollte denn so viel da sein eben jetzt, nach den langen Ferien? Wenn sich nun wieder Stundenschueler einfinden und Geld ins Haus bringen, dann sollt ihr Atlas, Reisszeug und die neuesten Ausgaben der Schulbuecher bekommen, aber jetzt reicht es nur fuer das dringendste." Herr Pfaeffling zog eine kleine Schublade seines Schreibtisches auf, in der Geld verwahrt war, "Schaut selbst herein und rechnet, wie weit es langt," sagte er. Es war nicht viel in der Schublade. Jetzt fingen die Jungen an zu rechnen und miteinander zu beraten, was das Unentbehrlichste sei. "Fuer Marianne muss auch noch etwas uebrig bleiben," bemerkte der eine der Brueder, "bei ihr gibt es sonst gleich wieder Traenen. Leinwand zu einem Naehtuch wollen sie, ob das wohl recht viel kostet?" So unterhandelten sie miteinander, gaben von ihren Forderungen etwas ab und waren froh, dass das Geld wenigstens zum Allernotwendigsten reichte. Es blieb kein grosser Rest mehr in der kleinen Schublade. Als kurze Zeit darauf die Lateinschueler und die Toechterschuelerinnen sich wieder auf den Schulweg gemacht hatten, kam Frau Pfaeffling zu ihrem Mann in das Musikzimmer, wo sie gerne nach Tisch ein Weilchen beisammen sassen. "Sieh nur, Caecilie," sagte er zu ihr, "die trostlos leere Kasse. Es ist hoechste Zeit, dass wieder mehr hineinkommt! Wenn sich nur auch neue Schueler melden, die besten vom Vorjahr sind abgegangen und es sind jetzt so viele Musiklehrer hier; von der Musikschule allein koennten wir nicht leben." "Es werden gewiss welche kommen," sagte Frau Pfaeffling, aber sehr zuversichtlich klang es nicht und eines wusste von dem andern, dass es sorgliche Gedanken im Herzen bewegte. In die Stille des Eckzimmers drang vom Zimmermannsplatz herauf der wohlbekannte Klang der Harmonika. Frau Pfaeffling trat ans offene Fenster und sah die beiden kleinen Geschwister auf den Brettern sitzend. "Es ist doch schon 2 Uhr vorbei," sagte sie, "hat denn Frieder heute nachmittag keine Stunde?" und sie rief dieselbe Frage dem kleinen Schulbuben hinunter. Die Harmonika verstummte, die Kinder antworteten nicht, sie sahen sich nur bestuerzt an und die Eile, mit der sie von den Brettern herunterkletterten und durch den Hof rannten, dem Haus zu, sagte genug. "Er hat wahrhaftig die Schulzeit vergessen," rief Herr Pfaeffling, "daran ist wieder nur das verwuenschte Harmonikaspielen schuld!" Als Frieder die Treppe heraufkam--ohne jegliche Ruecksicht auf abgetretene Stufen--streckte der Vater ihm schon den Arm entgegen und nahm ihm die geliebte Harmonika aus der Hand mit den Worten: "Damit ist's aus und vorbei, wenn du sogar die Schulzeit darueber vergisst!" Frieder beachtete es kaum, so sehr war er erschrocken. "Sind alle andern schon fort? Ist's schon arg spaet?" fragte er, waehrend er ins Zimmer lief, um seine Buecher zu holen. Elschen stand zitternd und strampelnd vor Aufregung dabei, waehrend er seine Hefte zusammenpackte, rief immer verzweifelter: "Schnell, schnell, schnell!" und hielt ihm seine Muetze hin, bis er endlich ohne Gruss davoneilte. Auf halber Treppe blieb er aber noch einmal stehen und rief klaeglich herauf: "Mutter, was soll ich denn zum Lehrer sagen?" "Sage nur gleich: es tut mir leid," rief sie ihm nach. So rannte er die Fruehlingsstrasse hinunter und rief in seiner Angst immer laut vor sich hin: "Es tut mir leid." Die Voruebergehenden sahen ihm mitleidig laechelnd nach--es war leicht zu erraten, was dem kleinen Schulbuben leid tat, denn es schlug schon halb drei Uhr, als er um die Ecke der Fruehlingsstrasse bog. Herr Pfaeffling nahm die Harmonika und besah sie genauer, ehe er sie in seinen Schrank schloss. "Redlich abgenuetzt ist sie," sagte er sich, "sie wird bald den Dienst versagen und den kleinen Spieler nimmer in Versuchung fuehren. Es hat wohl auch keinen Tag gegeben in den letzten zwei Jahren, an dem er sie nicht benuetzt hat. Er ist ein kleiner Kuenstler auf dem Instrument, aber er weiss es nicht und das ist gut und von den Geschwistern hoert er auch keine Schmeicheleien, sie aergern sich ja nur ueber den kleinen Virtuosen. Ich wollte, ich haette auch nur _einen_ Schueler, der so begabt waere wie Frieder! Aber dass er seine Schule ueber der Musik versaeumt oder ganz vergisst wie heute, das ist doch ein starkes Stueck am ersten Schultag, das geht doch nicht an," und nun wurde die Harmonika eingeschlossen. War Frieder als letzter in die Schule gekommen, so kam er auch als letzter heraus. Die Geschwister daheim hoerten von der kleinen Schwester, was vorgefallen war, und berieten, wie es ihm in der Schule ergangen sein mochte. Sie hatten viel Erfahrungen bei allerlei Lehrern gesammelt, und die Wahrscheinlichkeit sprach ihnen dafuer, dass es glimpflich abgehen wuerde. Aber Frieder hatte einen neuen Lehrer, den kannte man noch nicht und die neuen waren oft scharf. Als nun endlich der Juengste heimkam und ins Zimmer trat, wo sie alle beisammen waren, sahen sie ihn begierig, zum Teil auch ein wenig spoettisch an. Aber das Spoettische verging ihnen bald beim Anblick des kleinen Mannes. Er sah so klaeglich verweint aus! Keine Frage, der Lehrer war scharf gewesen. Zuerst wollte Frieder nicht recht herausruecken mit der Sprache, denn der Vater war auch im Zimmer und das war in Erinnerung an sein zuernendes Gesicht und die weggenommene Harmonika nicht aufmunternd fuer Frieder. Aber Herr Pfaeffling ging ans Fenster, trommelte einen Marsch auf den Scheiben und achtete offenbar nicht auf die Kinder. Da hatte Marie bald alles aus dem kleinen Bruder herausgefragt, denn sie hatte immer etwas Muetterliches gegen die Kleinen, auch der Mutter Stimme. So erzaehlte denn Frieder, dass der Lehrer ihm zuerst nur gewinkt haette, sich auf seinen Platz zu setzen, aber nach der Schule hatte Frieder vorkommen muessen, ja und dann--dann stockte der Bericht. Aber die Geschwister kannten sich aus, sie nahmen seine Haende in Augenschein, die waren auf der Innenseite rot und dick. "Wieviel?" fragte Marie. "Zwei." "Das geht noch an," meinte Karl, der grosse. "Es kommt darauf an, ob's gesalzene waren," und nun erzaehlte Wilhelm, der zweite: "Bei uns hat einer auch einmal die Schule vergessen, dann hat er zum Lehrer gesagt, er habe Nasenbluten bekommen und so ist er ohne alles durchgeschlupft, der war schlau!" Da hoerte auf einmal das Trommeln an den Fensterscheiben auf, der Vater wandte sich um und sagte: "Der war ein Luegner und das ist der Frieder nicht. Geh her, du kleines Dummerle du, wenn dir der Lehrer selbst deinen Denkzettel gegeben hat, dann brauchst du von mir keinen, du bekommst deine Harmonika wieder, aber--" Die gute Lehre, die dem kleinen Schulknaben zugedacht war, unterblieb, denn in diesem Augenblick kam durchs Nebenzimmer Frau Pfaeffling und sagte eilfertig: "Kinder, warum macht ihr nicht auf? Ich habe hinten im Buegelzimmer das Klingeln gehoert und ihr seid vornen und achtet nicht darauf!" Schuldbewusst liefen die der Tuere am naechsten Stehenden hinaus und riefen bald darauf den Vater ab, in freudiger Erregung verkuendend: "Es handelt sich um Stunden! Eine vornehme Dame mit einem Fraeulein ist da!" "Und ihr habt sie zweimal klingeln lassen! Wenn sie nun fortgegangen waeren!" sagte die Mutter vorwurfsvoll. "Manchmal ist's recht unbequem, dass Walburg taub ist," meinte Anne und Else fuegte altklug hinzu: "Es gibt Dienstmaedchen, die hoeren ganz gut, die hoeren sogar das Klingeln, wenn wir so eine haetten!" "Seid ihr ganz zufrieden, dass wir unsere Walburg haben," entgegnete Frau Pfaeffling, "wenn sie nicht bei uns bleiben wollte, koennten wir gar keine nehmen, sie tut's um den halben Lohn. Und _wieviel_ tut sie uns! Es ist traurig, zu denken: weil sie ein solches Gebrechen hat, muss sie sich mit halbem Lohn begnuegen. Wenn ich koennte, wuerde ich ihr den doppelten geben." Unvermutet ging die Tuere auf und die, von der man gesprochen hatte, trat ein. Unwillkuerlich sahen alle Kinder sie aufmerksamer an als sonst, sie bemerkte es aber nicht, denn sie blickte auf das grosse Brett voll geputzter Bestecke und Tassen, das sie aus der Kueche hereintrug. Walburg war eine ungewoehnlich grosse, kraeftige Gestalt und ihr Gesicht hatte einen guten, vertrauenerweckenden Ausdruck. Vor ein paar Jahren war sie aus einem Dienst entlassen worden wegen ihrer zunehmenden Schwerhoerigkeit, die nun fast Taubheit zu nennen war. Als niemand sie dingen wollte, war sie froh, bei kleinem Lohn in der Familie Pfaeffling ein Unterkommen zu finden. Seitdem sie nicht mehr das Reden der Menschen hoerte, hatte sie selbst sich das Sprechen fast abgewoehnt. So tat sie stumm, aber gewissenhaft ihre Arbeit, und niemand wusste viel von dem, was in ihr vorging und ob sie schwer trug an ihrem Gebrechen. Durch der Mutter Worte war aber die Teilnahme der jungen Pfaefflinge wach geworden und mit dem Wunsch, freundlich gegen sie zu sein, griff Marie nach den Bestecken, um sie einzuraeumen; die andern bekamen auch Lust zu helfen, und im Nu war das Brett leer und Walburg sehr erstaunt ueber die ungewohnte Hilfsbereitschaft. "Freundlichkeit ist auch ein Lohn," sagte Frau Pfaeffling, "wenn ihr den alle sieben an Walburg bezahlt, dann--" "Dann wird sie kolossal reich," vollendete Karl. Unser Musiklehrer kam vergnuegt aus seinem Eckzimmer hervor: "Ein guter Anfang des Schuljahrs," sagte er. "Die Dame hat mir ihre Tochter als Schuelerin angetragen. Zwei Stunden woechentlich in unserem Haus. Das Fraeulein mag etwa 17 Jahre alt sein und kommt mir allerdings vor, als sei es noch ein dummes Gaenschen, aber ein freundliches, es lacht immer, wenn nichts zu lachen ist, und kam in Verlegenheit, als die Frau Mama nach dem Preis fragte mit der Bemerkung, sie zahle immer voraus. Sie zog auch gleich ein hochfeines Portemonnaie und zaehlte das Geld auf den Tisch. 'Wenn es auch nur eine Bagatelle ist,' sagte die Dame, 'so bringt man doch die Sache gerne gleich in Ordnung.' Darauf empfahl sie sich, das Fraeulein knixte und lachte und morgen wird die erste Stunde sein. Da ist das Geld, wirst's noetig haben," schloss Herr Pfaeffling seinen Bericht und reichte seiner Frau das Geld hin. Die Kinder drueckten sich an die Fenster, sahen hinunter und bewunderten die Dame, die mit ihrem seidenen Kleid durch die Fruehlingsstrasse rauschte, begleitet von der Tochter, die mehr noch ein Kind als ein Fraeulein zu sein schien. "Hat je eines von euch schon diesen Namen gehoert?" fragte Herr Pfaeffling und hielt ihnen die Visitenkarte der Dame hin. Sie schuettelten alle verneinend, der Name war ganz schwierig herauszubuchstabieren, er lautete: _Frau Privatiere Vernagelding_. 2. Kapitel Herr Direktor? November! Du duesterer, nebeliger, nasskalter Monat, wer kann dich leiden? Ich glaube, unter allen zwoelfen hast du die wenigsten Freunde. Du machst den Herbstfreuden ein Ende und bringst doch die Winterfreuden noch nicht. Aber zu etwas bist du doch gut, zur ernsten, regelmaessigen Arbeit. Was wurde allein in der Familie Pfaeffling gearbeitet an dem grossen Tisch unter der Haengelampe, die schon um 5 Uhr brannte! Von den vier Bruedern schrieb der eine griechisch, der andere lateinisch, der dritte franzoesisch, der vierte deutsch. Der eine stierte in die Luft und suchte nach geistreichen Gedanken fuer den Aufsatz, der andere blaetterte im Lexikon, der dritte murmelte Reihen von Zeitwoertern, der vierte kritzelte Rechnungen auf seine Tafel. Dazwischen wurde auch einmal geplaudert und gefragt, gestossen und aufbegehrt, auch gehustet und gepustet, wie's der November mit sich bringt. Die Mutter sass mit dem Flickkorb oben am Tisch, neben sich Elschen, die sich still beschaeftigen sollte, was aber nicht immer gelang. Marie und Anne, die Zwillingsschwestern, sassen selten dabei. Sie hatten ein Schlafzimmer fuer sich, und in diesem ihrem kleinen Reich konnten sie ungestoert ihre Aufgaben machen. Zwar war es ein kaltes Reich, denn der Ofen, der darin stand, wurde nie geheizt, aber die Schwestern wussten sich zu helfen. Sie lernten am liebsten aus einem Buch, dabei rueckten sie ihre Stuehle dicht zusammen, wickelten einen grossen alten Schal um sich und waermten sich aneinander. Nur mit der Beleuchtung hatte es seine Schwierigkeit. Eine eigene Lampe wurde nicht gestattet, es waere ihnen auch nicht in den Sinn gekommen, einen solchen Anspruch zu machen. Aber im Vorplatz auf dem Schraenkchen stand eine Ganglampe. Sie musste immer brennen wegen der Stundenschueler, die den langen Gang hinunter gehen mussten bis zu dem Eckzimmer, in dem Herr Pfaeffling seine Stunden gab. Hatte aber ein Schueler den Weg gefunden und hinter sich die Tuere des Musikzimmers geschlossen, so konnten die Maedchen wohl auf eine Stunde die Ganglampe rauben. Dann war es freilich stockfinster im Vorplatz und manchmal stolperte eines der Geschwister, wenn es ueber den Gang ging und begehrte ein wenig auf, aber das nahmen die Schwestern kuehl. Schlimmer war's, wenn sie etwa ueberhoerten, dass die Musikstunde vorbei war und die Schueler im Finstern tappen mussten. Dann erschraken sie sehr, stuerzten eilig hinaus, um zum Schluss noch zu leuchten, entschuldigten sich und waren froh, wenn der Vater es nicht bemerkt hatte. Am 1. November ging die Sache nicht so gut ab. Fraeulein Vernagelding hatte Stunde, die Ganglampe war weg. Aus der Ferne hoerten die Maedchen das Spiel. Jetzt wurde es still, rasch gingen sie hinaus mit der Lampe. Aber die Stunde war noch nicht aus, sie lauschten und hoerten den Vater noch sprechen: "das ist doch nicht e, wie heisst denn diese Note?" "Sie sind noch nicht fertig," sagten sich die Schwestern und gingen wieder an ihre Arbeit. Aber Herr Pfaeffling sagte nur noch etwas rasch zu seiner Schuelerin: "Ich glaube, es ist genug fuer heute, besinnen Sie sich daheim, wie diese Note heisst," und gleich darauf kam Fraeulein Vernagelding heraus und stand in dem stockfinsteren Gang. Jede andere haette ihren Rueckweg im Dunkeln gesucht, aber das Fraeulein gehoerte nicht zu den tapfersten, sie kehrte um, klopfte noch einmal am Eckzimmer an und sagte mit ihrem gewohnten Lachen: "Ach bitte, Herr Pfaeffling, mir graut so vor dem langen dunkeln Gang, wuerden Sie nicht Licht machen?" Da entschuldigte sich der Musiklehrer und leuchtete seiner aengstlichen Schuelerin, aber gleichzeitig rief er gewaltig: "Marianne!" und die Schwestern mit der Lampe kamen erschrocken herbei. Sie wurden noch in Gegenwart von Fraeulein Vernagelding gezankt, so dass dieser ganz das Lachen verging und sie so schnell wie moeglich durch die Treppentuere verschwand. Das Arbeiten im eigenen Zimmer musste also mit mancher Aufregung erkauft werden, aber sie mochten doch nicht davon lassen. So lernten denn die jungen Pfaefflinge an den langen Winterabenden, der eine mehr, der andere weniger, im ganzen hielten sie sich alle wacker in der Schule, machten ihre Aufgaben ohne Nachhilfe und brachten nicht eben schlechte Zeugnisse nach Hause. An einem solchen Novemberabend war es, dass Herr Pfaeffling in das Zimmer trat und seiner Frau zurief: "Caecilie, komme doch einen Augenblick zu mir herueber, aber bitte gleich!" und er hatte kaum hinter ihr die Tuere zugemacht, als er ihr leise sagte: "Ein hochinteressanter Brief!" Sie folgte ihm ueber den Gang, dieser war wieder stockfinster, aber sie beachteten es nicht. Im Musikzimmer, wo die Klavierlampe brannte, lag auf den Tasten ein Brief. Lebhaft reichte er ihn seiner Frau: "Lies, lies nur!" und als er sah, dass sie mit der fremden Handschrift fuer seine Ungeduld nicht schnell genug vorwaerts kam, sprach er: "Die erste Seite ist nebensaechlich, die Hauptsache ist eben: Kraussold aus Marstadt schreibt, es solle dort eine Musikschule gegruendet werden, und er wolle mich, wenn ich Lust haette, als Direktor vorschlagen. Ob ich Lust haette, Caecilie, wie kann man nur so fragen! Ob ich Lust haette, in einer groesseren aufbluehenden Stadt eine Musikschule zu gruenden, alles nach meinen Ideen einzurichten, ein mit festem Gehalt angestellter Direktor zu werden, anstatt mich mit Vernagelding und aehnlichen zu plagen; Caecilie, hast du Lust, Frau Direktor zu werden?" Da wiederholte sie mit froehlichem Lachen seine eigenen Worte: "Ob ich Lust haette? Wie kann man nur so fragen!" Und nun setzten sie sich zusammen auf das kleine altmodische Kanapee und besprachen die Zukunftsaussicht, die sich so ganz unvermutet eroeffnete. Und sprachen so lang, bis Elschen heruebergesprungen kam und rief: "Walburg hat das Abendessen hereingebracht und nun werden die Kartoffeln kalt!" "Eine ganz pflichtvergessene Hausfrau," sagte Herr Pfaeffling neckend, folgte Mutter und Toechterchen und war den ganzen Abend voll Froehlichkeit, ging singend oder pfeifend im Familienzimmer hin und her, und die glueckliche Stimmung teilte sich allen mit, obwohl nach stiller Uebereinkunft die Eltern zunaechst vor den Kindern noch nichts von dem unsicheren Zukunftsplan erwaehnten. Herr Kraussold aus Marstadt, der durch seinen Brief so freudige Aufregung hervorgebracht hatte, war Herrn Pfaeffling aus frueheren Jahren gut bekannt, doch hatte er die Familie Pfaeffling noch nie besucht. Bei diesem Anlass nun kuendigte er sich zur Vorbesprechung der Angelegenheit auf den naechsten Mittwoch an. Zeitig am Nachmittag wollte er eintreffen und mit dem fuenf Uhr Zug wieder abreisen. Herr Pfaeffling war in einiger Aufregung wegen des Gastes. "Er ist ein etwas verwoehnter Herr," sagte er zu seiner Frau, "ein Junggeselle, der nicht viel Sinn fuer Kinder hat, am wenigsten fuer sieben auf einmal. Sie sollten ganz in den Hintergrund treten." "Du wirst ihn wohl im Musikzimmer empfangen, dann stoeren die Kinder nicht," sagte Frau Pfaeffling. "Aber zum Tee moechte ich ihn herueber ins Esszimmer bringen. Die Kinder koennen ja irgendwo anders sein, dann richtest du fuer uns drei einen gemuetlichen Teetisch." Am Mittwoch wurde bei Tisch den Kindern mitgeteilt, dass sie an diesem Nachmittag moeglichst unhoerbar und unsichtbar sein sollten wegen des erwarteten Gastes. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, sagte der Vater zu den Kleinen: "Lasst euch nur nicht blicken, wer weiss, wie es euch sonst geht, wenn der Kinderfeind kommt!" Zunaechst mussten alle zusammen helfen, die schoenste Ordnung herzustellen, bis der Vater mit dem Fremden vom Bahnhof herein kaeme. Das Wetter war leidlich, sie wollten sich unten im Hof aufhalten. Am Fenster stand immer einer der Brueder als Posten und als nun der Vater in der Fruehlingsstrasse in Begleitung eines kurzen, dicken Herrn auftauchte, rannte die ganze junge Gesellschaft die Treppe hinunter und verschwand hinter dem Haus. Dort war der Boden tief durchweicht und mit dem zaeh an den Fusssohlen haftenden Lehm liess sich nicht gut auf den Balken klettern. Elschen fiel gleich beim ersten Versuch herunter und weinte klaeglich, denn sie sah uebel aus. Die Schwestern bemuehten sich, mit Wischen und Reiben ihr Kleid wieder zu saeubern. Da tat sich ein Fenster auf im unteren Stock und die Hausfrau rief: "Kinder, ihr macht das ja immer schlimmer, das kann ich gar nicht mit ansehen, kommt nur herein, ich will euch helfen. Es ist doch auch so kalt, geht lieber hinauf!" "Es ist ja der Kinderfeind droben!" rief Elschen klaeglich. "O weh!" sagte die Hausfrau mit freundlicher Teilnahme, "was tut auch ein Kinderfeind bei euch! Dann kommt nur zu mir, aber streift die Fuesse gut ab." Die Maedchen liessen sich's nicht zweimal sagen. Aber Frieder wusste nicht recht, ob er auch mit der Einladung gemeint sei. Er sah sich nach den Bruedern um, die waren hinter den Balken verschwunden. So wollte er doch lieber mit hinein zu der Hausfrau. Inzwischen waren aber auch die Schwestern weg und bis er ihnen nach ins Haus ging, hatten sie eben die Tuere hinter sich geschlossen. Anklingeln wollte er nicht extra fuer seine kleine Person. So hielt er sich wieder an seine treueste Freundin, die Ziehharmonika, und bestieg mit ihr den Thron, hoch oben auf den Brettern. Im neuen Schuljahr wurden neue Choraele eingeuebt, die wollte er auf seiner Harmonika herausbringen. Darein vertiefte er sich nun und hatte kein Verlangen mehr nach den Bruedern, obwohl er sie von seinem hohen Sitz ans gleich entdeckt hatte. Die drei standen an dem Zaun, der den Balkenplatz von dem Kasernenhof und Exerzierplatz trennte. Im Oktober waren neue Rekruten eingerueckt, die nun taeglich ihre Turnuebungen ganz nahe dem Zaune machten. Unter diesen Soldaten war ein guter Bekannter, ein frueherer Lehrling des Schreiners Hartwig, der zugleich ein Verwandter der Hausfrau war und bei ihr gewohnt hatte. Diesen nun in Uniform zu sehen, ihm beim Turnen und Exerzieren zuzuschauen, war von grossem Interesse. Er kam auch manchmal an den Zaun und plauderte freundschaftlich mit Karl. Aufmerksam sahen die jungen Pfaefflinge nach dem Turnplatz hinueber. Unter den Rekruten, die jetzt eben am Turnen waren und den Sprung ueber ein gespanntes Seil ueben sollten, waren drei, die sich gar ungeschickt dazu anstellten. Der eine zeigte wenigstens Eifer, er nahm immer wieder einen Anlauf, um ueber die Schnur zu kommen und wenn es ihm fuenfmal misslungen war, so kam er doch das sechste mal darueber und der Schweiss redlicher Anstrengung stand ihm auf der Stirne. Die beiden anderen Ungeschickten machten gleichgueltige, stoerrische Gesichter und traege Bewegungen. Als die Abteilung zur Kaserne zurueck kommandiert wurde, mussten sie nachexerzieren. Das war nun kein schoener Anblick. Dazu fing es an zu regnen, grosse waesserige Schneeflocken mischten sich darunter, und die kleinen Zuschauer entfernten sich im lebhaften Gespraech ueber die unbeholfenen Turner. So wollten sie sich einmal nicht anstellen. Sie wollten all diese Uebungen schon vorher machen, gleich morgen sollte da, zwischen den Balken, ein Sprungseil gespannt werden. Sie kamen an Frieder vorbei; der hatte auch bemerkt, dass Schnee und Regen herunter fielen und kletterte von seinem Brettersitze. Nun besprachen sich die Brueder ueber ihn. Er wuerde vielleicht auch einmal so ein Ungeschickter. Welche Schande, wenn ein Pfaeffling so schlecht auf dem Turnplatz bestuende. Es durfte nicht sein, dass er immer nur Harmonika spielte, sie wollten ihn auch springen lehren, er musste mittun, gleich morgen. Er sagte auch ja dazu, aber es war ihm ein wenig bedenklich und mit Recht: drei eifrige Unteroffiziere gegen _einen_ ungeschickten Rekruten! Als sie ans Haus kamen, fiel ihnen erst wieder der Gast ein, der droben die Gegend unsicher machte. War er vielleicht schon fort? Die Maedchen, die noch bei der Hausfrau waren, wurden gerufen und beschlossen, dass sie erkundigen sollten, wie es oben stuende. Marie wagte sich hinauf, erschien bald wieder an der Treppe und winkte den anderen, leise nachzukommen. Elschen folgte nur zaghaft den Geschwistern, sie stellte sich den Kinderfeind als eine Art Menschenfresser vor. "Er ist im Wohnzimmer," fluesterte Marie, "wir gehen in das Musikzimmer, da hoert man uns nicht." Auf den Zehen schlich sich die ganze Kindergesellschaft in das Eckzimmer. Dort fuehlten sie sich in Sicherheit. Nur war von allem, was sie gerne gehabt haetten, von Buechern und Heften oder Spielen hier nichts zu haben. So standen sie alle sieben herum, warteten und fingen an, in dem kuehlen Zimmer zu frieren, denn sie waren nass und durchkaeltet. "Wir wollen miteinander ringen, dass es uns warm wird," schlug Wilhelm vor und Otto ging darauf ein. Karl war auch dabei: "Ich nehme es mit der ganzen Marianne auf," rief er, "kommt, du Marie gegen meine rechte Hand, du Anne gegen meine linke, Frieder, Elschen, stellt die Stuehle aus dem Weg." Sie taten es und dann machten sie es den grossen Geschwistern nach. Das gab ein Gelaechter und Gekreisch und aber auch einen grossen Plumps, weil Otto und Wilhelm zu Boden fielen. In diesem Augenblick ging die Tuere auf; Herr Pfaeffling hatte ahnungslos seinen Besuch aufgefordert, das Klavier zu probieren und so traten sie miteinander ins Musikzimmer. Nein, auch fuer einen Kinderfreund waere dieser Knaeuel sich balgender Knaben und ringender Maedchen kein schoener Anblick gewesen, und nun erst fuer den Kinder_feind_! Er prallte ordentlich zurueck. Elschen schrie beim Anblick des gefuerchteten Fremden laut auf und ergriff eiligst durch den anderen Ausgang die Flucht, alle Geschwister ihr nach. Aber noch unter der Tuere besann sich Karl, kehrte zurueck, gruesste und sagte: "Entschuldige, Vater, wir wollten drueben nicht stoeren, deshalb sind wir alle hier gewesen," dann stellte er rasch die Stuehle an ihren Platz und rettete dadurch noch einigermassen die Ehre der Pfaefflinge, die sich wohl noch nie so unguenstig praesentiert hatten, wie eben diesem Fremden gegenueber. Eine kleine Weile darnach reiste der Gast ab, von Herrn Pfaeffling zur Bahn geleitet. Die Kinder nahmen wieder Besitz von dem grossen Tisch im Wohnzimmer und sassen bald in der gewohnten Weise an ihren Aufgaben, doch war ihnen allen bang, wie der Vater wohl die Sache aufgenommen habe und was er sagen wuerde bei seiner Rueckkehr von der Bahn; die Mutter war ja nicht dabei gewesen, sie konnte es nicht wissen. Nun kam der Vater heim. Eine merkwuerdige Stille herrschte im Zimmer, als er ueber die Schwelle trat. Er blieb einen Augenblick stehen und betrachtete das friedliche Familienbild. Dann sagte er: "Da sitzen sie nun wie Musterkinder ganz brav bei der Mutter, sanft wie unschuldige Laemmlein, nicht wieder zu erkennen die wilde Horde von drueben!" Bei diesem Scherzenden Ton wurde ihnen allen leicht ums Herz, sie lachten, sprangen dem Vater entgegen und Elschen fragte: "Ist der Herr weit weggereist, Vater, und bleibt der jetzt schoen da, wo er hin gehoert?" "Jawohl, du kannst beruhigt sein, er kommt nicht mehr. Und wenn er kaeme oder wenn ein anderer kommt," setzte Herr Pfaeffling hinzu, indem er sich an seine Frau wandte, "dann geben wir uns gar keine Muehe mehr, unser Hauswesen in stiller Vornehmheit zu zeigen und in kuenstliches Licht zu stellen, denn so ein kuenstliches Licht verloescht doch ploetzlich und dann ist die Dunkelheit um so groesser." Ein paar Stunden spaeter, als Elschen laengst schlief, die Schwestern Gute Nacht gesagt hatten und Frieder mit Wilhelm und Otto im sogenannten Bubenzimmer ihre Betten aufsuchten, sass Karl noch allein mit den Eltern am Tisch. Seit seinem fuenfzehnten Geburtstag hatte er dies Vorrecht. Es wurde allmaehlich still im Haus. Auch Walburg hatte Gute Nacht gewuenscht; manchmal lag kein anderes Wort zwischen ihrem "Guten Morgen" und "Gute Nacht". Die drei, die nun noch am Tische sassen, waren ganz schweigsam und bewegten doch ungefaehr denselben Gedanken. Herr Pfaeffling dachte: Wenn nur Karl auch zu Bett ginge, dass ich mit meiner Frau von Marstadt reden koennte. Die Kinder sollen ja noch nichts davon wissen. Er zog seine Taschenuhr--es war noch nicht spaet. Dann ging er auf und ab, sah wieder nach der Uhr und wurde immer ruheloser. Frau Pfaeffling dachte: Meinem Mann ist es laestig, dass wir nicht allein sind, aber er moechte Karl doch nicht so frueh zu Bett schicken. Nein, diese Unruhe! Und dagegen die Ruhe, mit der Karl in sein Buch schaut und nicht ahnt, dass er stoert. Darin taeuschte sich aber Frau Pfaeffling, denn Karl dachte: Der Vater schweigt und die Mutter schweigt. Wenn ich zur Tuere hinausginge, wuerden sie reden, ueber Herrn Kraussold aus Marstadt, denn mit diesem hat es eine besondere Bewandtnis. Nun zieht der Vater zum drittenmal in fuenf Minuten seine Uhr. Er moechte mich fort haben und doch nicht fortschicken. Und die Mutter auch. Da ist's wohl angezeigt, dass ich freiwillig gehe. Er klappte das Buch zu, stand auf und sagte: "Gute Nacht, Vater, gute Nacht, Mutter, ich will jetzt auch gehen." "Gute Nacht, Karl." Sie waren ueberrascht, dass er so bald aufbrach. "Es ist Zufall," sagte Herr Pfaeffling. "Oder hat er gemerkt, dass er uns stoert," meinte die Mutter. "Woran sollte er das gemerkt haben? Wir haben nichts gesagt und er hat gelesen." "Dir kann man so etwas schon anmerken," erwiderte Frau Pfaeffling laechelnd. "Das muss ich noch erfahren," sagte Herr Pfaeffling lebhaft und rief seinen Jungen noch einmal zurueck: "Sage offen, warum du so bald zu Bett gehst?" Einen Augenblick zoegerte Karl, dann erwiderte er schelmisch: "Weil du dreimal auf deine Uhr gesehen hast, Vater." "Also doch? So geh du immerhin zu Bett, Karl, es ist nett von dir, dass du Takt hast--uebrigens, wenn du Takt hast, dann kannst du ebensogut hier bleiben, dann wirst du auch nicht taktlos ausplaudern, was wir besprechen." "Das meine ich auch," sagte Frau Pfaeffling, "er wird nun bald sechzehn Jahre. Komm, Grosser, setze dich noch einmal zu uns." Dem Sohn wurde ganz eigen zumute. Mit einemmal fuehlte er sich wie ein Freund zu Vater und Mutter herbeigezogen, und in dieser Abendstunde erfuhr er, was seine Eltern gegenwaertig freudig bewegte. Als er sich aber eine Stunde spaeter leise neben seine Brueder zu Bette legte, da besann er sich, ob irgend etwas auf der Welt ihn bewegen koennte, das Vertrauen der Eltern zu taeuschen, und er fuehlte, dass keine Lockung noch Drohung stark genug waere, ihm das anvertraute Geheimnis zu entreissen. In aller Stille reiste am folgenden Sonntag unser Musiklehrer nach Marstadt, um sich dort den Herren vorzustellen, die ueber die Ernennung des Direktors fuer die neu zu gruendende Musikschule zu entscheiden hatten. Es kam noch ein anderer, juengerer Mann aus Marstadt fuer die Stelle in Betracht, und nun musste sich's zeigen, ob Herr Pfaeffling wirklich, wie sein Freund Kraussold meinte, die besseren Aussichten habe. Unterwegs nach der ihm unbekannten Stadt wurde Herr Pfaeffling immer kleinmuetiger. Warum sollten sie denn ihn, den Fremdling, waehlen, statt dem Einheimischen? Sie konnten ja gar nicht wissen, wie eifrig er sich seinem neuen Beruf widmen wollte und wie ihm dabei all seine seitherigen Erfahrungen an der Musikschule zustatten kommen wuerden! In Marstadt angekommen, machte er Besuche bei den Herren, die sein Freund Kraussold ihm nannte. War er bei dem ersten noch verzagt, so wuchs seine Zuversicht bei jedem weiteren Besuch, denn wie aus _einem_ Munde lautete das Urteil ueber seinen Mitbewerber: "Zu jung, viel zu jung zum Direktor" Und einmal, als er in Begleitung seines Freundes ueber die Strasse ging, sah er selbst den Juengling, der sein Mitbewerber war, und von da an war er beruhigt; das war noch kein Mann fuer solch eine Stelle, der sollte nur noch zehn Jahre warten! In froher Zuversicht konnte unser Musiklehrer die Heimreise antreten. Am Bahnhof von Marstadt bot ein Maedchen Blumen an. In seiner hoffnungsfreudigen Stimmung gestattete er sich einen bei ihm ganz unerhoerten Luxus: Er kaufte eine Rose. Sein Freund Kraussold sah ihn gross an: "Zu was brauchst _du_ so etwas?" "Fuer die zukuenftige Frau Direktor," antwortete Herr Pfaeffling froehlich, und als sein Freund noch immer verwundert schien, setzte er ernst hinzu: "Weisst du, sie hat es schon manchmal recht schwer gehabt in unseren knappen Verhaeltnissen." Sie verabschiedeten sich und Kraussold versprach, am naechsten Donnerstag gleich nach Schluss der Sitzung ihm den Entscheid ueber die Besetzung der Stelle zu telegraphieren. Als bei seiner Heimkehr Herr Pfaeffling seiner Frau die Rose reichte, wusste sie alles, auch ohne Worte: seine glueckselige siegesgewisse Stimmung, seine Freude, dass er auch ihr ein schoeneres Los bieten konnte, das alles erkannte sie an der unerhoert verschwenderischen Gabe einer Rose im November! Die Sache blieb nicht laenger Geheimnis. Herr Pfaeffling besprach sie mit seinem Direktor, in der Zeitung kam eine Notiz aus Marstadt ueber die geplante Musikschule und die zwei Bewerber um die Direktorstelle. Auch die Kinder hoerten nun davon, die Hausleute erfuhren es und Walburg wurde es ins Ohr gerufen. Je naeher der Donnerstag kam, um so mehr wuchs die Spannung auf den Entscheid. Am Vorabend lief noch ein Brief von Kraussold ein, der keinen Zweifel mehr darueber liess, dass Pfaeffling einstimmig gewaehlt wuerde. Gegen Mittag konnte das Telegramm einlaufen. Es war noch nicht da, als Herr Pfaeffling aus der Musikschule heimkam. So setzten sie sich alle zu Tisch wie gewoehnlich, aber die Kinder stritten sich darum, wer aufmachen duerfte, wenn der Telegraphenbote klingeln wuerde. Die Mutter hatte das aufmerksame Ohr einer Hausfrau, sie legte den Loeffel aus der Hand und sagte: "Er kommt." Einen Augenblick spaeter klingelte es, und von den dreien, die hinaus gerannt waren, brachte Wilhelm das Telegramm dem Vater, der rasch den Umschlag zerriss. Es war ein langes, ein bedenklich langes Telegramm. Es besagte, dass noch in der letzten Stunde der Beschluss, im naechsten Jahre schon eine Musikschule zu gruenden, umgestossen worden sei und man eines guenstigen Bauplatzes wegen noch ein paar Jahre warten wolle! Herrn Pfaeffling war zumute, wie wenn man ihm den Boden unter den Fuessen weggezogen haette, als er las, dass die ganze Musikschule, die er dirigieren wollte, wie ein Luftschloss zusammenbrach. O, diese traurige Tischgesellschaft! Wie bestuerzt sahen die Eltern aus, wie starrten die Buben das unheilvolle Telegramm an, wie flossen den Maedchen die Traenen aus den Augen, wie schaute Elschen so ratlos von einem zum andern, weil sie gar nichts von dem allen verstand! Frieder, der neben der Mutter sass, wandte sich halblaut an sie: "Es waere viel freundlicher gewesen, wenn sie das mit der Musikschule schon vorher ausgemacht haetten, und das mit dem Vater erst nachher." "O Frieder," rief der Vater und fuhr so lebhaft vom Stuhl auf, dass alle erschraken, "wenn die Marstadter nur so klug waeren wie du, aber die sind so--ich will gar nicht sagen wie, das _kann_ man ueberhaupt gar nicht sagen, dafuer gibt es keinen Ausdruck!" Frau Pfaeffling nahm das Telegramm noch einmal zur Hand: "Ein paar Jahre wollen sie warten," sagte sie, "vielleicht nur zwei Jahre, dann waere es ja nicht so sehr ferne gerueckt!" "Es koennen auch fuenf daraus werden und zehn," entgegnete Herr Pfaeffling, "inzwischen kommen die, die jetzt noch zu jung waren, ins richtige Alter und ich komme darueber hinaus. Nein, nein, da ist nichts mehr zu hoffen, Direktor bin ich _gewesen_." Mit diesen Worten verliess er das Zimmer, und man hoerte ihn ueber den Gang in das Musikzimmer gehen. Die Kinder assen, was auf ihren Tellern fast erkaltet war. "Ich wollte, Herr Kraussold waere gar nie in unser Haus gekommen!" sagte Anne. Da stimmten alle ein und der ganze Zorn entlud sich ueber ihn, bis die Mutter wehrte: "Herr Kraussold hat es nur gut gemeint. Ihr Kinder habt ueberdies allen Grund, froh zu sein, dass wir hier bleiben. Ihr bekommt es nirgends mehr so gut wie hier aussen in der Fruehlingsstrasse. Fuer euch waere es kein Gewinn gewesen." "Aber fuer den Vater und fuer dich," sagte Karl, und er dachte an den schoenen Abend, an dem die Eltern ihm die frohe Zukunftsaussicht anvertraut hatten. "Ja," sagte die Mutter, "aber der Vater und ich kommen darueber weg. In der ersten Viertelstunde ist man wohl betroffen, aber dann stemmt man sich gegen das Ungemach und sagt sich: dies gehoert auch zu den Dingen, die uns zum besten dienen muessen, wie alles, was Gott schickt, und dann besinnt man sich: wie muss ich's anpacken, damit es mir zum besten dient?" Die Mutter versank in Gedanken. "Seid ihr satt, Kinder?" fragte sie nach einer kleinen Weile. "Dann deckt den Tisch ab, ich will ein wenig zum Vater hinuebergehen. Nehmt auch die Rose mit hinaus, die Blaetter fallen ab." Im Eckzimmer wanderte Herr Pfaeffling auf und ab und wartete auf seine Frau, denn er wusste ganz gewiss, dass sie zu ihm kommen wuerde. Sie hatten schon manches Schwere miteinander getragen, und nun musste auch diese Enttaeuschung gemeinsam durchgekaempft werden. Als Frau Pfaeffling eintrat, hatte ihr Mann ein Blatt Papier in der Hand und reichte es ihr mit schmerzlichem Laecheln: "Da sieh, gestern abend war ich so zuversichtlich, da habe ich fuer dich ein kleines Lied komponiert, das wollte ich dir heute abend mit der Guitarre singen. Die Kinder haetten im Chor den Schlussreim mitsingen duerfen, auf den jeder Vers ausgeht: "'Drum rufen wir mit frohem Sinn: Es lebe die Direktorin!' "Nun muss es heissen: "'Schlag dir die Ehre aus dem Sinn Du wirst niemals Direktorin.'" "Nein, nein," wehrte Frau Pfaeffling, "du musst es anders umaendern, es muss ausgedrueckt sein, dass wir trotz allem einen frohen Sinn behalten." "Fuer den Gedanken finde ich jetzt noch keinen Reim," sagte er truebselig, "ich brauche auch keinen, mit dem Lied kannst du Feuer machen." Sie sprachen noch lange von der grossen Enttaeuschung, und dann kamen sie auf den beginnenden Winter zu sprechen, fuer den noch nicht so viel Stunden angesagt waren als noetig erschien, um gut durchzukommen. So erschien ihnen die Zukunft grau wie der heutige Novemberhimmel. Inzwischen war wohl eine halbe Stunde vergangen. Da fragte vor der Tuere eine Kinderstimme: "Duerfen wir herein?" "Was wollt ihr denn?" rief dagegen, wenig ermutigend, der Vater. Unter der Tuere erschienen die drei Schwestern; voran die Kleine mit strahlendem Ausdruck, dann Marie und Anne. Sie trugen zwei Tassen, Kaffee- und Milchkanne und stellten das alles vorsichtig auf den Tisch. Die zwei Grossen sahen zaghaft aus, wussten nicht recht, wie die Ueberraschung wohl aufgenommen wuerde. "Was faellt euch denn ein, Kinder?" fragte die Mutter. Marie antwortete, aber ihre Stimme zitterte und die Traenen wollten kommen: "Wir haben auf heute einen Kaffee gemacht, weil ihr fast nichts gegessen habt!" und Anne fluesterte der Mutter zu: "Von unserem Geld, du darfst nicht zanken." Schnell gingen sie wieder hinaus und hoerten eben unter der Tuere, wie die Mutter freundlich sagte: "Dann kann ich freilich nicht zanken," so war also die Ueberraschung gut aufgenommen worden. Solch ein Kaffee nach Tisch war eine Liebhaberei von Herrn Pfaeffling, die er sich nur an Festtagen gestattete. So kam es ihm auch wunderlich vor, sich gerade heute mit seiner Frau an den Kaffeetisch zu setzen, er war sich keiner festtaeglichen Stimmung bewusst! Aber man musste es doch schon den Kindern zuliebe tun, sicher wuerde Marie, das Hausmuetterchen, gleich nachher visitieren, ob auch die Kannen geleert seien. Diesem festtaeglichen Kaffee gegenueber wich die graue Novemberstimmung unwillkuerlich, und bei der zweiten Tasse sagte unser Musiklehrer zu seiner Frau: "Man muesste eben den Schlussreim so veraendern: "'Direktor her, Direktor hin, Wir haben dennoch frohen Sinn.'" Der letzte Schluck Kaffee war noch nicht genommen, da klingelte es. Frau Pfaeffling horchte und rief erschrocken: "Kann das Fraeulein Vernagelding sein?" "Donnerstag? Freilich, das ist ihr Tag. O, die unglueckselige Stunde, die hatte ich total vergessen, muss die auch gerade heute sein! Wenn ich die jetzt vertrage, Caecilie, dann bewundere ich mich selber. Du glaubst nicht, wie unmusikalisch das Fraeulein ist!" Frau Pfaeffling hatte das Kaffeegeschirr rasch auf das Brett gestellt und war laengst damit verschwunden, bis Fraeulein Vernagelding im Vorplatz am Kleiderhalter und Spiegel Toilette gemacht und ihre niedlichen Loeckchen zurechtgesteckt hatte. Herr Pfaeffling nahm sich gewaltig zusammen, als diese unbegabteste aller Schuelerinnen sich neben ihn ans Klavier setzte und mit holdem Laecheln sagte: "Heute duerfen Sie es nicht so streng mit mir nehmen, Herr Pfaeffling, ich konnte nicht so viel ueben, denken Sie, ich war gestern auf meinem ersten Ball. Es war ganz reizend. Ich war in Rosa." "Freut mich, freut mich," sagte Herr Pfaeffling und trippelte bereits etwas nervoes mit seinem rechten Fuss. "Aber jetzt wollen wir gar nicht mehr an den Ball denken, sondern bloss an unsere Tonleiter. G-dur. Nicht immer wieder f nehmen statt fis, das lautet greulich fuer mich. Schon wieder f! Wieder f! Aber Sie nehmen ja jedesmal f, Sie denken wieder an den gestrigen Ball!" "Nein, Herr Pfaeffling," entgegnete sie und sah ihn strahlend an, "ich denke ja an den morgigen Ball, was sagen Sie dazu, dass ich morgen schon wieder tanze! Diesmal in Meergruen. Ist das nicht suess?" Herr Pfaeffling sprang vom Stuhl auf. "Suess, ja suess!" wiederholte er, "aber zwischen zwei Baellen Sie mit der G-dur Tonleiter zu plagen, das waere grausam, vielleicht auch gegen mich. Da gehen Sie lieber heim fuer heute." "Ja, darf ich?" sagte sie aufstehend, und die hoffnungsvolle Schuelerin empfahl sich mit dankbarem Laecheln und Knix. Als Frau Pfaeffling durch den Vorplatz ging, sah sie mit Staunen, dass Fraeulein Vernagelding schon wieder am Spiegel stand. Sie hatte diesmal entschieden mehr Zeit am Spiegel als am Klavier verbracht. Herr Pfaeffling erzaehlte, dass ihm die Geduld ausgegangen sei, er glaube aber nicht, dass es das Fraeulein uebelgenommen habe. "Aber Frau Privatiere Vernagelding wird um so mehr gekraenkt sein," sagte Frau Pfaeffling besorgt. Unnoetige Sorge! Als das tanzlustige Fraeulein daheim von der abgekuerzten Stunde berichtete, sagte die Mutter: "Dies ist ein einsichtsvoller Herr. Er goennt doch auch der Jugend ihr unschuldiges Vergnuegen. Wir muessen ihm gelegentlich ein Praesent machen, Agathe." 3. Kapitel Der Leonidenschwarm. Samstag nachmittag war's und eifrige Taetigkeit in Haus und Hof. Frau Pfaeffling und Walburg hatten viel zu putzen und zu ordnen und auf die Hilfe von Marie und Anne wurde dabei schon ganz ernstlich gerechnet. Ob sie gerne das Geschirr in der Kueche abtrockneten und mit Vorliebe den Staub wischten, ob sie mit Lust die Leuchter putzten und mit Freuden die Lampen, das wusste niemand, aber das wussten alle, dass diese Arbeiten geschehen mussten und Walburg nicht mit allem allein fertig werden konnte. Die Brueder hatten auch fuer etwas einzustehen im Haus: Sie mussten sorgen, dass in der Holzkammer stets fein gespaltenes Holz vorraetig war. Das hatten sie aber heute schon besorgt und nun waren sie in froehlicher Taetigkeit auf dem Balkenplatz. Der Schreinersgeselle, Remboldt, der als Soldat diente und durch den Zaun die Freundschaft mit den jungen Pfaefflings pflegte, hatte gesehen, wie sie sich muehsam ein Sprungseil zu spannen versuchten und nicht zurecht damit kamen. Darauf hatte er ihnen versprochen, ihnen zu helfen, sobald er frei habe, und nun war er heruebergekommen. Mit seiner Hilfe ging die Sache anders vonstatten. Zwei Pfaehle wurden eingerammelt, an denen sich das Seil in verschiedener Hoehe spannen liess, ganz wie drueben auf dem Militaerturnplatz, nur dass auf kleinere Turner gerechnet werden musste. Frieder wurde herbeigeholt. Er war fuer einen Achtjaehrigen noch ein kleiner Kerl und nicht so gewandt wie seine leichtfuessigen Brueder. Es zeigte sich, dass man das Seil noch viel naeher am Boden spannen musste, und als er seine ersten Sprungversuche machte und fest auf das Seil, anstatt darueber sprang, lachten sie alle und nannten ihn, wie in seinen frueheren Kinderjahren, das kleine Dummerle. Er nahm das aber nicht uebel, um so weniger als Remboldt, der inzwischen Frieders Harmonika genommen und umsonst probiert hatte, etwas Wohlklingendes herauszulocken, bewundernd sagte: "Wie der Kleine nur so umgehen kann mit dem grossen Instrument, gestern haben ihm viele Soldaten zugehoert, da hat's geklungen wie das Lied: 'Wachet auf, ruft uns die Stimme'." "Ja, das war's," sagte Frieder, "das lernen wir jetzt in der Schule." "Was sagt denn dein Lehrer dazu, wenn du die Lieder so spielen kannst?" "Ich nehme doch die Harmonika nicht mit in die Schule!" sagte Frieder ganz erstaunt. "Nimm sie doch einmal mit," entgegnete Remboldt, "da wirst du sehen, wie der Lehrer Respekt vor dir bekommt und alle deine Mitschueler." Frieder machte grosse Augen. Daheim war eigentlich immer nur eine Stimme des Aergers ueber sein Spiel, und nun meinte Remboldt, er sollte seine Harmonika absichtlich dahin mitnehmen, wo recht viele sie hoeren wuerden? Zweifelnd sah er auf seine alte, treue Begleiterin. Bisher hatten sie sich immer moeglichst miteinander entfernt von allen Menschen, und nun sollten sie sich vordraengen? Ihm kam es unbescheiden vor, aber doch auch lockend, und so ging er nachdenklich davon, waehrend seine Brueder sich noch mit Remboldt unterhielten. Dieser erzaehlte gern von seinem Soldatenleben, bei dem er mit Leib und Seele war. Und heute hatte er Neues zu berichten: "Heute nacht war ich auf der Wache," sagte er, "vor dem Kasernentor. Da blaest einem der Wind eisig um die Ohren und die Fuesse werden steif, wenn man nicht immerzu hin und her laeuft. Man hoert auch gern seinen eigenen Tritt, weil's so totenstill ist, man meint, man sei ganz allein auf der Welt. Es war so eine finstere Nacht, kein Mondschein am Himmel und im Westen eine schwarze Wand, nur im Osten war's hell und ein paar Sterne am Himmel. Vor mir war der weite, leere Kasernenhof, hinter mir die lange, schwarze Kasernenmauer, ganz unheimlich, sage ich euch. Da, nach Mitternacht, hat sich der Wind gelegt und der Himmel ist klarer geworden. Wie ich nun so hinausschaue, wie immer mehr Sterne herauskommen, da fliegt einer in grossem Bogen ueber den halben Himmel, und wie ich dem nachschaue, kommt wieder einer und zwei auf einmal und so ging's fort und mir war's gerade, wie wenn mir zuliebe so ein himmlisches Feuerwerk veranstaltet waere, denn, dachte ich, es sieht's ja sonst niemand als du. Mir war's ganz feierlich zumute. Ich nahm mir aber vor: den Kameraden erzaehlst du das nicht, sie meinen sonst, du flunkerst. Aber da kam morgens eine Abteilung von einer naechtlichen Felddienstuebung heim und die hatten es auch beobachtet und fingen gleich davon an zu erzaehlen. Ihnen hat ihr Hauptmann erklaert, dass alle Jahre in den Naechten um den 12. bis 15. November herum so ein Sternschnuppenschwarm sei, der heisse der Leonidenschwarm. In manchen Jahren sei er besonders reich und so in diesem. Aber erst nach Mitternacht und man sehe es nur selten so schoen wie in der vergangenen Nacht, weil die Novembernaechte meistens trueb seien. Wenn's heute nacht hell waere, ich wollte gleich wieder auf die Wache ziehen um den Preis." Karl, der grosse, Wilhelm, der zweite, Otto, der dritte, sie kamen alle mit _einem_ Gedanken vom Hof herauf: den Leonidenschwarm mussten sie sehen! Heute oder morgen wollten sie nach Mitternacht hinuntergehen und von dem Balken aus die Sternschnuppen beobachten. Wenn nur die Erlaubnis der Eltern zu bekommen war. Oder konnte man's ungefragt unternehmen? Es war ja nichts Schlimmes. Sie berieten miteinander. Die Schwestern kamen dazu und wurden eingeweiht in den Plan. Da entschied Marie, das praktische Hausmuetterchen: "Ohne Erlaubnis geht das nicht, weil es nicht ohne Hausschluessel geht, die Haustuere wird nachts geschlossen." Also musste man bittend an die Eltern kommen. Der Vater wollte nicht gern der Jugend den Hausschluessel anvertrauen und die Mutter meinte, so vom Bett in die Novembernacht hinaus wuerden sie sich erkaelten. Und alle beide fuerchteten sie, die Hausleute moechten bei Nacht gestoert werden. Dagegen sagte der Vater, seine Buben duerften nicht so zimperlich sein, dass sie nicht eine Stunde draussen in der Winternacht aushalten koennten, und die Mutter erzaehlte, dass sie schon von ihrer Jugend an den Wunsch gehabt haette, so einen Sternschnuppenschwarm zu sehen, die drei Brueder versicherten, dass sie lautlos die Treppe hinunterschleichen wuerden. Da machte die kleine Else, die gespannt zugehoert hatte, ob die Brueder mit ihrer Bitte wohl durchdringen wuerden, den Schluss, indem sie erklaerte: "Also dann duerft ihr!" Da lachten sie alle und niemand widersprach. Aber doch war es nur so eine halbe Erlaubnis, und die Brueder hielten es fuer klug, nimmer auf das Gespraech zurueckzukommen. Ueberdies fing es am Abend an zu regnen, ja es regnete auch noch den ganzen Sonntag und niemand dachte mehr an die Sternschnuppen. Als aber am Sonntag abend Karl zu Bett ging, bemerkte er, dass am Himmel ein paar Sterne sichtbar waren. Wenn es nun doch moeglich wuerde? Er richtete seine Weckuhr auf 1 Uhr und konnte vor Erwartung kaum einschlafen. Waehrend nun Stille im ganzen Haus wurde und die Nacht weiter vorrueckte, loesten und verteilten sich am Himmel immer mehr die schweren Wolken, ein Stern nach dem andern leuchtete hervor und als, vom Wecker aufgeschreckt, Karl ans Fenster huschte um zu sehen, ob etwas zu hoffen waere, strahlte ihm der klarste Himmel entgegen, ja, er meinte sogar ein kurzes Leuchten wie von einer fliegenden Kugel gesehen zu haben. Es war nun keine kleine Aufgabe, Wilhelm und Otto zu wecken, ohne dabei das ganze Haus aufzumuntern. Zum Glueck lag das Bubenzimmer nicht neben dem Schlafzimmer der Eltern. Die verschlafenen Brueder hatten nicht einmal mehr Lust zu dem naechtlichen Unternehmen, aber die stellte sich wieder ein, sobald sie ganz wach waren, und nun richteten sich die Drei in aller Stille. Nebenan schliefen die Schwestern. Ploetzlich ging die Tuere leise auf, ein Arm streckte sich herein und ein geheimnisvolles: "Gelt ihr geht? Da habt ihr unsern Schal!" wurde gefluestert; das grosse warme Tuch flog herein, die Tuere ging leise wieder zu. Mit klopfendem Herzen nahm Karl den Hausschluessel vom Nagel, in Struempfen, die Stiefel in der Hand, schlichen sie alle Drei ueber den Gang, und die Treppe hinunter. Aber ehe sie hinaustraten in den nassen Hof, mussten doch die Stiefel angezogen werden und das ging nicht so ganz ohne jegliches Geraeusch, nicht ohne Gefluester. Auch der Schluessel bewegte sich nicht ohne metallenen Klang im Schloss und die Tuere nicht ohne Knarren in den Angeln. Hingegen ging sich's lautlos auf dem bodenlosen Weg nach dem Balken, und als die Drei erst hinter den Brettern, nahe dem Kasernenzaun waren, schien ihnen das Unternehmen gelungen. Das wachsame Ohr von Frau Hartwig, der Hausfrau, hatte aber etwas gehoert. Sie wusste zunaechst selbst nicht, an was sie erwacht war, aber sie hatte das Gefuehl: Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Sie setzte sich im Bett auf, horchte, vernahm ganz deutlich den ihr wohlbekannten Ton der sich schliessenden Haustuere und dann ein Fluestern ausserhalb derselben. "Es ist jemand hinausgegangen," sagte sie sich, "wer hat nachts um 1 Uhr hinauszugehen?" Sie besann sich, es war ihr unerklaerlich. "Es ist ungehoerig," sagte sie sich, "wer solch naechtliche Spaziergaenge macht, der soll nur draussen bleiben," und rasch entschlossen ging sie hinaus und schob den Nachtriegel an der Haustuere vor. Dann legte sie sich beruhigt wieder, nun konnte niemand ins Haus herein, ohne anzuklingeln; auf diese Weise wollte sie schon herausbringen, wer hinausgeschluepft war. War es jemand mit gutem Gewissen, der mochte klingeln. Auf Frieders hohem Brettersitz sassen die drei Brueder in der Stille der Nacht und sahen erwartungsvoll hinauf nach dem Sternenhimmel. In wunderbarer Klarheit woelbte er sich ueber ihnen. Das war ein Schimmern und Leuchten aus unendlichen Fernen! Keiner von ihnen hatte es je so schoen gesehen. "Wenn auch weiter gar nichts zu sehen waere," sagte Karl, "so wuerde mich's doch nicht reuen, dass ich aufgestanden bin." "Mich reut's auch nicht," sagte Wilhelm, "obwohl ich's gar nicht glaube, dass einer von den Sternen auf einmal anfaengt zu fliegen. Die stehen da droben alle so fest!" "Seht, seht da!" rief in diesem Augenblick Otto und deutete nach Osten. Ein heller, weissglaenzender Stern schoss am Firmament in weitem Bogen dahin und war dann ploetzlich verschwunden. In einem Nu hatte er die riesige Bahn durchflogen, wie weit wohl? Ja, das mochte wohl eine Strecke gewesen sein, groesser als das ganze Deutsche Reich. Staunend sahen die Kinder hinauf: da--schon wieder eine Sternschnuppe, groesser als die vorige, in gelbem Licht strahlend, und nach wenigen Minuten wieder eine. Die meisten kamen aus derselben Himmelsgegend und flogen in gleicher Richtung. Die Kinder fingen an zu zaehlen, aber als die Zeit vorrueckte und es auf den Turmuhren 2 Uhr geschlagen hatte, wurden die Sternschnuppen immer haeufiger, oft waren zwei oder drei zugleich sichtbar, es war ueber alles Erwarten schoen. Allmaehlich schoben sich aber von Westen herauf immer groessere Wolkenmassen und fingen an, die Sterne zu verdunkeln. Endlich kam das Gewoelk bis an die Himmelsgegend, von der die meisten Sternschnuppen ausgingen, und wie wenn den staunenden Blicken nicht laenger das schoene Schauspiel vergoennt sein sollte, zog sich eine dichte Decke ueber die ganze Herrlichkeit. Noch standen die Kinder auf ihrem Posten und hofften, die Wolken wuerden sich wieder verteilen. Da und dort schimmerte zwischendurch ein einzelner Stern. "Sie sind alle noch da und fliegen herum," sagte Otto, "nur die Wolken sind davor." Nun wurde es vollstaendig Nacht, und die Brueder empfanden auf einmal, dass es kalt war und sie selbst mued und schlaefrig. Jetzt ins warme Bett zu schluepfen, musste koestlich sein! Also kletterten sie herunter und gingen in der Stockfinsternis dem Haus zu. "Hast du doch den Schluessel, Karl?" "Jawohl, da ist er." "Das waere kein Spass, wenn du den verloren haettest und wir muessten da draussen bleiben in der Kaelte!" Sie kamen nun nahe an das Haus, schlichen sich leise und schweigend an die Tuere. Karl schloss auf und klinkte an der Schnalle, aber die von innen verriegelte Tuere ging nicht auf. "Was ist denn das?" fluesterte Karl, drehte den Schluessel noch einmal im Schloss auf und zu und klinkte und drueckte gegen die Tuere, aber die gab nicht nach. "Lass doch mich probieren," sagte Wilhelm leise, "du hast wohl falsch herumgedreht," er brachte ebensowenig zustande und Otto nicht mehr. "Lasst doch, ihr verdreht das Schloss noch," sagte Karl, "ihr seht doch, es geht nicht. Was kann denn aber schuld sein? Das Schloss ist doch in Ordnung, was haelt die Tuere zu?" In leisem Fluesterton gingen nun die Vermutungen hin und her. "Jemand hat etwas vor die Tuere gestellt, damit wir nicht hereinkoennen." "Oder den Riegel vorgeschoben." "Ja, ja, den Riegel. Natuerlich, der Riegel ist vorgeschoben! Wer hat das getan? Wer hat uns hinausgeriegelt?" Da meldete sich das Gewissen: "Vielleicht der Vater, weil wir nichts gesagt haben!" "Aber er hat es doch erlaubt!" "Ich weiss nicht mehr so recht, hat er's wirklich erlaubt?" "Wir haetten vielleicht um den Hausschluessel bitten sollen." "So wird's sein: Der Vater hat den Wecker gehoert, hat gemerkt, dass wir ungefragt fortgehen und hat hinter uns zugeriegelt. Es muss ja so sein, wer haette es sonst tun sollen?" Nach einigem Nachdenken ueber diese traurige Lage sagte Karl: "Klingeln duerfen wir nicht, gehen wir wieder hinter auf den Platz, wickeln uns in den warmen Schal und legen uns auf ein Brett, da kann man schon schlafen." So schlichen sie noch einmal wie drei kleine Suender ums Haus herum und suchten sich ein Lager zu machen auf den Brettern. Wenn es nur nicht so stockfinster gewesen waere und die Bretter so nass und so hart und so unbequem und wenn es nur vor allem nicht so bitter kalt gewesen waere! Karl blieb nur einen Augenblick liegen, dann sprang er auf: "Der Schal reicht doch nicht fuer drei, ihr koennt ihn haben und ich laufe lieber hin und her, wie wenn ich Wache haette. Wer weiss, in drei Jahren muss ich's ganz im Ernst tun." Er wickelte die Brueder in das Tuch, wanderte stramm hin und her, war ganz wohlgemut und dachte an das Soldatenleben. Aber nach einer kleinen Weile hoerte er einen seltsamen Ton. Was war denn das? Er kam naeher zu den Bruedern her--wahrhaftig, Otto schluchzte und weinte ganz laut. Er hatte ein wenig geschlafen und war nun aufgewacht und klagte, es tue ihm alles weh. Auch Wilhelm erhob sich wieder aus seiner unbequemen Lage und schien ebenso nahe am Weinen. Da fuehlte sich Karl als Aeltester verantwortlich: "Die muessen ins Bett," sagte er sich, "sonst werden sie krank. Kommt, wir wollen sehen, ob wir nicht die Marianne wach rufen koennen, damit sie uns ausriegelt." Da waren die Verschlafenen gleich wieder munter. Sie gingen nach der Seite des Hauses, wo das Schlafzimmer der Maedchen lag, und nun galt es so laut zu rufen, dass diese aufwachten, und zugleich so leise, dass Hartwigs, die unter ihnen schliefen, nichts hoerten. "Marianne, Marianne," klang es zuerst leise und allmaehlich lauter. Es ging aber umgekehrt, als es haette gehen sollen, die Schwestern hoerten nichts und die Hausleute wachten auf. Die Hausfrau laechelte ganz befriedigt. "Aha," sagte sie sich, "nun moechte man wieder herein." Sie erzaehlte ihrem Mann von der verriegelten Tuere. Er machte das Fenster auf: "Wer ist da?" rief er. Die Brueder erschraken, als sie des Hausherrn Stimme hoerten. Keiner ruehrte sich, keiner antwortete. Der Hausherr starrte in die Dunkelheit hinaus, lauschte--sah nichts, hoerte nichts und schloss das Fenster. Eine gute Weile blieben unsere drei Ausgestossenen wie angewurzelt stehen. "Wir wollen etwas an das Fenster hinaufwerfen," schlug Karl vor, und sie tasteten nach Steinchen und warfen. Aber sie trafen ganz schlecht in der Dunkelheit, fingen wieder an "Marianne" zu rufen und fanden es unbegreiflich, dass die Schwestern so fest schliefen. "Ich habe ganz deutlich die Stimme von einem Pfaeffling erkannt," sagte die Hausfrau zu ihrem Mann, "es wird doch keines von den Kindern draussen sein in der kalten Nacht? Lass mich mal rufen, mich kennen sie besser!" und leise oeffnete sie das Fenster und rief freundlich: "Seid Ihr es, Kinder?" Auf diesen Lockton gingen sie. "Ja wir sind's," riefen sie dreistimmig, naeherten sich dem Fenster und sagten: "Wir wollten nur Marianne rufen, damit sie uns hereinlaesst." Die Hausfrau erschrak. So hatte sie die Kinder hinausgeschlossen. An die Boesen hatte sie gedacht, denen es recht geschah, an die Guten, die klingeln wuerden, aber nicht an die Bescheidenen, die nicht klingeln mochten. "Ich mache euch gleich auf, Kinder," sagte sie, "wie kommt ihr nur hinaus?" "Wir haben den Leonidenschwarm angesehen." "Aber Kinder!" rief sie vorwurfsvoll und schloss das Fenster. "Was haben sie angesehen? Den Leonidenschwarm?" fragte der Hausherr, "was ist denn das wieder? Eine Studentenverbindung? Ein Verein? Und da schwaermen die Buben hinaus ohne ihren Vater und bleiben bis gegen Morgen?" Herr Hartwig war sehr aufgebracht. "Bleibe du nur da," sagte er zu seiner Frau, "ich will selbst hinaus, und ihnen sagen, was noetig ist. Wenn man nicht mehr seine Nachtruhe hat, nicht weiss, ob das Haus nachts geschlossen bleibt, dann hoert ja alles auf. Fuer solche Mietsleute bedanke ich mich!" Mittlerweile hatte der Hausherr sich angekleidet, kam heraus und schob den Riegel der Haustuere zurueck. Die drei frierenden, uebernaechtigen Kameraden sahen nicht erfreulich aus und Schreiner Hartwig mass sie mit so veraechtlichem Blick, dass ihnen sogar die gewohnte Entschuldigung entfiel, sie standen vor ihm wie das boese Gewissen. Er schob sie von der Tuere weg und den Riegel mit Gewalt wieder vor und dann sprach er ruhig und deutlich den _einen_ Satz: "Sagt eurem Vater, auf ersten Januar sei ihm die Wohnung gekuendigt." Ach, auf den nassen, harten Brettern draussen in der Winterkaelte war es den drei Bruedern nicht so elend zumute gewesen als in den eigenen Betten, in die sie ganz vernichtet sanken. Sie waren ja noch immer der Meinung, der eigene Vater habe den Riegel vorgeschoben; hatte er ihr Fortgehen schon so schlimm aufgenommen, wie musste er erst zuernen, wenn er erfuhr, was daraus entstanden war! Und wie deutlich erinnerten sie sich der Wohnungsnot vor zwei Jahren, wo der Vater von einem Haus zum andern gegangen und von jedem Hausherrn abgewiesen war, weswegen? Wegen der sieben Kinder! Und nun war durch sie die Kuendigung herausbeschworen, in ihren Augen das groesste Familienunglueck! Wilhelm und Otto schliefen trotz allem bald ein, denn sie fuehlten sich ein wenig gedeckt dadurch, dass Karl, der grosse, der Anfuehrer gewesen war. Um so schwerer lag diesem die Sache auf, und er konnte sich nicht vorstellen, wie er am Morgen den Eltern unter die Augen treten sollte. Er fand nur einen kurzen, unruhigen Schlaf. Frieder hatte von allem, was seine Schlafkameraden erlebt hatten, keine Ahnung. Er wunderte sich aber am Morgen, dass sie alle schwer aus dem Bett kamen, bedrueckt und einsilbig waren, und wunderte sich noch mehr, als die Schwestern durch die Tuerspalte hereinriefen: "War's recht schoen heute nacht?" Als er aber gern erfahren haette, von was die Rede sei, bekam er ungeduldige Antwort: "Sei nur still, du wirst noch genug davon hoeren." Sie waren sonst alle flinker als Frieder, heute aber kam dieser zuerst ins Wohnzimmer, wo die Eltern schon mit den Schwestern beim Fruehstueck waren und von Marie und Anne wussten, dass die Brueder in der Nacht fort gewesen waren. Diese zoegerten aber immer noch, zu kommen. Endlich sagte Karl: "Es hilft uns ja doch nichts, einmal muss es gesagt werden, kommt!" Er ging tapfer voran, Wilhelm und Otto hinter ihm. So traten sie in das Wohnzimmer, wo Herr Pfaeffling sich gleich lebhaft nach ihnen umwandte. "Nun," fragte er, "ist eure Expedition geglueckt? Heute nacht um 11 Uhr hat sich der Himmel so schoen aufgeklaert, da dachte ich an euch, war aber der Meinung, ihr wuerdet die Zeit verschlafen. War's denn nun schoen?" Die drei waren so betroffen ueber die unerwartet freundliche Anrede, dass sie zunaechst gar keiner Antwort faehig waren. Frau Pfaeffling ahnte gleich Boeses. "Ihr seht alle so schlecht aus," sagte sie, "ist's euch nicht gut? Oder habt ihr den Hausschluessel verloren?" "Das nicht." "Also, was sonst, redet doch!" rief der Vater. Da trat Karl naeher und sagte: "Ich will es ganz erzaehlen wie es war. Um ein Uhr sind wir hinunter gegangen, ganz leise, ohne Stiefel. Sind auf den Balken gewesen--wie schoen es da war, sage ich spaeter. Um halb drei Uhr etwa wollen wir wieder ins Haus, da ist die Tuere von innen zugeriegelt." "Aber wie abscheulich! wer hat das getan!" riefen die Schwestern wie aus einem Mund. "Klingeln mochten wir nicht, so gingen wir wieder zurueck, wollten auf den Brettern schlafen, aber es war zu kalt. So schlichen wir unter Mariannens Fenster und wollten sie wecken. Wir riefen ihr leise, das hoerte die Hausfrau und fragte durch's Fenster, ob wir's seien. Wir sagten, wo wir herkaemen und dass wir nicht hereinkoennten. Da riegelte Herr Hartwig die Haustuere auf und liess uns herein." Karl hielt inne. "So habt ihr richtig die Hausleute gestoert!" sagte Frau Pfaeffling. "Haettet ihr mir doch gesagt, dass ihr in dieser Nacht fort wollt, ich wuerde euch vorher hinunter geschickt haben, damit sie davon wissen. So aber waren sie wohl aengstlich, als sie etwas hoerten und haben deshalb geriegelt. Habt ihr euch recht entschuldigt?" "Er hat uns dazu gar keine Zeit gelassen." Sie senkten die Koepfe. Herr Pfaeffling sah seine Soehne aufmerksam an. "Kinder, ihr habt noch nicht alles gesagt." "Nein." Da trat eine bange Stille ein, bis Karl sich ermannte und die schlimme Botschaft aussprach: "Der Hausherr laesst dir sagen, auf 1. Januar sei gekuendigt." Ein Ausruf des Schreckens entfuhr der Mutter, und den Schwestern der Jammerschrei: "O haetten wir doch das Rufen gehoert, waeren wir doch aufgewacht!" Herr Pfaeffling aber straeubte sich, die Nachricht zu glauben. "Es ist doch gar nicht moeglich, dass das sein Ernst ist, glaubst du das, Caecilie? Kann das wirklich sein? Kuendigt man, weil man einmal im Schlaf gestoert wird? Taeten wir das? Mich duerfte man zehnmal wecken und ich daechte noch gar nicht an so etwas. War er denn im Zorn, was hat er denn sonst noch gesagt?" "Kein Wort weiter, aber das so langsam und deutlich, wie wenn er sich's schon vorher ausgedacht haette." "Und ihr habt euch nicht entschuldigt, habt kein Wort gesagt, um ihn zu beguetigen? Ihr Stoepsel! Und warum habt ihr denn nicht lieber geklingelt? Ist unsere Hausglocke zum Schmuck da oder zum Laeuten? Die Marianne rufen! Der Einfall! Die schlafen doch wie Murmeltiere!" Frau Pfaeffling unterbrach die immer lebhafteren Ausrufe ihres Mannes: "Es ist gleich Schulzeit und ich meine, wenn es die Buben auch nicht verdient haben, sollten sie doch einen warmen Schluck trinken, ehe sie in die Schule gehen, sieh, wie sie aussehen." "Wie die Leintuecher," sagte der Vater, "schnell, setzt euch, fruehstueckt!" So waren die drei doch wieder zu Gnaden am Tisch angenommen und konnten wirklich ihr Fruehstueck brauchen, nach dieser Nacht! Wilhelm und Otto verschlangen ihr Teil mit wahrem Heisshunger, und als sie damit fertig waren, griffen sie noch ueber zu dem Teil ihres Frieders, der vor Horchen und Staunen noch gar nicht ans Essen gekommen war und sich auch nicht wehrte gegen den Uebergriff; so etwas kam hie und da vor und heute fuehlte er, dass es so sein muesse. Herr Pfaeffling umkreiste noch eine Weile den Tisch in heftiger Erregung, so dass es seiner Frau schier schwindelte, endlich atmete er tief auf, seufzte: "O Marstadt, Marstadt!" und verliess das Zimmer, um sich zum taeglichen Gang nach der Musikschule zu richten. Rascher noch als sonst eilte er durch den untern Hausflur, er hatte keine Lust, den Hausherrn zu begegnen. Aber da waere gar keine Gefahr gewesen, auch der Schreiner wuenschte keine Begegnung und wartete ab, bis alle Glieder der Familie Pfaeffling auf dem Schulweg waren, ehe auch er das Haus verliess. So gab es zwei Maenner im Haus, die sich mieden, aber es gab auch zwei Frauen, die sich suchten. Frau Hartwig tat das Herz weh bei dem Gedanken an die Sorge, die der Familie Pfaeffling auferlegt wurde, jetzt bei Beginn des Winters und nach der eben erlebten Enttaeuschung durch die Direktorsstelle. Und es kraenkte sie, dass ihr Mann mit Recht von der leichtsinnigen Gesellschaft da droben sprechen konnte. Sie hatte so viel von der Familie gehalten, ja, sie spuerte es erst jetzt recht deutlich, eine wahre Liebe hatte sie fuer sie alle empfunden, ganz anders als je fuer fruehere Mietsleute. Sie musste das alles mit Frau Pfaeffling besprechen. Aber ihr Mann war dagegen, dass sie hinaufging. Frau Pfaeffling ihrerseits war ganz irre geworden an den Hausleuten. Sie hatte so viel Vertrauen in sie gehabt und sie hochgeachtet wegen des echten christlichen Sinnes, den sie jederzeit bewaehrt hatten. Wie stimmte dazu die Lieblosigkeit, die Kinder in die kalte Nacht hinauszuschliessen und dann noch zu kuendigen, und das alles bloss wegen einer gestoerten Nachtruhe! Sie musste sich das erklaeren lassen von Frau Hartwig, aber mit ihr _allein_ wollte sie sprechen. So strebten die beiden Frauen zusammen, und wo ein Wille ist, findet sich bald ein Weg. Im obersten Stock des Hauses war ein Revier, das beide Familien benuetzten. Das war der grosse Bodenraum, wo die Seile gezogen waren zum Waeschetrocknen und die Mange stand, zum Mangen und Rollen des Weisszeugs. Die Hausfrau war mit einem kleinen Korb Waesche hinaufgegangen, fing an, das Rad zu drehen und zu mangen. Frau Pfaeffling konnte das unten gut hoeren. Nicht lange, so stieg auch sie hinauf. Vom Drehen des Rades war bald nichts mehr zu hoeren. Nach einer guten Weile kamen die beiden Frauen froehlichen Sinnes miteinander herunter, zwischen ihnen gab es kein Missverstaendnis mehr und sie waren der guten Zuversicht, dass sich auch die beiden Maenner miteinander verstaendigen wuerden. Frau Hartwig sagte an diesem Mittag zu ihrem Mann: "Hat dir nicht gestern Remboldt erzaehlt von den vielen Sternschnuppen, die er auf der Wache gesehen hat?" "Ja, du warst ja dabei." "Weisst du, wie man diese Sternschnuppen heisst? Ich habe es heute zum erstenmal gehoert, die heisst man 'den Leonidenschwarm'." Weiter sagte Frau Hartwig gar nichts. Aber sie beobachtete, wie dieses Wort ihrem Mann zu denken gab. Sie wusste ja, dass mit dem richtigen Verstaendnis des Wortes sein ganzer Zorn gegen die Familie Pfaeffling schwinden musste. Sie wollte ihm gar nicht zureden, sein eigenes Gefuehl wuerde ihn treiben, zu tun, was recht war. Am Nachmittag fasste er die drei Lateinschueler ab, als sie heimkamen. Er liess sich von ihnen genau erzaehlen, wie herrlich der Sternenhimmel gewesen sei, und wollte auch wissen, warum die Sternschnuppen der Leonidenschwarm hiessen. Das wusste Karl: weil diese Sternschnuppen, die da im November so massenhaft fielen, aus dem Sternbild des Loewen ausgingen. Waehrend sie zusammen sprachen, bemerkten die Kinder wohl, dass der Hausherr sie wieder ganz anders ansah, als in der vergangenen Nacht, und fingen an, auf seine Verzeihung zu hoffen, und wirklich sagte er nun mit all seiner frueheren Freundlichkeit: "Seht, ich weiss eben gar nichts von der Sternkunde, ich habe den Leonidenschwarm fuer einen Verein oder dergleichen gehalten, mit dem ihr euch nachts herumtreibt. Und so etwas dulde ich nicht in meinem Haus. Aber ich werde euch doch nicht boes sein, wenn ihr nach dem Himmel schaut? Nein, wir sind nun wieder gute Freunde. Sagt nur eurem Vater: die Kuendigung gilt nicht!" Nach dieser offenen Aussprache herrschte wieder Friede und Eintracht, Freundschaft und Froehlichkeit im ganzen Haus. Als gegen Abend die Kinder von ihren Turnuebungen zurueckkehrten, trafen sie an der Treppe mit Frau Hartwig zusammen, die eben aus dem Keller einen Vorrat Aepfel herausgeholt hatte. "Ihr kommt mir gerade recht," sagte sie und gab jedem einen Apfel. "Hausfrau," sagte Frieder, "wir haben miteinander etwas ausgemacht, damit deine Treppe geschont wird, sieh einmal her. Die Schwestern gehen jetzt immer ganz nahe am Gelaender und wir Buben muessen ganz dicht an der Wand gehen, dann werden deine Stufen in der Mitte geschont. Sieh, so hinauf und so wieder herunter." Um recht dicht an der Mauer zu gehen, setzte er einen Fuss vor den andern, verlor das Gleichgewicht und kollerte den ganzen Rest der Treppe hinunter, gerade vor die Fuesse der erschrockenen Hausfrau. Geschadet hat es ihm nichts. Aber als Frau Hartwig in ihre Wohnung zurueckkehrte, sagte sie zu sich: "Da ist gar nichts zu machen. Je besser sie's meinen, um so aerger poltert's." 4. Kapitel Adventszeit. "Wer darf den letzten Novemberzettel vom Block reissen, das duenne Blaettchen, das allein noch den Weihnachtsmonat verhuellt?" Die jungen Pfaefflinge standen alle in die eine Ecke gedraengt, wo der Kalender hing, und stritten sich, halb im Spass, halb im Ernst darum, wer den Dezember aufdecken duerfe. Die Eltern, am Fruehstueckstisch, sahen auf. "Buben, galant sein!" rief der Vater. Da traten die vier Brueder vom Kampfplatz zurueck. Elschen konnte den Kalender noch gar nicht erreichen, so kam das Vorrecht an die Zwillingsschwestern. "Wir machen es miteinander," sagten sie. Da kam denn der erste Dezember zum Vorschein, und zwar rot, denn es war Sonntag, und kein gewoehnlicher Sonntag, sondern der erste Advent. Die schoenste Weihnachtsstimmung stieg auf mit diesem Tag und nicht nur bei den Kindern. Herr Pfaeffling stimmte unvermutet und ohne Begleitung an: "Wie soll ich dich empfangen und wie begegnen dir, O aller Welt Verlangen, o meiner Seele Zier!" Alle Kinder sangen mit, erste Stimme, zweite Stimme, je nach Begabung, auch die Mutter, aber sie recht leise, denn sie allein von der ganzen Familie war vollstaendig unmusikalisch und sang, wie Frieder einmal gesagt hatte etwas anderes als die Melodie. Bald darauf war es fuer diejenigen, die zur Kirche gehen wollten, Zeit sich zu richten. Ein Teil pflegte vormittags zu gehen, einige nachmittags oder in den Kindergottesdienst. Frau Pfaeffling wollte heute mit ihrem Mann gehen, unter den Kindern gab es ein Beraten und Fluestern. Als nach einer Weile die Eltern, zum Ausgang gerichtet, an der Treppe standen und sich von den Zurueckbleibenden verabschieden wollten, fand sich's, dass es heute gar keine solchen gab, dass alle sieben bereit standen, mitzugehen. Das war noch nie so gewesen. "Wer soll dann aufmachen, wenn geklingelt wird?" fragte Frau Pfaeffling bedenklich. "Es klingelt fast nie waehrend der Kirchenzeit," versicherte der Kinderchor. "Aber wir koennen doch nicht zu neunt aufziehen, das ist ja eine ganze Prozession!" wandte Herr Pfaeffling ein. "Wir gehen drueben, auf der anderen Seite der Strasse," sagten die Buben. "Aber Walburg muss wenigstens wissen, dass sie ganz allein zu Hause ist, hole sie schnell, Elschen," rief Frau Pfaeffling. Als das Maedchen die ganze Familie im Begriff sah, auszugehen, wusste sie schon, was man von ihr wollte, und sagte in ihrer ernsthaften Weise: "Ich wuensche gesegnete Andacht". Draussen schien die Wintersonne auf bereifte Daecher, Sonntagsruhe herrschte in der Vorstadt und die Familie, die hier den Weg zur Kirche einschlug, hatte die Adventsstimmung schon im Herzen. Die vier Buben liessen aber, ihrem Versprechen gemaess, die ganze Breite der Fruehlingsstrasse zwischen sich und den Eltern und Schwestern, bis nach einer Weile Elschen dem Frieder immer dringlicher winkte. Da konnte er nicht laenger widerstehen und gesellte sich der kleinen Schwester zu. Adventsstimmung, Weihnachtsahnung wehten heute den ganzen Tag durchs Haus. Wenn im November eines der Kinder vom nahen Weihnachtsfest sprechen wollte, hatte die Mutter immer abgewehrt und gesagt: "Das dauert noch lange, lange, davon reden wir noch gar nicht, sonst werden die Kleinen ungeduldig." So haette sie auch gestern noch gesagt, aber heute war das etwas ganz anderes, man feierte Advent, Weihnachten war ueber Nacht ganz nahe gerueckt. Im Daemmerstuendchen zog Frau Pfaeffling Elschen zu sich heran und fragte selbst: "Weisst du denn noch, wie schoen der Christbaum war?" Sie wusste es wohl noch, und als nun die Geschwister ueber Weihnachten plauderten, da konnte sie mittun, ja in der Freude auf Weihnachten stand sie nicht hinter den Grossen zurueck, im Gegenteil, wenn sie mit leuchtenden Augen vom Christkindlein sprach, so war sie die kleine Hauptperson, die allen die Freude erhoehte. Bald taten sich in einer Ecke die Geschwister zusammen und berieten fluesternd, was sie den Eltern zu Weihnachten schenken koennten. Es durfte kein Geld kosten, denn Geld hatten sie nicht. Von Geschenken, die Geld kosteten, sprachen sie ganz veraechtlich. "Es ist keine Kunst, in einen Laden zu gehen und etwas zu kaufen, aber ohne Geld etwas recht Eigenartiges, Schoenes und Nuetzliches zu bescheren, das ist eine Kunst!" Ja, eine so schwere Kunst ist das, dass sich die Beratung sehr in die Laenge zog. Frieder nahm nicht lange daran teil, ihm klang heute immer der Adventschoral im Ohr: "Wie soll ich dich empfangen," er musste ihn ausstudieren. Er fing an zu spielen, und als er merkte, dass ungnaedige Blicke auf seine Ziehharmonika fielen, zog er sich hinaus in die Kueche, wo Walburg sass und in ihrem Gesangbuch las. Sie hoerte diese Toene, und da sie sich in ihrer Taubheit ueber alles freute, was bis an ihr Ohr drang, schob sie ihm den Schemel hin, zum Zeichen, dass er sich bei ihr niederlassen sollte. So kam die Adventsstimmung bis in die Kueche. Am naechsten Tag mussten freilich die Weihnachtsgedanken wieder in den Hintergrund treten, denn in die Schule passten sie nicht. Nur Frieder wollte sie auch dorthin bringen; was Remboldt ihm einmal gesagt, hatte er nicht vergessen, er wollte seine Harmonika mit in die Schule nehmen und dort den Adventschoral vorspielen. Die Mutter hoerte es und wunderte sich: Er hatte sich noch nie zeigen oder vordraengen wollen mit seiner Kunst, nun kam ihm doch die Lust, sich hoeren zu lassen. Sie mochte es ihm nicht verbieten, aber es war ihr fremd an ihrem kleinen, bescheidenen Frieder. So zog er mit seiner grossen Harmonika in der Hand, den Schulranzen auf dem Ruecken, durch die Fruehlingsstrasse. Freilich, als er sah, welches Aufsehen es bei den Schulkameraden machte, bereute er es fast. Er hatte sein Instrument verbergen wollen bis zu der grossen Pause um 10 Uhr, wo die Lehrer ihre Klassenzimmer verliessen und die Schueler sich in dem weiten Schulhof zerstreuten. Aber es ging nicht so. Der Lehrer war kaum in das Schulzimmer getreten, so riefen ihm auch schon ein paar kecke Buerschchen zu: "Der Pfaeffling hat seine Ziehharmonika mitgebracht." Da verlangte er sie zu sehen und fragte, ob Frieder denn mit dem grossen Instrument zurechtkaeme. Nun stiessen ihn die Kameraden von allen Seiten: "Spiel doch, gelt, du kannst es nicht? Spiel doch etwas vor!" Darauf spielte Frieder seinen Adventschoral, vergass seine vielen Zuhoerer, vergass die Schulzeit und sagte, nachdem er fertig war: "Jetzt kommt: Wachet auf, ruft uns die Stimme." Der Lehrer liess ihn gewaehren, denn er sah, wie gern ihm alle zuhoerten und wie der kleine Musiker ganz und gar bei seinen Liedern war. "Hast du das bei deinem Vater gelernt?" fragte er ihn jetzt. "Nein," sagte Frieder, "Harmonika muss man nicht lernen, das geht von selbst." "Das geht vielleicht bei euch Pfaefflingen von selbst, aber bei anderen nicht. Was meinst du," sagte er zu dem, der am naechsten stand, "koenntest du das auch?" "O ja," sagte der, "da darf man nur auf- und zuziehen." "Du wirst dich wundern, wenn du es probierst!" entgegnete der Lehrer, "aber jetzt: auf eure Plaetze." Um 10 Uhr, in einer Ecke des Schulhofs, wurde Frieder umringt und musste spielen. Es kamen auch groessere Schueler von anderen Klassen herbei und die wollten nicht nur hoeren, die wollten es auch probieren. Die Harmonika ging von Hand zu Hand. Sie zogen daran mit Unverstand, einer riss sie dem andern mit Gewalt weg und der sie nun hatte, der sagte: "Sie geht ja gar nicht, ich glaube, sie ist zerplatzt." Da bekam sie Frieder zurueck und als er sie ansah, wurde er blass und als er sie zog, gab sie keinen einzigen Ton mehr. Da wurden sie alle still und sahen betroffen auf den kleinen Musikanten. "Wer hat's getan?" hiess es nun. Die Frage ging von einem zum andern und wurde zum Streit, aber Frieder kuemmerte sich nicht darum, er verwandte keinen Blick von seiner Harmonika, er strich mit der Hand ueber sie, er drueckte sie zaertlich an sich, er probierte noch einmal einen Zug, aber er wusste es ja schon vorher, dass ihre Stimme erloschen war und nimmer zum Leben zu erwecken. Nach der Schule lief er all seinen Kameraden, die ihn teilnehmend oder neugierig umgaben, davon, er mochte nichts hoeren und nichts sehen von ihnen. Er trug seine Harmonika im Arm, lief durch die lange Fruehlingsstrasse nach Hause, rief die Mutter und drueckte sich bitterlich weinend an sie mit dem lauten Ausruf: "Sie ist tot!" Eine ganze Woche schlich Frieder ruhelos im Hause umher wie ein Heimatloser. Immer fehlte ihm etwas, oft sah er auf seine leeren Haende, bewegte sie wie zum Ziehen der Harmonika und liess sie dann ganz enttaeuscht sinken. Das bitterste an seinem Schmerz war aber die Reue. Er selbst hatte ja seine Freundin den boesen Buben ausgeliefert. Haette er sie in der Stille fuer sich behalten und nicht mit ihr Ruhm ernten wollen, so waere sie noch lange am Leben geblieben. Dagegen half kein Trost, nicht einmal die Vermutung der Geschwister, dass er vielleicht eine neue Harmonika zu Weihnachten bekommen wuerde. Aber etwas anderes half ganz unvermutet. Es war wieder Sonntag, der _zweite_ Advent, und wieder standen die Kinder beisammen, noch immer ratlos wegen eines Weihnachtsgeschenks fuer die Eltern. Diesmal lief aber Frieder nicht weg, wie er vor acht Tagen getan hatte, er konnte ja kein Adventlied mehr ueben, so zog ihn nichts ab. Er hatte still zugehoert, wie allerlei Vorschlaege gemacht und wieder verworfen wurden, nun mischte er sich auch ein: "Unten," sagte er, "auf den Balken, da kann man sich alles ausdenken, aber da oben nicht." "So geh du hinunter und denke dir etwas fuer mich aus," sagte eines der Geschwister. "Fuer mich auch!" "Und fuer mich," hiess es nun von allen Seiten. Er war gleich bereit dazu. Die Schwestern gaben ihm ihren grossen Schal mit hinunter. Er ging auf das Plaetzchen, das er so gern mit seiner Harmonika aufgesucht hatte. Es war kalt heute und er wickelte sich ganz in das grosse Tuch, sass da allein, war vollstaendig erfuellt von seiner Aufgabe, zweifelte auch gar nicht daran, dass er sie loesen wuerde. Auf der Harmonika war ihm hier unten auch alles gelungen, was er versucht hatte. Der kleine Kopf war fest an der Arbeit. Als Frieder wieder heraufkam, sammelten sich begierig alle Geschwister um ihn, und er, der in ihrem Rat noch nie das grosse Wort gefuehrt hatte, streckte nun seine kleine Hand aus und sagte so bestimmt, wie wenn da nun gar kein Zweifel mehr sein koennte: "Du, Karl, musst ein Gedicht erdichten und du, Wilhelm, auf einen so grossen Bogen Papier schoene Sachen abzeichnen und Otto muss so laut, wie es der Rudolf Meier beim Maifest getan hat, vom Bismarck deklamieren und Marianne soll das schoenste Lied vom Liederbuch zweistimmig vorsingen. Aber wir zwei koennen nichts," sagte er, indem er sich an Elschen wandte, "darum muessen wir solche Sachen sammeln zum Feuer machen, wie es manchmal Walburg sagt, Nussschalen und Fadenrollen, Zwetschgensteine und alte Zuendhoelzer, einen rechten Sack voll." Jedes der Kinder dachte nach ueber den Befehl, den es erhalten hatte, und fand ihn ausfuehrbar. "Ich weiss, was ich zeichne!" rief Wilhelm, "dich zeichne ich ab, Frieder, wie du mit deiner Harmonika immer da gestanden bist." "Und ich mache ein Gedicht ueber unsern Krieg in Afrika, wenn der Morenga darin vorkommt, dann gefaellt es dem Vater." Sie waren alle vergnuegt. "Frieder," sagte Karl, "es tut mir ja leid fuer dich, dass du deine Harmonika nimmer hast, aber mir bist du lieber ohne sie." Die andern stimmten ein und Frieder machte nimmer das trostlose Gesicht, das man die ganze Woche an ihm gesehen hatte, zum erstenmal fuehlte er sich gluecklich auch ohne Harmonika. Zwischen den Adventssonntagen lag ernste Lernzeit, denn da galt es, viele Probearbeiten anzufertigen, von denen das Weihnachtszeugnis abhing. Die Fest- und Ferienzeit wollte verdient sein. Unter den jungen Pfaefflingen war Otto der beste Schueler, und er galt viel in seiner Klasse. Nun sass hinter ihm ein gewisser Rudolf Meier, der machte sich sehr an Otto heran, obwohl dieser ihn nicht eben lieb hatte. Er war der Sohn von dem Besitzer des vornehmen Zentralhotels und machte sich als solcher gern ein wenig wichtig. Alle Kameraden mussten es erfahren, wenn hohe Persoenlichkeiten im Hotel abgestiegen waren, und wenn gar Fuerstlichkeiten erwartet wurden, fuehlte er sich so stolz, dass sich's die andern zur Ehre rechnen mussten, wenn er sich an solchen Tagen von ihnen die Aufgaben machen liess. Er war aelter und groesser als alle andern, weil er schon zweimal eine Klasse repetiert hatte; dessen schaemte er sich aber keineswegs, sondern sagte gelegentlich von oben herab: "In solch einem Welthotel muesse selbstverstaendlich die gewoehnliche Schularbeit manchmal hinter wichtigerem zurueckstehen." Dieser Rudolf Meier hatte seine guten Gruende, warum er heute ein ganzes Stueck Weges mit Otto ging, obwohl das Zentralhotel der Fruehlingsstrasse entgegengesetzt lag. Sie sahen gar nicht wie Schulkameraden aus, diese beiden. Otto in kurzem, schlichtem, etwas ausgewaschenem Schulbubenanzug, Rudolf Meier ein feines junges Herrchen, mit tadellos gestaerkten Manschetten und Kragen nach neuester Fasson. Und doch wandte sich nun der um einen Kopf Groessere bittend zu dem Kleinen und sagte: "Ich bin etwas in Verlegenheit, Pfaeffling, wegen der griechischen Arbeit, die wir morgen abliefern sollen. Es ist gegenwaertig keine Moeglichkeit bei uns, all dies Zeug zu machen, ich habe wahrhaftig wichtigeres zu tun. Wuerdest du mir nicht heute nachmittag dein Heft mitbringen, dass ich einige Stellen vergleichen koennte?" "Von mir aus," sagte Otto, "nur wenn du mir wieder einen Klex hineinmachst, wie schon einmal, dann sei so gut und setze deine Unterschrift unter den Klex." Rudolf Meier wollte auch die Mathematikaufgabe ein wenig vergleichen. "Was tust du eigentlich den ganzen Tag, wenn du gar nichts arbeitest?" sagte Otto aergerlich, "mir ist's einerlei, wenn du auch alles abschreibst, aber ich kann dich gar nicht begreifen, dass du das magst." "Weil du nicht weisst, wie es bei uns zugeht, Pfaeffling, anders als bei euch und das kannst du mir glauben, ich habe oft mehr zu leisten als ihr. Da ist zum Beispiel vorige Woche eine russische Familie angekommen, Familie ersten Rangs, offenbar steinreiche Leute, gehoeren zur feinsten Aristokratie. Haben fuenf Zimmer im ersten Stock vorn heraus gemietet. Sie beabsichtigen offenbar lange zu bleiben, sieben riesige Koffer. Werden wohl die Revolution fuerchten, haben ihr Geld gluecklich noch aus Russland herausgebracht und warten nun in Deutschland ab, wie sich die Dinge in Russland gestalten. Gegen solche Gaeste ist man artig, das begreifst du. Da sagt nun gestern die Dame zu meinem Vater, sie moechte ihren beiden Soehnen Unterricht geben lassen von einem Professor, welchen er wohl empfehlen koennte? Mein Vater verspricht ihr sofort Auskunft, kommt natuerlich an mich. Ich sitze an meiner Arbeit. Nun heisst es: 'Rudolf, mach deine Aufwartung droben. Besprich die Unterrichtsfaecher, gib guten Rat, nenne feine Professoren mit liebenswuerdigen Umgangsformen. Erbiete dich, die Herrn Professoren aufzufordern und den Unterricht in Gang zu bringen.' "Ich mache feinste Toilette, mache meine Aufwartung. So etwas ist keine Kleinigkeit, besonders bei solchen Leuten. Du spuerst gleich, dass du mit wirklich Adeligen zu tun hast, und der grosse Herr mit seiner militaerischen Haltung und strengem Blick, die Dame in kostbarem Seidenkostuem imponieren dir, du musst dich schon zusammennehmen. Die zwei jungen Herrn sehen dich auch so an, als wollten sie sagen: Ist das ein Mensch, mit dem man sich herablassen kann zu reden oder nicht? "Nun, ich kenne ja das von Kind auf und lasse mich nicht verblueffen. Es hat ihnen denn doch imponiert, wie ich von meinem Gymnasium und meinen Professoren gesprochen habe. Aber du kannst dir denken, dass ich genug zu laufen hatte, bis ich die Sache in Gang brachte, und nun bin ich wohl noch nicht fertig, denn sie haben gestern ein Pianino gekauft, eine Violine haben sie auch, da wird sich's um Musikunterricht handeln." Bei diesem Wort horchte Otto; Musikunterricht--wenn das ein Pfaeffling hoert, so klingt es ihm wie Butter aufs Brot. "Wer soll den Musikunterricht geben?" fragte er. "Weiss ich nicht." "Meier, da koenntest du meinen Vater empfehlen." "Warum nicht, das kann man schon machen. Das heisst, fuer solche Herrschaften muss man immer das feinste waehlen." "Du kannst dich darauf verlassen, mein Vater gibt feinen Unterricht." "Wohl, wohl, aber so ein _Titel_ fehlt, Professor oder Direktor oder so etwas, das hoeren sie gern." "Jetzt will ich dir etwas anvertrauen, Meier. Mein Vater kommt als Direktor nach Marstadt, sobald es mit der Musikschule dort im Reinen ist. Er hat schon seine Aufwartung dort gemacht und alle Stimmen waren fuer ihn. Nur ist es noch nichts geworden, weil erst gebaut werden muss." "Dann kann ich wohl etwas fuer ihn tun," sagte Rudolf Meier herablassend, "vorausgesetzt, dass sie sich bei mir nach dem Musiklehrer erkundigen und nicht bei den Professoren." "Dem musst du eben zuvorkommen, gleich jetzt, wenn du heimkommst, musst du mit den Russen sprechen." "Meinst du, da koennte ich so aus- und eingehen, wann ich wollte? Du hast keinen Begriff von Umgangsformen." "Nein," sagte Otto, "wie man das machen muss, weiss ich freilich nicht, aber wenn _du das_ nicht zustande bringst, dann moechte ich wohl wissen, was du kannst: dein Griechisch ist nichts, deine Mathematik ist gar nichts und dein Latein ist am allerwenigsten, wenn du also nicht einmal in deinem Zentralhotel etwas vermagst, dann ist deine ganze Sache ein Schwindel." "Ich vermag viel im Hotel." "So beweise es!" "Werde ich auch. Vergiss nicht, dass du mir deine Hefte versprochen hast." So trennten sich die Beiden. Otto aber rannte vergnuegt heim, rief die Geschwister zusammen und erzaehlte von der schoenen Moeglichkeit, die sich fuer den Vater auftat, die reichen Russen aus dem Zentralhotel zum Unterricht zu bekommen. Sie trauten aber diesem Rudolf Meier nicht viel zu und kamen ueberein, dass sie den Eltern zunaechst kein Wort sagen wollten, es sollte nicht wieder eine Enttaeuschung geben. Am Nachmittag empfing Rudolf Meier die beiden Hefte. Am naechsten Tag, in einer Unterrichtspause sagte er leise zu Otto: "Wenn ich deinen Vater empfehle, gibst du mir dann deinen Aufsatz abzuschreiben?" "_Zehn_ Aufsaetze," sagte Otto, "mach aber, dass es _bald_ so weit kommt." Einen Augenblick spaeter traf Otto im Schulhof seinen Bruder Karl und erzaehlte ihm das. Da wurde Karl nachdenklich, und noch ehe die Pause vorueber war, fasste er Otto ab, nahm ihn beiseite und sagte: "Du solltest das zuruecknehmen, so eine Handelsschaft gefiele dem Vater nicht. So moechte er die Stunden gar nicht annehmen. Sag du dem Rudolf Meier, er soll seine Aufsaetze selbst machen, zu solch einem Handel sei unser Vater viel zu vornehm." Das sagte Otto und noch etwas dazu, was ihm nicht der Bruder, sondern der Aerger eingegeben hatte: "Du bist nichts als ein rechter Schwindler." So ging die Sache aus und die Kinder waren nur froh, dass sie darueber geschwiegen hatten. Sie dachten laengst nicht mehr daran, als eines Nachmittags Wilhelm meldete: "Vater, der Diener vom Zentralhotel hat diesen Brief fuer dich abgegeben, er soll auf Antwort warten." Frau Pfaeffling begriff nicht die Blicke gluecklichen Einverstaendnisses, die die Kinder wechselten, waehrend ihr Mann die Karte las, auf der hoeflich angefragt wurde, ob er sich im Zentralhotel wegen Violin- und Klavierstunden vorstellen moechte. Die Karte war an Herrn Direktor Pfaeffling adressiert, und als die Brueder diese Aufschrift bemerkten, fluesterten sie lachend einander zu: Ein Schwindler ist er trotzdem, der Rudolf Meier! Der Diener des Zentralhotels bekam fuer die Ueberbringung einer so erwuenschten Botschaft ein so schoenes Trinkgeld, wie er es von dem schlichten Musiklehrer nie erwartet haette, und als er Herrn Meier senior ausrichtete, dass Herr Direktor Pfaeffling noch diesen Nachmittag erscheinen werde, fuegte er hinzu: "Es ist ein sehr feiner Herr." Bei Pfaefflings war grosse Freude. Otto erzaehlte alles, was Rudolf Meier von dem Fremden berichtet hatte, die Eltern und Geschwister hoerten ihm zu, er war stolz und gluecklich und konnte gar nicht erwarten, bis der Vater sich auf den Weg nach dem Zentralhotel machte. Aber so schnell ging das nicht, im Hausgewand konnte man dort nicht erscheinen. Herr Pfaeffling suchte hervor, was er sich neulich zu seiner Vorstellung in Marstadt angeschafft hatte. "Wenn es nur nicht wieder eine Enttaeuschung gibt," sagte er, waehrend er sich eine seine Krawatte knuepfte, "wer weiss, wie die hohen Aristokraten sich in der Naehe ausnehmen, mit denen dieser Rudolf Meier prahlt!" Frau Pfaeffling hatte aber gute Zuversicht: "Das erste Hotel hier ist es immerhin," sagte sie, "und die Russen gelten fuer ein sehr musikalisches Volk, da wirst du hoffentlich bessere Schueler bekommen als Fraeulein Vernagelding." "Ach, die Unglueckselige kommt ja heute nachmittag," seufzte Herr Pfaeffling, "ich werde aber zu rechter Zeit wieder zurueck sein, fuer meine Marterstunde." Er ging, und sie sahen ihm voll Teilnahme nach, Otto noch mehr als die andern, er fuehlte sich doch als der Anstifter des ganzen. Unser Musiklehrer blieb lange aus. Der kurze Dezembernachmittag war schon der Abenddaemmerung gewichen, die Lampe brannte im Zimmer, auch die Ganglampe war schon angezuendet und von Marie und Anne in ihr Stuebchen geholt worden. Um fuenf Uhr war Fraeulein Vernageldings Zeit. Frau Pfaeffling wurde unruhig. So gewissenhaft ihr Mann sonst war, heute schien er sich doch zu verspaeten. Nun schlug es fuenf Uhr, es klingelte, Marie und Anne eilten mit der geraubten Lampe herbei. Zwischen Fraeulein Vernagelding und den Zwillingen hatte sich allmaehlich eine kleine Freundschaft angesponnen. Wenn die Schwestern so eilfertig herbeikamen mit der Lampe und gefaellig Hilfe leisteten bei dem Anziehen der Gummischuhe, dem Zuknoepfen der Handschuhe und dem Aufstecken des Schleiers, so freute dies das Fraeulein und es plauderte mit den viel juengern Maedchen wie mit ihresgleichen. Als sie nun heute hoerte, dass Herr Pfaeffling noch nicht da sei, schien sie ganz vergnuegt darueber, lachte und spasste mit den Schwestern. "Herr Pfaeffling ruft immer 'Marianne'," sagte sie, "welche von Ihnen heisst so?" "So heissen wir bloss miteinander," antworteten sie, "wir koennen es eigentlich nicht leiden, jede moechte lieber ihren eigenen Namen, Marie und Anne, aber so ist's eben bei uns." Das fand nun Fraeulein Vernagelding so komisch, dass ihr etwas albernes Lachen ueber den ganzen Gang toente. Sie hatte inzwischen abgelegt. "Mutter sagte, Sie moechten nur einstweilen anfangen, Klavier zu spielen," richtete Marie aus. "Ach nein," entgegnete das Fraeulein, "ich moechte viel lieber mit Ihnen plaudern. Klavierspielen ist so langweilig. Aber es muss doch sein. Es lautet nicht fein, wenn man gefragt wird: Gnaediges Fraeulein spielen Klavier? und man muss antworten: nein. So ungebildet lautet das, meint Mama. Mein voriger Klavierlehrer war so unfreundlich, er sagte immer, ich sei unmusikalisch. Herr Pfaeffling ist schon mein vierter Lehrer. Die Herrn wollen immer nur musikalische Schuelerinnen, es kann aber doch nicht jedermann musikalisch sein, nicht wahr? Man muss es doch auch den Unmusikalischen lehren, finden Sie nicht?" "Bei uns ist das anders," sagte Anne, "wir sind sieben, da waere es doch zuviel fuer den Vater, wenn wir alle Musik treiben wollten; er nimmt bloss die, die recht musikalisch sind." Die drei Maedchen, an der Tuere stehend, fuhren ordentlich zusammen, so ploetzlich stand Herr Pfaeffling bei ihnen. Im Bewusstsein seiner Verspaetung war er mit wenigen grossen Saetzen die Treppe heraufgekommen. Fraeulein Vernagelding tat einen kleinen Schrei und rief: "Wie haben Sie mich erschreckt, Herr Pfaeffling, aber wie fein sehen Sie heute aus, so elegant." Herr Pfaeffling unterbrach sie: "Wir wollen nun keine Zeit mehr verlieren, bitte um Entschuldigung, dass ich Sie warten liess." "O, es war ein so reizendes Viertelstuendchen," hoerte man sie noch sagen, ehe sie mit ihrem Lehrer im Musikzimmer verschwand und einen Augenblick nachher wurde G-dur gespielt ohne jegliches Fis, was immer ein sicheres Zeichen war, dass Fraeulein Vernagelding am Klavier sass. "Habt ihr dem Vater nichts angemerkt, ob er befriedigt heimgekommen ist?" wurden Marie und Anne von den Bruedern gefragt. Sie wussten nichts zu sagen, man musste sich noch eine Stunde gedulden. Das fiel Otto am schwersten, und er passte und spannte auf das Ende der Klavierstunde, und im selben Augenblick, wo Fraeulein Vernagelding durch die eine Tuere das Zimmer verliess, schluepfte er schon durch den andern Eingang hinein und fragte: "Vater, wird etwas aus den Russenstunden?" Herr Pfaeffling lachte vergnuegt. "Wo ist die Mutter," sagte er, "komm, ich erzaehle es euch im Wohnzimmer," und schon unter der Tuer rief er: "Caecilie, Caecilie," und seine Frau konnte nicht schnell genug aus der Kueche herbeigeholt werden. Sie kannte aber schon seinen Ton und sagte: "Wenn ich kaum meine Tassen abstellen darf, dann muss es auch im Zentralhotel gut ausgefallen sein!" "Ueber alles Erwarten," rief Herr Pfaeffling, "eine durch und durch musikalische Familie, die beiden Soehne feine Violinspieler, ich glaube kaum, dass wir _einen_ solchen Schueler in der Musikschule haben, und ihre Mutter spielt Klavier mit einer Gewandtheit, dass es ein Hochgenuss sein wird, mit ihr zusammen vierhaendig zu spielen. Aber nun will ich euch erzaehlen. Im Vorplatz des Zentralhotels hat mich ein junges Herrchen empfangen, den ich nach deiner Beschreibung, Otto, gleich als Rudolf Meier erkannt habe. Der fuehrt mich nun in einen kleinen Salon, spricht mit mir wie ein Herr, das versteht er wirklich, der Schlingel, kein Mensch denkt, dass man einen Schuljungen vor sich hat, der von so einem Knirps, wie du daneben bist, seine Aufgaben abschreibt. Der sagte mir nun, er habe es fuer besser gehalten, mich als Herr Direktor einzufuehren, und ich moechte nur auch meine Honoraransprueche darnach richten, die Familie wuerde sonst nicht an den Wert meiner Stunden glauben, solchen Leuten gegenueber muesse man hohe Preise machen. Dann geleitete er mich die breite, mit dicken Teppichen belegte Treppe hinauf. Rudolf Meier fuehlte sich ganz als mein Fuehrer, klopfte fuer mich an und stellte mich dem russischen General als Herrn Direktor Pfaeffling vor. Eine Weile blieb er noch im Zimmer, als aber niemand von ihm Notiz nahm, empfahl er sich. "Der General ist schon ein aelterer Herr mit grauem Bart und ist nicht mehr im Dienst, aber er hat eine imponierende Haltung und einen durchdringenden Blick. Er stellte mich seiner Frau und seinen zwei jungen Soehnen vor und bot mir einen Platz an. Aber sie waren alle ziemlich zurueckhaltend, vielleicht hatten sie nicht viel Vertrauen in die Empfehlung von Rudolf Meier. Sie sprachen nur ganz unbestimmt davon, dass die Soehne spaeter vielleicht einige Violinstunden nehmen sollten, und ich hatte das Gefuehl: es wird nichts daraus werden. Die Unterhaltung war auch ein wenig schwierig, sie sprechen nicht gelaeufig Deutsch, versuchten es mit Franzoesisch, als sie aber mein Franzoesisch hoerten, da meinte die Dame, es gehe eher noch Deutsch. "Mir wurde die Sache ungemuetlich, es beengten mich auch die ungewohnten Glacehandschuhe, dazu musste ich in einem weich gepolsterten, niedrigen Lehnsessel ruhig sitzen und wusste gar nicht, wohin mit meinen langen Beinen, dabei war es mir immer, als muessten sie mir ansehen, dass ich kein Direktor bin. Endlich hielt ich es nimmer aus, sprang auf, worueber allerdings die Dame ein wenig erschrak, zog meine Handschuhe herunter und sagte: 'Ich denke, es ist besser, wir machen ein wenig Musik, dabei lernt man sich viel schneller kennen,' und ich fragte die Dame, fuer welchen deutschen Komponisten sie sich interessiere? Sie schien etwas ueberrascht, nannte aber gleich Wagner, was mir recht war. Da ging ich ohne weiteres an das Instrument, machte es auf und fragte, aus welcher Oper sie etwas hoeren wollte? 'Bitte, etwas aus den Nibelungen, Herr Direktor,' antwortete sie, da drehte ich mich rasch noch einmal nach ihr um und sagte: 'Nennen Sie mich nur mit meinem Namen Pfaeffling; ich waere allerdings fast Direktor geworden, werde es auch vielleicht einmal, aber zur Zeit habe ich noch kein Recht auf diesen Titel.' Dann spielte ich. "Es war ein praechtiges Instrument; die beiden jungen Herren kamen immer naeher heran und hoerten mit sichtlichem Interesse zu, ich merkte, dass wir uns verstanden, und bald war alles gewonnen. Sie spielten dann Violine, und die Dame versicherte mich, dass vierhaendiges Klavierspiel ihre groesste Passion sei und endlich wurde ich aufgefordert, jeden Tag ein bis zwei Stunden zu kommen. Zuletzt fragte der General noch nach dem Preis, der war ihnen auch recht, eine unbescheidene Forderung mochte ich nicht machen; das kann Herr Rudolf Meier tun, wenn er seine Hotelrechnung stellt, aber ich kann das nicht so. Als ich fortging, begleiteten die Herren mich ganz freundlich an die Tuere, alle Steifheit war vorbei und die Dame reichte mir noch die Handschuhe, die ich vergessen hatte. "Hinter einem Pfeiler im Treppenhaus kam Rudolf Meier zum Vorschein. Er hat offenbar die Verhandlungen von aussen beobachtet und wird morgen in der Klasse wieder versichern, zum Arbeiten habe er keine Zeit gehabt. Er ist aber, wie mir scheint, nebenbei ein gutmuetiger Mensch, schien sich wirklich zu freuen, dass die Sache gut abgelaufen war, und fluesterte mir zu: 'Sie sind von allen drei Herren zur Tuere begleitet worden, diese Ehre ist keinem der Professoren zuteil geworden.' Ich habe ihm auch gedankt fuer seine Vermittlung, und wenn ich ihn oefter sehe, werde ich ihm einmal sagen: Sei doch froh, dass du noch ein junger Bursch bist, gib dich wie ein solcher und wolle nicht mehr vorstellen, als du bist! Er macht sich ja nur laecherlich; wer verlangt von ihm das Auftreten eines Geschaeftsmannes? Der General hat ihn natuerlich laengst durchschaut." "Ja, ja," stimmte Frau Pfaeffling zu, "er soll von dir lernen, dass man sich sogar klein macht, wenn andere einen zum Direktor erhoeht haben." "Ja," sagte Pfaeffling vergnuegt, "und dass man trotz allem Stunden bekommt. Kinder, kommt mit herueber, jetzt muss noch ein gehoeriges Jubellied gesungen werden!" Waehrend im Haus Pfaeffling in froehlichem Chor gesungen wurde, sagte der General im Zentralhotel zu seiner Familie: "Der Mann ist ein ehrlicher Deutscher." Rudolf Meier sagte zu sich selbst: "Der Pfaeffling wird mir morgen meinen Aufsatz machen." Und Fraeulein Vernagelding sprach an diesem Abend zu ihrer Mama: "Die Marianne ist suess, ich moechte ihr etwas schenken." Da ueberlegte Frau Privatiere Vernagelding und entschied: "Das beste sind immer Glacehandschuhe." 5. Kapitel Schnee am unrechten Platz. Der Dezember war schon zur Haelfte vorueber, bis endlich, endlich der erste Schnee fiel. Der richtige Schnee, der in feinen, dichten Floeckchen stundenlang gleichmaessig zur Erde faellt und in einem einzigen Tag das ganze Land ueberzieht mit seiner weichen, weissen Decke; der alles verhuellt, was vorher braun und haesslich war, der alles rundet und glaettet, was rauh und eckig aussah. Immer ist sie schoen, die Schneelandschaft, aber am allerschoensten doch, wenn das lautlose Fallen des Schnees sich verbindet mit dem geheimnisvollen Reiz der deutschen Weihnacht. Dezember--Schnee--Tannenbaum--Weihnacht, ihr gehoert zusammen bei uns in Deutschland. In manchen Laendern hat man versucht, unsere Feier nachzumachen, und wir wollen ihnen auch die Freude goennen, aber solch eine Sitte muss aus dem Boden gewachsen sein. Wenn man sie kuenstlich verpflanzt, wird etwas ganz anderes daraus. Es wurde einmal eine junge Deutsche in die Fremde verschlagen, um die Weihnachtszeit. "Wir kennen auch den Christbaum," sagten die fremden Kinder zu ihr, "wir bekommen einen." Die Deutsche freute sich. Aber wie wurde es? Viele Kinder waren eingeladen worden und fuhren an in hellen Kleidern. Sie versammelten sich, und als der Baum hineingetragen wurde, klatschten sie Beifall wie im Theater. Sie nahmen die kleinen Geschenke herunter, die man fuer sie hinaufgehaengt hatte. Dann wurden die Lichter ausgeblasen, damit kein Aestchen anbrenne und der Diener gerufen, dass er sogleich den Baum, der in einem Kuebel voll Erde steckte, zuruecktrage zu dem Gaertner, von dem er gemietet war. Keine Stunde war der Christbaum im Haus gewesen, keinen Duft hatte er verbreitet. "Bei uns bleibt der Christbaum bis nach Neujahr," sagte die junge Deutsche und sah ihm wehmuetig nach. Es wurde ihr entgegnet, das sei doch unpraktisch, er nehme ja so viel Platz weg. Ja, das tut er allerdings, aber welche deutsche Familie goennt dem Christbaum nicht den Platz? * * * * * Im Dunkel des fruehen Dezembermorgens waren die jungen Pfaefflinge durch den frischgefallenen Schnee in ihre Schulen gegangen und mit dickbeschneiten Maenteln und Muetzen angekommen. Im Schulhof flogen die Schneeballen hin und her, und bis zu der grossen Pause um 10 Uhr waren die zahllosen Spuren der Kinderfuesse schon wieder von frischem Schnee bedeckt und die groessten Schneeballenschlachten konnten ausgefuehrt werden. Daheim hatte Elschen sich einen Stuhl ans Fenster gerueckt, kniete da und sah vom Eckzimmer aus hinunter nach den Brettern und Balken, die wie ein grosser weisser Wall vor dem Kasernenzaun aufgetuermt lagen. Und von diesem Zaun hatte jeder Stecken sein Kaeppchen, jeder Pfosten seine hohe Muetze auf. Frau Pfaeffling suchte die Kleine. "Elschen, komm, du darfst etwas sehen," und schnell fuehrte sie das Kind mit sich in das Wohnzimmer und oeffnete das Fenster. Eine frische Winterluft strich herein. Am Haus vorbei, nach der Stadt zu, fuhr eine ganze Reihe von Leiterwagen, alle beladen mit Christbaeumen. "Christbaeume, Christbaeume," jubelte Elschen so laut, dass einer der Fuhrleute, der selbst wie ein Schneemann aussah, herausschaute, und als er das glueckselige Kindergesicht bemerkte, rief: "Fuer dich ist auch einer dabei!" Die Kleine ergluehte vor Freude und winkte dem Schneemann nach. Aber alles auf der Welt ist nur dann schoen und gut, wenn es an seinem richtigen Platz ist, das gilt auch von dem Schnee. Eine einzige Hand voll von diesem schoenen Dezemberschnee kam an den unrichtigen Platz und richtete dadurch Unheil an. Das ging so zu: Im Heimweg von der Schule an einer Strassenecke, wo einige Lateinschueler mit Realschuelern zusammentrafen, gab es ein hitziges Schneeballengefecht. Wilhelm Pfaeffling war auch dabei. Einer der Realschueler hatte ihn und seine Kameraden schon mehrfach getroffen, indem er sich hinter der Strassenecke verbarg, dann rasch hervortrat, seinen Wurf tat und wieder hinter dem Eckhaus verschwand, ehe die anderen ihm heimgeben konnten. Nun aber wollten sie ihn aufs Korn nehmen. Es waren ihm einige tuechtige Schneeballen zugedacht, wurfbereit warteten sie gespannt, bis er sich wieder blicken liesse. Jetzt wurde eine Gestalt sichtbar, die Ballen sausten auf sie zu. Aber es war nicht der Realschueler gewesen, sondern ein gesetzter Herr. Zwei Schneeballen flogen dicht an seinem Kopf vorueber, zwei trafen ihn ganz gleichmaessig auf die rechte und linke Achsel. Und das war nicht der richtige Platz fuer den Schnee! Herr Sekretaer Flossmann, der so ahnungslos um die Ecke gebogen war und so schlecht empfangen wurde, stand still, warf boese Blicke und kraeftige Worte nach den Jungen. Dass sie ihn getroffen hatten, war ja nur aus Ungeschick geschehen, dass nun aber einige laut darueber lachten und dicht an ihm vorbei weiter warfen, das war Frechheit. Zu den ungeschickten hatte auch Wilhelm gehoert, zu den frechen nicht. Nach Pfaefflingscher Art ging er zu dem Herrn, entschuldigte sich und erklaerte das Versehen, half auch noch die Spuren des Schnees abschuetteln. Der Herr schien die Entschuldigung gelten zu lassen und Wilhelm ging nun seines Wegs nach Hause. Er sah nicht mehr, dass Herr Sekretaer Flossmann, als er ein paar Haeuser weit gegangen war, einem Schutzmann begegnete, sich bei ihm beschwerte und verlangte, er solle die Burschen aufschreiben und bei der Polizei anzeigen. Das war nun freilich nicht so leicht zu machen, denn alle, die den Schutzmann kommen sahen, liefen auf und davon. Aber einen von Wilhelms Kameraden fasste er doch noch ab und fragte nach seinem Namen. Der zoegerte mit der Antwort und sah sich um, keiner der Kameraden war noch so nahe, um seine Antwort zu hoeren. "Also, dein Name," draengte der Schutzmann. "Wilhelm Pfaeffling," lautete die Antwort, die vom Schutzmann aufgeschrieben wurde. "Die Wohnung?" "Fruehlingsstrasse." "Jetzt rate ich dir, heim zu gehen, wenn du nicht lieber gleich mit mir auf die Polizei willst." Er liess sich's nicht zweimal sagen. Ein "Wilhelm" war er allerdings auch, aber kein Pfaeffling. Baumann war sein Name. "Das hast du klug gemacht," sagte er bei sich selbst. "Dem Pfaeffling schadet das nichts, der ist ueberall gut angeschrieben, aber bei mir ist das anders, wenn ich noch eine Rektoratsstrafe bekomme, dann heisst's: fort mit dir. Ich sehe auch gar nicht ein, warum gerade ich aufgeschrieben werden sollte, der Pfaeffling hat ebensogut geworfen wie ich." Ahnungslos und mit dem besten Gewissen sass am naechsten Abend unser Wilhelm an seiner lateinischen Aufgabe. Vielleicht war er ein wenig zerstreuter als sonst, denn er hatte sich heute bemueht, seinen Frieder, mit der Harmonika in der Hand, abzuzeichnen, und da war Frieders Gesicht so ausgefallen, dass allen davor graute. Nun musste er unwillkuerlich auf seinem Fliessblatt Studien machen ueber des kleinen Bruders gutmuetiges Gesichtchen, das sich ueber die biblische Geschichte beugte, die vor ihm lag. Dazu kam, dass die Mutter und Elschen nicht am Stricken und Flicken sassen, wie sonst, sondern Zwetschgen und Birnenschnitze zurichteten zu dem Schnitzbrot, das alle Jahre vor Weihnachten gebacken wurde. So waren Wilhelms Gedanken heute zwischen Weihnachten und Latein geteilt; er achtete gar nicht darauf, dass Herr Pfaeffling eintrat und gerade hinter seinen Stuhl kam. "Du, Wilhelm, sieh mich einmal an!" sagte er. Der wandte sich, sah ueberrascht auf und begegnete einem scharfen, durchdringenden Blick. "Was ist's, Vater?" fragte er. "Das frage ich dich," sagte Herr Pfaeffling, "ein Polizeidiener war da und hat dich vorgeladen, fuer morgen, auf die Polizei. Was hast du angestellt?" "Gar nichts," rief Wilhelm und dann, nach einem Augenblick: "es kann doch nicht sein, weil wir gestern beim Schneeballen einen Herrn getroffen haben, der gerade so ungeschickt daher gekommen ist?" "Der Herr wird wohl nicht ungeschickt gekommen sein, sondern ihr werdet ungeschickt geworfen haben. Koennt ihr nicht aufpassen?" rief Herr Pfaeffling, und bei dieser Frage kam Wilhelms Kopf auch so ungeschickt an des Vaters Hand, dass es klatschte. "Aber, Wilhelm," rief die Mutter und schob ihr Weihnachtsgeschaeft beiseite, "warum hast du dich denn wieder nicht entschuldigt?" Aber auf diesen Vorwurf versicherte Wilhelm so eifrig, er habe darin sein Moeglichstes getan, dass man ihm glauben musste. Die ganze Geschwisterschar fing nun an, aufzubegehren ueber den unguten Mann, der trotzdem auf der Polizei geklagt habe, bis die Mutter sie zur Ruhe wies; sie wollte noch genau hoeren, wie die Sache sich zugetragen, und woher man seinen Namen gewusst habe. Das letztere konnte aber Wilhelm nicht erklaeren. "Muss ich denn wirklich auf die Polizei?" fragte er, "um welche Zeit?" "Um 11 Uhr." "Aber da kann ich doch nicht, da haben wir Griechisch. So muss ich es dem Professor sagen, dann erfaehrt es der Rektor und schliesslich kommt die Sache noch ins Zeugnis!" "Natuerlich erfaehrt das der Rektor," sagte Herr Pfaeffling, "die anderen sind jedenfalls auch vorgeladen. Warum machst du so dumme Streiche!" Es war eine Weile still, jedes dachte ueber den Fall nach. "Koenntest du nicht etwa mit ihm auf die Polizei gehen," sagte Frau Pfaeffling zu ihrem Mann, "und ein gutes Wort fuer ihn einlegen?" Herr Pfaeffling ueberlegte. "Morgen, Freitag? Da ist Probe in der Musikschule, da kann ich unmoeglich fort. Das muss er schon allein ausfechten. Es kann ihm auch nicht viel geschehen, wenn es sich nur um einen Schneeballen an die Schulter handelt; war auch gewiss sonst gar nichts dabei, Wilhelm, ich kann es kaum glauben!" "Gar nichts, als dass die andern gelacht und ungeniert weitergeworfen haben, dicht um den Herrn herum, das hat ihn am meisten geaergert. Besonders der Baumann war so frech, du kennst ihn ja, Karl." "Warum treibst du dich auch mit solchen herum? Da heisst es mitgefangen, mitgehangen." Elschen drueckte sich an die Mutter und sagte klaeglich: "Jetzt wird Weihnachten gar nicht schoen." Und es widersprach ihr niemand, fuer diesen Abend wenigstens war die ganze Weihnachts-Vorfreude aus dem Hause gewichen. Noch spaet abends, im Bett, fluesterten die beiden Schwestern zusammen, berieten, ob Wilhelm bei Wasser und Brot in den Arrest gesperrt wuerde, und als Anne eben im Einschlafen war, rief Marie sie noch einmal an und sagte: "Das aergste ist mir erst eingefallen! Wenn Herr Hartwig von der Polizei hoert, dann kuendigt er uns!" Da war es denn schon wieder in der Familie Pfaeffling, das Schreckgespenst, die Kuendigung! So bangen Herzens, wie am naechsten Morgen, hatte sich Wilhelm noch nie auf den Schulweg gemacht. Zwar hatte der Vater ihm an den Professor ein Briefchen mitgegeben, und die Mutter hatte ihm gesagt: "Habe nur keine Angst, ein Unrecht ist's nicht, was du getan hast," aber er hatte ihr doch angemerkt, wie unbehaglich es ihr selbst zumute war, und hatte zufaellig gehoert, wie der Vater zu ihr gesagt hatte: "Eine Mutter von vier Buben muss sich auf allerlei gefasst machen." In der Schule war es sein erstes, sich nach den anderen Uebeltaetern zu erkundigen. "Muesst ihr auch auf die Polizei?" fragte er Baumann und die uebrigen Kameraden, die mitgetan hatten. Kein einziger war vorgeladen! "Du wirst wohl auch noch vorgeladen werden," sagte ein dritter zu Baumann, "dich hat der Schutzmann aufgeschrieben." "Es ist nicht wahr." "Freilich ist's wahr, ich war doch noch ganz in der Naehe und habe es deutlich gesehen." Baumann leugnete und wurde grob, und es war ein erbitterter Streit, als der Professor in die Klasse trat. Er bemerkte gleich die Erregung seiner Schueler und hatte keine Freude daran. Als ihm Wilhelm nun Herrn Pfaefflings Brief reichte und er las, um was es sich handelte, erkundigte er sich gleich, ob noch mehrere vorgeladen seien, und als er hoerte, dass Pfaeffling der einzige sei, sagte er: "Dann moechte ich mir auch ausbitten, dass die anderen sich nicht darum kuemmern. Es ist schon stoerend genug, dass einer vor Schluss der Stunde fort muss, gerade heute, wo die letzte griechische Arbeit vor Weihnachten gemacht wird. Wer sich sein Zeugnis nicht noch verderben will, der nehme seine Gedanken zusammen!" So wurde aeusserlich die Ruhe in der Klasse hergestellt, und es war nicht zu bemerken, wie dem einen Schueler das Herz klopfte vor innerer Entruestung, dass er allein zur Strafe gezogen werden sollte, dem anderen vor Angst darueber, dass sein Betrug an den Tag kommen wuerde. Kurz vor elf Uhr verliess Wilhelm auf einen leisen Wink des Professors das Zimmer. Unheimlich still kam es ihm vor auf den sonst so belebten Gaengen und auf der breiten Treppe, die nicht fuer so ein einzelnes Buerschlein berechnet war, sondern fuer einen Trupp froehlicher Kameraden. Heute begleitete ihn keiner, den sauern Gang auf die Polizei musste er ganz allein tun. Und nun betrat er das grosse Gebaeude, in dem er ganz fremd war, hielt sein Vorladungsformular in der Hand und las: Erster Stock, Zimmer Nr. 12. Leute gingen hin und her, keiner kuemmerte sich um ihn; vor mancher Zimmertuere standen Maenner und Frauen und warteten. Nun war er bei Nr. 10, die uebernaechste Tuere musste die richtige sein, Nr. l2. Vor diesem Zimmer stand ein Mann--und das war Herr Pfaeffling. "Vater!" rief Wilhelm, "o Vater!" und in diesem Ausruf klang die ganze Qual, die Angst und die ganze Wonne der Erloesung. Herr Pfaeffling fasste ihn bei Hand. "Ich habe mich doch auf eine Viertelstunde los gemacht," sagte er, "jetzt komm nur schnell herein, dass wir bald fertig werden!" Im Zimmer Nr. 12 sass ein Polizeiamtmann. Nach einigen Fragen und Antworten kam die Hauptsache zur Sprache: Wilhelm war angezeigt worden, weil er Herrn Sekretaer Flossmann mit Schneeballen getroffen, darnach in frecher Weise gelacht und das Schneeballenwerfen in unmittelbarer Naehe fortgesetzt habe. "So hat sich's verhalten, nicht wahr?" fragte der Amtmann. "Getroffen habe ich einen Herrn aus Versehen," sagte Wilhelm, "aber weiter nichts." Nun mischte sich Herr Pfaeffling ins Gespraech: "Du hast mir erzaehlt, dass du dich ausdruecklich entschuldigt habest und sofort heimgegangen seiest." Da laechelte der Amtmann und sagte: "Damit sollte wohl der Vater besaenftigt werden, in Wahrheit verhielt sich's aber, nach der Aussage des Herrn Sekretaers und des Schutzmanns ganz anders, und Sie werden begreifen, dass ich diesen mehr Glauben schenke als dem Angeklagten; es liegt auch gar nicht in der Art des Herrn Sekretaer Flossmann, einen Jungen zur Anzeige zu bringen, der sich wegen eines Vergehens entschuldigt hat." "Ich darf wohl behaupten," sagte Herr Pfaeffling, "dass sowohl Frechheit als Luege auch nicht im Wesen dieses Kindes liegen. Ich waere sonst nicht mit ihm gekommen, sondern haette mich seiner geschaemt. Waere es nicht moeglich, den Herrn Sekretaer oder den Schutzmann zu sprechen?" "Gewiss," sagte der Amtmann, "Herr Sekretaer hat seine Kanzlei oben und der Schutzmann Schmidt war eben erst bei mir." Er rief einen Polizeidiener. "Bitten Sie Herrn Sekretaer Flossmann, einen Augenblick zu kommen und rufen Sie den Schutzmann Schmidt herein." "Wir machen zwar gewoehnlich nicht so viel Umstaende, wenn es sich um solch eine Bubengeschichte handelt," sagte der Amtmann, "aber wenn Sie es wuenschen, koennen Sie von den beiden selbst hoeren, wie der Verlauf der Sache war." Ein paar Minuten spaeter trat der Sekretaer Flossmann und gleich darnach der Schutzmann ein. "Da ist der Junge," sagte der Amtmann, "der wegen der Schneeballengeschichte aufgeschrieben wurde," aber ehe der Beamte noch weiter sprechen konnte, fiel ihm Herr Sekretaer Flossmann ins Wort, indem er sich an den Schutzmann wandte: "Aber warum haben Sie denn gerade _diesen_ Jungen aufgeschrieben, den einzigen, der sofort aufgehoert hat zu werfen, und der sich in aller Form entschuldigt hat, der mir selbst noch den Schnee abgeschuettelt hat?" und indem er auf Wilhelm zuging, sagte er ganz vertraulich zu ihm: "Wir zwei sind in aller Freundschaft auseinandergegangen, nicht wahr, dich wollte ich nicht anzeigen." Da wandte sich der Amtmann aergerlich an den Schutzmann: "Haben Sie Ihre Sache wieder einmal so dumm wie moeglich gemacht?" Der rechtfertigte sich: "Das ist nicht der Wilhelm Pfaeffling, den ich aufgeschrieben habe. Der meinige hat einen dicken Kopf und ein rotes Gesicht. Sag' selbst, habe ich dich aufgeschrieben?" "Nein, aber es heisst keiner Wilhelm Pfaeffling ausser mir." "Oho," sagte der Amtmann, "da kommt es auf eine falsche Namensangabe hinaus, das muss ein frecher Kamerad sein. Kannst du dir denken, wer dir den Streich gespielt hat?" fragte er Wilhelm. Der besann sich nicht lange. "Jawohl," sagte er, "es ist nur ein solcher Gauner in unserer Klasse." "Wie heisst er?" Da sah Wilhelm seinen Vater an und sagte zoegernd: "Ich kann ihn doch nicht angeben?" "Nein," sagte Herr Pfaeffling, "du weisst es ja doch nicht gewiss, und deine Menschenkenntnis ist nicht gross." "Den Schlingel finde ich schon selbst heraus, den erkenne ich wieder," sagte der Schutzmann, "ich fasse ihn ab um 12 Uhr, wenn die Schule aus ist." Nun wandte sich der Amtmann an Herrn Pfaeffling: "Ich bedaure das Versehen," sagte er, und Wilhelm entliess er mit den Worten: "Du kannst nun gehen, aber halte dich an bessere Kameraden und pass auf mit dem Schneeballenwerfen, in den Strassen ist das verboten, dazu habt ihr euren Schulhof!" Vater und Sohn verliessen miteinander das Polizeigebaeude. "O Vater," rief Wilhelm, sobald sie allein waren, "wie bin ich so froh, dass du gekommen bist! Mir allein haette der Polizeiamtmann nicht geglaubt." "Du hast dich auch nicht ordentlich verteidigt, hast ja nicht einmal erzaehlt, wie der Verlauf war. Bei uns zu Hause hast du deine Sache viel besser vorgebracht." "Mir geht das oft so, Vater, wenn ich spuere, dass man mir doch nicht glauben wird, dann mag ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen. Oft moechte ich etwas erzaehlen oder erklaeren, wie es gemeint war, dann denke ich: ihr haltet das doch nur fuer Schwindel und Ausreden, und dann schweige ich lieber." "Ich kenne das, Wilhelm, es kommt daher, weil es so wenig Menschen genau mit der Wahrheit nehmen, dann trauen sie auch den andern keine strenge Wahrhaftigkeit zu. Aber da darf man sich nicht einschuechtern lassen. Wer recht wahrhaftig ist, darf alles sagen und Glauben dafuer fordern. Halte du es so, und wird dir etwas angezweifelt, so sage du ruhig zu demjenigen: 'Habe ich dich schon einmal angelogen?' Aber freilich musst du sicher sein, dass er darauf 'nein' sagt." Die Beiden waren inzwischen dem Marktplatz nahe gekommen, wo ihre Wege auseinandergingen. "War es dir recht ungeschickt, Vater, aus der Probe wegzukommen?" fragte Wilhelm. "Hoellisch ungeschickt!" sagte Herr Pfaeffling, "ich mochte den Grund nicht angeben, ich sagte nur schnell den Naechstsitzenden etwas von Familienverhaeltnissen und lief davon; wer weiss, was sie sich gedacht haben. Der junge Lehrer wird mich inzwischen vertreten haben, so gut er es eben versteht." "Ich danke dir, Vater," sagte Wilhelm, als er sich trennte, und ganz gegen die Gewohnheit der Familie Pfaeffling griff er rasch nach des Vaters Hand, kuesste sie und lief davon. Als Herr Pfaeffling zu der musikalischen Jugend zurueckkam, sah er viele freundlich laechelnde Gesichter und dachte sich: Die haben es doch schon erfahren, dass du mit deinem Wilhelm auf der Polizei warst, es bleibt nichts verborgen. "Darf man gratulieren?" fragte ihn leise eine Bekannte, als er nahe an ihr vorbeiging. "Jawohl," sagte er, "es ist gut voruebergegangen." Nach ein paar Minuten war er mit vollem Eifer bei der Musik, und Wilhelm in gehobener Stimmung bei seinem griechischen Schriftsteller. "Dir ist es offenbar gnaedig gegangen auf der Polizei," sagte der Professor nach der Stunde zu Wilhelm. "Ja, Herr Professor, es war eine Verwechslung, ich war gar nicht aufgeschrieben worden, ein anderer hat meinen Namen statt seinem angegeben." "Wer? Einer aus meiner Klasse?" "Wer das war, will der Schutzmann erst herausbringen," antwortete Wilhelm. Der Professor hatte kaum das Schulzimmer verlassen, als alle Kameraden sich um Wilhelm draengten und naeheres erfahren wollten, auch Baumann war unter ihnen. Der eine, der schon am Morgen behauptet hatte, dass Baumann aufgeschrieben worden sei, sagte ihm frei ins Gesicht: "Du hast den falschen Namen angegeben." Da versuchte er nimmer zu leugnen, sondern fing an, sich zu entschuldigen: "Dem Pfaeffling hat das doch nichts geschadet, fuer mich waere es viel schlimmer gewesen. Du musst mir's nicht uebelnehmen, Pfaeffling, ich habe ja vorher gewusst, dass dir das nichts macht." "So? frage einmal meinen Vater, ob ihm so etwas nichts macht?" rief Wilhelm, "du bist ein Tropf, ein Luegner, das sage ich dir; aber dem Polizeiamtmann habe ich dich nicht verraten. Wenn dich der Schutzmann nicht wieder erkennt, dann kann es ja wohl sein, dass du dich durchgeschwindelt hast." Nun sprang einer der Kameraden die Treppe hinunter, um zu sehen, ob ein Polizeidiener unten stehe. Richtig war es so. Da wurde verabredet, Baumann in die Mitte zu nehmen, einige Groessere um ihn herum und dann in einem dichten Trupp die Treppe hinunter und bis um die naechste Strassenecke zu rennen. So geschah es. Die meisten Klassen des Gymnasiums hatten sich schon entleert; der Schutzmann stand lauernd am Tor. Da, ploetzlich tauchte ein Trupp von Knaben auf und schoss an ihm vorbei, in solcher Geschwindigkeit, dass er auch nicht _ein_ Gesicht erkannt hatte. Aergerlich ging er seiner Wege, aber hatte er den Uebeltaeter auch noch nicht fassen koennen, das war ihm jetzt sicher, dass er zu dieser Klasse gehoerte, und er sollte ihm nicht entgehen. Wie war fuer Frau Pfaeffling dieser Vormittag daheim so lang und so peinlich! Immer musste sie an Wilhelm denken. 'Er hat gewiss nichts getan, was strafwuerdig ist,' sagte sie sich und dann fragte sie sich wieder: 'warum ist er dann vorgeladen?' Gestern hatte sie in froehlicher Stimmung alles vorbereitet fuer das Weihnachtsgebaeck, heute haette sie es am liebsten ganz beiseite gestellt, alle Lust dazu war weg. Sie muehte sich sonst so gern den ganzen Vormittag im Haushalt und dachte dabei: 'Wenn Mann und Kinder heimkommen von fleissiger Arbeit, sollen sie es zu Hause gemuetlich finden.' Aber wenn die Kinder nicht ihre Schuldigkeit taten, wenn sie draussen Unfug trieben, sollte man dann daheim Zeit und Geld fuer sie verwenden? In dieser Stimmung sah Frau Pfaeffling diesen Morgen manches, was ihr nicht gefiel. Im Bubenzimmer lagen Hausschuhe, nur so leichthin unter das Bett geschleudert; haesslich niedergetreten waren sie auch, wie oft hatte sie das schon verboten! Im Wohnzimmer lag ein Brief, den haetten die Kinder mit zum Schalter nehmen sollen, alle sechs hatten sie ihn sehen muessen, alle sechs hatten ihn liegen lassen, sogar Marianne, die doch als Maedchen allmaehlich ein wenig selbst daran denken sollten, ob nichts zu besorgen waere! Das waren lauter Pflichtversaeumnisse, und wer daheim die Hausgesetze nicht beachtete, der konnte leicht auch draussen gegen die Ordnung verstossen. Aber freilich muesste die Mutter ihre Kinder fester dazu anhalten, strenger erziehen, als sie es tat! Sie selbst war schuld. Elschen, die nicht wusste oder nimmer daran dachte, was die Mutter heute bedrueckte, kam in der froehlichsten Weihnachtsstimmung herbeigesprungen. Walburg hatte ihr die Teigschuessel ausscharren lassen. "Mutter," rief die Kleine, "die Backroehre ist schon geheizt!" Aber die Mutter hatte heute einen unglueckseligen Blick. An dem ganzen kleinen Liebling sah sie nichts als drei Streifen, Spuren von Teig an der Schuerze. "Else, dahin hast du deine Finger gewischt," sagte sie mit ungewohnter Strenge, "gestern erst habe ich dir gesagt, du sollst deine Haende waschen, und nicht an die Schuerze wischen," und sie patschte fest auf die kleinen Haende. Das Kind zog leise weinend ab, und die Mutter sagte sich vorwurfsvoll: 'Deine Kinder sind alle unfolgsam!' Darnach ging sie aber doch zum Backen in die Kueche, das angefangene musste trotz allem vollendet werden. Sie wollte den Schluessel zum Kuechenschrank mit hinausnehmen, fand ihn nicht gleich und dachte bekuemmert: 'Wo die Hausfrau selbst ihre Ordnung nicht einhaelt, muss freilich die ganze Wirtschaft herunterkommen!' In dieser schwarzsichtigen Stimmung vergingen ihr langsam die Stunden, und gegen Mittag sah sie in aengstlicher Spannung nach den Kindern aus. Diese hatten sich alle auf dem Heimweg zusammengefunden und in der Fruehlingsstrasse holte auch Herr Pfaeffling sie ein. Die Losung war nun: "Nur schnell heim zur Mutter, sie allein ist noch in Angst, hat keine Ahnung, wie gut sich alles geloest hat. Wie wird sie sorgen und warten, wie wird sie sich freuen!" Aber nicht nur Frau Pfaeffling passte auf die eilig Heimkehrenden, auch Frau Hartwig sah heute Mittag nach ihnen aus, freilich aus einem ganz andern Grund. Sie hatte diesen Morgen an die Haustuere einen grossen Bogen Papier genagelt, auf dem mit handgrossen roten Buchstaben geschrieben stand: Man bittet die Tuere zu schliessen! Darueber lachte ihr Mann sie aus und versicherte, es wuerde gar nichts helfen, die Pfaefflinge wuerden die Tuere offen stehen lassen. Die Hausfrau nahm ihre Mietsleute in Schutz. "Sie sind viel ordentlicher, als du denkst. Wilhelm und Otto sind ja ein wenig fluechtig, aber Karl ist immer aufmerksam und auch die Maedchen sind manierlich; der kleine Frieder sogar wird zumachen, wenn er hoert, dass es mich sonst friert. Du wirst sehen, die Haustuere wird geschlossen." Um das zu beobachten stand nun die Hausfrau am Fenster, sah wie die Familie Pfaeffling sieben Mann hoch heim kam--eifriger sprechend als sonst, hoerte sie die Treppe hinauf gehen--noch flinker als gewoehnlich, ging dann hinaus, um nachzusehen und fand die Haustuere offen stehend, so weit sie nur aufging. Kopfschuettelnd schloss sie selbst die Tuere. Aber sie verlor nicht den guten Glauben an ihre Mietsleute. Sie hatte ihnen ja wohl angemerkt, dass heute etwas besonderes los war. Im Zimmer fragte Herr Hartwig: "Nun, wer hat denn zugemacht?" Etwas kleinlaut erwiderte sie: "Zugemacht habe ich." Droben herrschte nach ueberstandener Angst grosse Freude; auch Frau Pfaeffling war es wieder leicht ums Herz, gluecklich und dankbar sass die ganze Familie am Essen. Aber doch--zwischen Suppe und Fleisch--sagte die Mutter: "Marianne, warum habt ihr den Brief nicht in den Schalter geworfen?" "Vergessen!" "So geht jetzt und besorgt ihn." "Aber doch _nach_ dem Essen?" fragte fast einstimmig der Kinderchor. "Nein, nein, eben zwischen hinein, damit ihr es merkt. Ich kann euch nicht helfen, ich haette gar kein gutes Gewissen, wenn ich es nicht verlangte." Da widersprach niemand mehr, die Mutter konnte man sich nicht mit schlechtem Gewissen vorstellen. Die Maedchen gingen mit dem Brief, Herr Pfaeffling sah seine Frau verwundert an. Sie ging nach Tisch mit ihm in sein Zimmer. Da sagte sie ihm, wie schwer es ihr den ganzen Vormittag zumute gewesen sei, und es kamen ihr fast jetzt noch die Traenen. Sie sprachen lange miteinander, dann kehrte Herr Pfaeffling in das Wohnzimmer zurueck, wo die Grossen noch beisammen waren. "Hoert, ich moechte euch dreierlei sagen: Erstens: sorgt jetzt, dass vor Weihnachten nichts mehr vorkommt, gar nichts mehr, denn bis man weiss, wie die Sachen hinausgehen, sind sie doch recht unangenehm, besonders fuer die Mutter. Zweitens: Sagt dem Baumann: er solle sich bei Herrn Sekretaer Flossmann entschuldigen, sonst werde es schlimm fuer ihn ausgehen. Drittens: Walburg soll eine Tasse Kaffee fuer die Mutter machen, es wird ihr gut tun, oder zwei Tassen." Einer von Herrn Pfaefflings guten Ratschlaegen konnte nicht ausgefuehrt werden, denn Wilhelm Baumann wurde noch an diesem Nachmittag aus der Schule weg und auf die Polizei geholt und war von da an aus dem Gymnasium ausgewiesen. Am Abend ueberbrachte ein Dienstmaedchen einen schoenen Blumenstock--eine Musikschuelerin liess Frau Pfaeffling gratulieren. "Ich werde morgen hinkommen und mich bedanken," liess Herr Pfaeffling sagen. Ja, es gibt allerlei Freuden, zu denen man gratulieren kann! Warum nicht auch, wenn ein unschuldig Verklagter freigesprochen wird? Oder war etwas anderes gemeint? 6. Kapitel Am kuerzesten Tag. Es war der 21. Dezember, der kuerzeste Tag des Jahres. Um dieselbe Tageszeit, wo im Hochsommer die Sonne schon seit fuenf Stunden am Himmel steht, sass man heute noch bei der Lampe am Fruehstueckstisch, und als diese endlich ausgeblasen wurde, war es noch trueb und daemmerig in den Haeusern. Allmaehlich aber hellte es sich auf und die Sonne, wenn sie gleich tief unten am Horizont stand, sandte doch ihre schraegen Strahlen den Menschenkindern, die heute so besonders geschaeftig durcheinander wimmelten. Es war ja der letzte Samstag vor Weihnachten, zugleich der Thomastag, ein Feiertag fuer die Schuljugend. Jedermann wollte die wenigen hellen Stunden benuetzen, um Einkaeufe zu machen. Wieviel Gaense und Hasen wurden da als Festbraten heimgeholt und wieviel Christbaeume! Auf den Plaetzen der Stadt standen sie ausgestellt, die Fichten und Tannen, von den kleinsten bis zu den grossen stattlichen, die bestimmt waren, Kirchen oder Saele zu beleuchten. Mitten zwischen diesen Baeumen, von ihrem weihnaechtlichen Duft und Anblick ganz hingenommen und im Anschauen versunken, stand unser kleiner Frieder. Er hatte fuer den Vater etwas in der Musikalienhandlung besorgt, kam nun heimwaerts ueber den Christbaummarkt und konnte sich nicht trennen. Nun stand er vor einem Baeumchen, nicht groesser als er selbst, saftig gruen und buschig. Sie mochten vielleicht gleich alt sein, dieser Bub und dies Baeumchen und sahen beide so rundlich und kindlich aus. Sie standen da, vom selben Sonnenstrahl beleuchtet und wie wenn sie zusammen gehoerten, so dicht hielt sich Frieder zum Baum. "Du! dich meine ich, hoerst du denn gar nichts; _so_ wirst du nicht viel verdienen!" sagte ploetzlich eine rauhe Stimme, und eine schwere Hand legte sich von hinten auf seine Schulter. Frieder erwachte wie aus einem Traum, wandte sich und sah sich zwei Frauen gegenueber. Die ihn angerufen hatte, war eine grosse, derbe Person, eine Verkaeuferin. Die andere eine Dame mit Pelz und Schleier. "Pack an, Kleiner, du sollst der Dame den Baum heimtragen, du weisst doch die Luisenstrasse?" sagte die Frau und legte ihm den Baum ueber die Schulter. "Ist der Junge nicht zu klein, um den Baum so weit zu tragen?" fragte die Dame. "O bewahre," meinte die Haendlerin, "der hat schon ganz andere Baeume geschleppt, sagen Sie ihm nur die Adresse genau, wenn Sie nicht mit ihm heim gehen." "Luisenstrasse 43 zu Frau Dr. Heller," sagte die Dame. "Sieh, auf diesem Papier ist es auch aufgeschrieben. Halte dich nur nicht auf, dass dich's nicht in die Haende friert." Da Frieder immer noch unbeweglich stand, gab ihm die Verkaeuferin einen kleinen Anstoss in der Richtung, die er einzuschlagen hatte. Frieder, den Baum mit der einen Hand haltend, den Papierzettel in der andern, trabte der Luisenstrasse zu. Er hatte so eine dunkle Ahnung, dass er mehr aus Missverstaendnis zu diesem Auftrag gekommen war, er wusste es aber nicht gewiss. Die Damen konnten die Baeume nicht selbst tragen, so mussten eben die Buben helfen. Er sah manche mit Christbaeumen laufen, freilich meist groessere. Er war eigentlich stolz, dass man ihm einen Christbaum anvertraut hatte. Wenn ihm jetzt nur die Brueder begegnet waeren oder gar der Vater! Wie die Zweige ihn so komisch am Hals kitzelten, wie ihm der Duft in die Nase stieg und wie harzig die Hand wurde! Allmaehlich drueckte der Baum, obwohl er nicht gross war, unbarmherzig auf die Schulter, man musste ihn oft von der einen auf die andere legen, und bei solch einem Wechsel entglitt ihm das Papierchen mit der Adresse und flatterte zu Boden, ohne dass die steife, von der Kaelte erstarrte Hand es empfunden haette. Nun schmerzten ihn die beiden Schultern, er trug den Baum frei mit beiden Haenden. Aber da wurde Frieder hart angefahren von einem Mann, der ihm entgegen kam: "Du, du stichst ja den Menschen die Augen aus, halte doch deinen Baum hinter dich, so!" und der Voruebergehende schob ihm den Baum unter den Arm. Nach kuerzester Zeit kam von hinten eine Stimme: "Du, Kleiner, du kehrst ja die Strasse mit deinem Christbaum, halte doch deinen Baum hoch!" Ach, das war eine schwierige Sache! Aber nun war auch die Luisenstrasse gluecklich erreicht. Freilich, die Adresse war abhanden gekommen, aber Frieder hatte sich das wichtigste gemerkt, Nr. 42 oder 43 und im zweiten Stock und bei einer Frau Doktor, das musste nicht schwer zu finden sein. In Nr. 42a wollte niemand etwas von dem Baum wissen, aber in Nr. 42b bekam Frieder guten Bescheid, das Dienstmaedchen wusste es ganz gewiss, der Baum gehoerte nach Nr. 47, die Dame war zugleich mit ihr auf dem Markt gewesen und hatte einen Baum gekauft. Also nach Nr. 47. Als man ihm dort seinen Baum wieder nicht abnehmen wollte, kamen ihm die Traenen, und eine mitleidige Frau hiess ihn sich ein wenig auf die Treppe setzen, um auszuruhen. "In der Luisenstrasse wohnt nur _ein_ Doktor," sagte sie, "und das ist Dr. Weber in Nr. 24, bei dem musst du fragen." Unser Frieder haette nun lieber in Nr. 43 angefragt, denn er meinte sich zu erinnern, das sei die richtige Nummer, aber Frieder traute immer allen Leuten mehr zu als sich selbst, und so folgte er auch jetzt wieder dem Rat, ging an Nr. 43 vorbei bis an Nr. 24 und hoerte dort von dem Dienstmaedchen der Frau Dr. Weber, sie haetten laengst einen Baum und einen viel schoeneren und groesseren. Jetzt aber tropften ihm die dicken Traenen herunter, und als er wieder auf der Strasse stand, wurde ihm auf einmal ganz klar, wo er jetzt hingehen wollte--heim zur Mutter. Es musste ja schon spaet sein, vielleicht gar schon Essenszeit. Kam er da nicht heim, so hatte die Mutter Angst, und der Vater hatte ja gesagt, es duerfe nichts, gar nichts mehr vorkommen vor Weihnachten. Also nur schnell, schnell heim! Und es war wirklich hoechste Zeit. Niemand hatte bis jetzt Frieders langes Ausbleiben bemerkt, als nun aber Marie und Anne anfingen, den Tisch zu decken, sagte Elschen: "Frieder hat versprochen, mit mir zu spielen, und nun ist er den ganzen Vormittag weggeblieben!" "Er ist gewiss schon laengst bei den Bruedern, im Hof, auf der Schleife. Sieh einmal nach ihm," sagten die Schwestern. Aber Frieder war verschollen und die Geschwister fingen an, sich zu aengstigen, nicht sowohl fuer den kleinen Bruder--was sollte dem zugestossen sein--, aber wenn er nicht zu Mittag kaeme, wuerden sich die Eltern sorgen und darueber aergern, dass doch wieder etwas vorgekommen sei. "Er wird doch kommen bis zum Essen," sagten sie zueinander und, als nun die Mutter ins Zimmer trat, sprachen sie von allerlei, nur nicht von Frieder. Elschen stand an der Treppe, nun kam der Vater heim, froehlich und guter Dinge und fragte gleich: "Ist das Essen schon fertig?" "Es ist noch nicht halb ein Uhr," entgegnete Karl, der die Frage gehoert hatte. "Es wird gleich schlagen," meinte der Vater, ging aber doch noch in sein Zimmer. Im Vorplatz berieten leise die Geschwister: "Wenn man nur das Essen ein wenig verzoegern koennte," sagte Karl. "Das will ich machen," fluesterte Marie, ging in die Kueche, zog Walburg zu sich und rief ihr dann ins Ohr: "Frieder ist noch nicht daheim, der Vater wird so zanken, und die Mutter wird Angst haben, kannst du nicht machen, dass man spaeter isst?" Walburg nickte freundlich, ging an den Herd, deckte ihre Toepfe auf und sagte dann: "Du kannst der Mutter sagen, den Linsen taete es gut, wenn sie noch eine Weile kochen duerften." Da sprang Marie befriedigt hinaus, Walburgs Ausspruch ging von Mund zu Mund, und bis es der Mutter zu Ohren kam, waren die Linsen ganz hart. "So?" sagte sie verwundert, "mir kamen sie weich vor, aber wir koennen ja noch ein wenig mit dem Essen warten." "Ja, harte Linsen sind nicht gut, sind ganz schlecht," sagten die Kinder. So vergingen fuenf Minuten. Inzwischen lief unser Frieder, so schnell er es nur mit seinem Baum vermochte. Jetzt trabte er die Treppe herauf, und bei seinem Klingeln eilten alle herbei, um aufzumachen. Frau Pfaeffling merkte jetzt, dass etwas nicht in Ordnung war und ging auch hinaus. Da stand Frieder ganz ausser Atem, mit gluehenden Backen, den Christbaum auf der Schulter und fragte aengstlich: "Isst man schon?" Als er aber hoerte, dass die Mutter ihn nicht vermisst hatte, und sah, wie man seinen Baum anstaunte und die Mutter so freundlich sagte: "Stell ihn nur ab, du gluehst ja ganz," da wurde ihm wieder leicht ums Herz. Sie meinten alle, der Christbaum gehoere Frieder. "Nein, nein," sagte dieser, "ich muss ihn einer Frau bringen, ich weiss nur nimmer, wie sie heisst und wo sie wohnt." Da lachten sie ihn aus und wollten alles genau hoeren, auch Herr Pfaeffling war hinzu gekommen und hoerte von Frieders Irrfahrten, nahm ihn bei der Hand und sagte: "Nun komm nur zu Tisch, du kleines Dummerle, du!" Die Linsen waren nun ploetzlich weich, und wie es Frieder schmeckte, laesst sich denken. Beim Mittagessen wurde beraten, wie man den Christbaum zu seiner rechtmaessigen Besitzerin bringen koenne. "Einer von euch Grossen muss mit Frieder gehen, ihm helfen den Baum tragen," sagte Frau Pfaeffling. "Aber wir Lateinschueler koennen doch nicht in der Luisenstrasse von Haus zu Haus laufen, wie arme Buben, die die Christbaeume austragen," entgegnete Karl. "Wenn mir da z.B. Rudolf Meier begegnete," sagte Otto, "vor dem wuerde ich mich schaemen." "So, so," sagte Herr Pfaeffling, "seid ihr zu vornehm dazu? Dann muss wohl ich meinen Kleinen begleiten," und er nahm den Baum, der in der Ecke stand, hob ihn frei hinaus, dass er die Decke streifte und sagte spassend: "So werde ich durch die Luisenstrasse ziehen, eine Schelle nehmen und ausrufen: 'Wem der Baum gehoert, der soll sich melden.'" "Ich denke doch," sagte Frau Pfaeffling, "einer von unseren dreien wird so gescheit sein und sich nicht darum bekuemmern, wenn auch je ein Kamerad denken sollte, dass er fuer andere Leute Gaenge macht." Sie schwiegen aber. Da setzte Herr Pfaeffling den Baum wieder ab und sagte sehr ernst: "Kinder, fangt nur das gar nicht an, dass ihr meint: dies oder jenes passt sich nicht, das koennten die Kameraden schlecht auslegen. Mit solchen kleinlichen Bedenken kommt man schwer durchs Leben, fuehlt sich immer gebunden und haengt schliesslich von jedem Rudolf Meier ab." Nach dem Essen wurde Herr Hartwig um das Adressbuch gebeten und mit Hilfe dessen und Frieders Erinnerung war bald festgestellt, dass der Baum in die Luisenstrasse Nr. 43 zu Frau Dr. Heller gehoerte. Die drei grossen Brueder standen beisammen und berieten. "Ich mache mir nichts daraus, den Baum zu tragen," sagte Wilhelm, "ich haette gar nicht gedacht, dass es dumm aussieht, wenn ihr es nicht gesagt haettet." "Aber wenn du hinkommst, musst du dich darauf gefasst machen, dass man dir ein Trinkgeld gibt," sagte Karl. "Um so besser, wenn's nur recht gross ist, ich habe ohnedies keinen Pfennig mehr." Die Beratung wurde unterbrochen durch die Mutter, die mit Frieder ins Zimmer kam und sagte: "Die Dame wird gar nicht begreifen, wo ihr Baum so lang bleibt, tragt ihn jetzt nur gleich fort. Otto, du gehst mit, deinem alten Mantel schadet es am wenigsten, wenn der Baum wetzt." Diesem bestimmten Befehl gegenueber gab es keinen Widerspruch mehr. Otto musste sich bequemen, Frieder zu begleiten. Sie gingen nebeneinander und waren bis an die Luisenstrasse gekommen, als Otto ploetzlich seinem Frieder den Baum auf die Schulter legte und sagte: "Da vornen kommen ein paar aus meiner Klasse, die lachen mich aus, wenn sie meinen, ich muesse den Dienstmann machen. Das letzte Stueck kannst du doch den Baum selbst tragen? Und kannst dich auch selbst entschuldigen, nicht?" "Gut kann ich," sagte Frieder und ging allein seines Weges. Wie einfach war das nun. Am Glockenzug von Nr. 43 stand angeschrieben: "Dr. Heller", das stimmte alles ganz gut mit dem Adressbuch und oben im zweiten Stock stand noch einmal der Name. Diesmal war Frieder an der rechten Tuere. Otto hatte sich inzwischen seinen Kameraden angeschlossen und war ein wenig mit ihnen herumgeschlendert, denn er wollte nicht frueher als Frieder nach Hause kommen. Als er sich endlich entschloss, heim zu gehen, war es ihm nicht behaglich zumute; es reute ihn doch, dass er den Kleinen zuletzt noch im Stich gelassen hatte. In der Fruehlingsstrasse wollte er mit dem Bruder wieder zusammentreffen. Er wartete eine Weile vergeblich auf ihn, dann ging ihm die Geduld aus, vermutlich war Frieder schon laengst daheim. Er hoffte ihn oben zu finden, aber es war nicht so, das konnte er gleich daran merken, dass er von allen Seiten gefragt wurde: wie es mit dem Baum gegangen sei? Nun musste er freilich erzaehlen, dass er nur bis in die Naehe des Hauses Nr. 43 den Baum getragen, und dann mit einigen Freunden umgekehrt sei. Aber nun hoerte man auch schon wieder jemand vor der Glastuere, das konnte Frieder sein, und dann war ja die Sache in Ordnung. Sie machten auf: da stand der kleine Ungluecksmensch und hatte wieder seinen Christbaum im Arm! Sie trauten ihren Augen kaum. "Ja Frieder, hast du denn die Wohnung nicht gefunden?" riefen sie fast alle zugleich. Da zuckte es um seinen Mund, er wuergte an den Traenen, die kommen wollten, und presste hervor: "Neunmal geklingelt, niemand zu Haus!" Sie waren nun alle voll Mitleid, aber sie konnten auch nicht verstehen, warum er nicht oben oder unten bei anderen Hausbewohnern angefragt haette. Daran hatte er eben gar nicht gedacht. "Deshalb gibt man solch einem kleinen Dummerle einen groesseren Bruder mit," sagte Frau Pfaeffling, "aber wenn der freilich so treulos ist und vorher umkehrt, dann ist der Kleine schlecht beraten." "Jetzt wird der Sache ein Ende gemacht," rief Wilhelm, "ich gehe mit dem Baum und das duerft ihr mir glauben, ich bringe ihn nicht mehr zurueck," und flink fasste er den Christbaum, der freilich schon ein wenig von seiner Schoenheit eingebuesst hatte, und sprang leichtfuessig davon. In der Luisenstrasse Nr. 43 wurde ihm aufs erste Klingeln aufgemacht und sofort rief das Dienstmaedchen: "Frau Doktor, jetzt kommt der Baum doch noch!" Eine lebhafte junge Frau eilte herbei und rief Wilhelm an: "Wo bist du denn so lang geblieben, Kleiner? Aber nein, du bist's ja gar nicht, dir habe ich keinen Baum zu tragen gegeben, der gehoert nicht mir." Wilhelm erzaehlte von den Wanderungen, die der Baum mit verschiedenen jungen Pfaefflingen gemacht hatte. "Der Kleine dauert mich," sagte die junge Frau. "Das zweite Mal, als er kam, war ich wohl mit meinem Maedchen wieder auf dem Markt, ich habe naemlich nicht gedacht, dass er noch kommt, und habe einen andern geholt, ich brauche ihn schon heute abend zu einer kleinen Gesellschaft, da konnte ich nicht warten. Was mache ich nun mit diesem Baum? Habt ihr wohl schon einen zu Haus? Ich wuerde euch den gern schenken." "Wir haben noch keinen," sagte Wilhelm. "Also, das ist ja schoen, dann nimm ihn nur wieder mit, und dem netten kleinen Dicken, der so viel Not gehabt hat, moechte ich noch einen Lebkuchen schicken, den bringst du ihm, nicht wahr?" Auch dazu war Wilhelm bereit, und kurz nachher rannte er vergnuegt mit seinem Baum heimwaerts. Der kurze Dezembernachmittag war schon zu Ende und die Lichter angezuendet, als Wilhelm heim kam. Die Schwestern, welche die Ganglampe geraubt hatten, kamen eilig mit derselben herbei, als Wilhelm klingelte, und liessen sie vor Schreck fast aus der Hand fallen, als sie den Baum sahen. "Der Baum kommt wieder!" schrien die Maedchen ins Zimmer. "Unmoeglich!" rief die Mutter. "Ja doch," sagte Karl, "der Baum, der unglueckselige Baum!" "Gelt," rief Frieder, "es wird nicht aufgemacht, wenn man noch so oft klingelt!" Aber Wilhelm lachte, zog vergnuegt den Lebkuchen aus der Tasche, und gab ihn Frieder: "Der ist fuer dich von deiner Frau Dr. Heller, und der Baum, Mutter, der gehoert uns, ganz umsonst!" Als Herr Pfaeffling heim kam, ergoetzte er sich an der Kinder Erzaehlung von dem Christbaum, aber er merkte, dass es Otto nicht recht wohl war bei der Sache, und wollte sie eben deshalb genauer hoeren. "Also so hat sich's verhalten," sagte er schliesslich, "vor dem Lachen der Kameraden hast du dich so gefuerchtet, dass du den Bruder und den Baum im Stich gelassen hast? Dann heisse ich dich einen Feigling!" Weiter wurde nichts mehr ueber die Sache gesprochen, aber dies eine Wort "Feigling", vom Vater ausgesprochen, vor der ganzen Familie, das brannte und schmerzte und war nicht einen Augenblick an diesem Abend zu vergessen. Es war auch am naechsten Morgen, an dem vierten Adventssonntag, Ottos erster Gedanke. Es trieb ihn um, er konnte dem Vater nicht mehr unbefangen ins Gesicht sehen. Da trachtete er, mit der Mutter allein zu sprechen, und sie merkte es, dass er ihr nachging, und liess sich allein finden, in dem Bubenzimmer. "Mutter," sagte er, "ich kann gar nicht vergessen, was der Vater zu mir gesagt hat. Soll ich ihn um Entschuldigung bitten? Was hilft es aber? Er haelt mich doch fuer feig." "Ja, Otto, er muss dich dafuer halten, denn du bist es gewesen und zwar schon manchmal in dieser Art. Immer abhaengig davon, wie die anderen ueber dich urteilen. Da hilft freilich keine Entschuldigung, da hilft nur ankaempfen gegen die Feigheit, Beweise liefern, dass du auch tapfer sein kannst." Am Montag nachmittag, als die Kinder alle von der Schule zurueckkehrten, fehlte Otto. Er kam eine ganze Stunde spaeter heim und dann suchte er zuerst den Vater in dessen Zimmer auf. Herr Pfaeffling sah von seinen Musikalien auf. "Willst du etwas?" "Ja, dich bitten, Vater, dass du das Wort zuruecknimmst. Du weisst schon welches. Ich bin deswegen heute nachmittag lang auf dem Christbaummarkt gestanden und habe dann fuer jemand einen Baum heimgetragen. Drei von meiner Klasse haben es gesehen. Und da sind die 20 Pfennig Trinkgeld, die ich bekommen habe." Da sah Herr Pfaeffling mit froehlichem, warmem Blick auf seinen Jungen und sagte: "Es gibt allerlei Heldentum, das war auch eines; nein, Kind, du bist doch kein Feigling!" 7. Kapitel Immer noch nicht Weihnachten. Der letzte Schultag vor Weihnachten war gekommen. Wer sich von der Familie Pfaeffling am meisten freute auf den Schulschluss, das war gerade das einzige Glied derselben, das noch nicht zur Schule ging, das Elschen. Ihr war die Schule die alte Feindin, die ihr, solange sie zurueckdenken konnte, alle Geschwister entzog, die unbarmherzig die schoensten Spiele unterbrach, die ihre dunkeln Schatten in Gestalt von Aufgaben ueber die ganzen Abende warf und die auch heute schuld war, dass die Geschwister, statt von Weihnachten, nur von den Schulzeugnissen redeten, die sie bekommen wuerden. Sie sassen jetzt beim Fruehstueck, aber es wurde hastig eingenommen, die Schulbuecher lagen schon bereit, und gar nichts deutete darauf hin, dass morgen der heilige Abend sein sollte. Die Kleine wurde ganz ungeduldig und missmutig. "Vater," sagte sie aus dieser Stimmung heraus, "gibt es gar kein Land auf der ganzen Welt, wo keine Schule ist?" "O doch," antwortete Herr Pfaeffling, "in der Wueste Sahara zum Beispiel ist zurzeit noch keine eroeffnet." "Da musst du Musiklehrer werden, Vater," rief die Kleine ganz energisch. Aber da alle nur lachten, sogar Frieder, merkte sie, dass der Vorschlag nichts taugte, und sie sah wieder, dass gegen die Schule ein fuer allemal nichts zu machen war. Heute sollte sie das besonders bitter empfinden. Als sie nach der letzten Schulstunde den grossen Bruedern froehlich entgegenkam, wurde sie nur so beiseite geschoben; die Drei waren in eifrigem, aber leise gefuehrtem Gespraech und verschwanden miteinander in ihrem Schlafzimmer. Es waren naemlich die Zeugnisse ausgeteilt worden, und da zeigte es sich, dass Wilhelm in der Mathematik die Note "4" bekommen hatte, die geringste Note, die gegeben wurde. Das war noch nie dagewesen, die Zahl 4 war bisher in keinem Zeugnisheft der jungen Pfaefflinge vorgekommen. "So dumm sieht der Vierer aus," sagte Wilhelm, "was hilft es mich, dass ein paar Zweier sind, wo das letztemal Dreier waren, der Vater sieht doch auf den ersten Blick den Vierer." "Ja," sagte Karl, "gerade so wie unser Professor auch in der schoensten Reinschrift immer nur die eine Stelle sieht, wo etwas korrigiert ist." "Wenn wir es nur einrichten koennten, dass wir die Zeugnishefte erst nach Weihnachten zeigen muessten. Meint ihr, das geht?" "Nein," sagte Karl, "man hat sonst jeden Tag Angst, dass der Vater darnach fragt. Aber es kann freilich die Freude verderben; haettest du es nicht wenigstens zu einem schlechten Dreier bringen koennen?" Wilhelm blieb darauf die Antwort schuldig. Die Schwestern waren inzwischen auch mit ihren Zeugnissen heimgekommen und suchten die Brueder auf. Marie warf nur einen Blick auf die Gruppe, dann sagte sie: "Gelt, ihr seid schlecht weggekommen?" und da keine Antwort erfolgte, fuhr sie fort: "Unsere Zeugnisse sind gut, besser als das letztemal, und der Frieder hat auch gute Noten. Dann wird der Vater schon zufrieden sein." "Nein," sagte Wilhelm, "er wird nur meinen Vierer sehen." "O, ein Vierer?" "O weh!" riefen die Schwestern. "So jammert doch nicht so," rief Wilhelm, "sagt lieber, was man machen soll, dass der Vater die Zeugnisse vor Weihnachten nicht ansieht?" Sie berieten und besannen sich eine Weile, ein Wort gab das andere und zuletzt wurde beschlossen, die Noten sollten alle zusammengezaehlt und dann die Durchschnittsnote daraus berechnet werden. Diese musste, trotz des fatalen Vierers, ganz gut lauten, so dass die Eltern wohl befriedigt sein konnten. Die Mutter hatte ueberdies selten Zeit, die Heftchen anzusehen, und dem Vater wollte man die schoene Durchschnittsnote in einem geschickten Augenblick mitteilen, dann wuerde er nicht weiter nachfragen; erst nach Neujahr mussten die Zeugnisse unterschrieben werden, bis dahin hatte es ja noch lange Zeit, so weit hinaus sorgte man nicht. Wilhelm war sehr vergnuegt ueber den Gedanken, Otto, der das beste Zeugnis hatte, war zwar weniger damit einverstanden, wurde aber ueberstimmt, und sie machten sich nun an die Durchschnittsberechnung. Wilhelm holte Frieder herbei, der hatte der Mutter schon sein Zeugnis gezeigt, nun wurde es ihm von den Bruedern abgenommen. "Seht nur," sagte Wilhelm, "wie der sich diesmal hinaufgemacht hat!" "Dafuer kann ich nichts," sagte Frieder, "die Mutter sagt, das kommt nur von der Harmonika. Wahrscheinlich, wenn ich eine neue zu Weihnachten bekomme, werden die Noten wieder schlechter. Gibst du mir mein Heft wieder, Karl?" "Nein, das brauchen wir noch, sei nur still, dass ich rechnen kann." "Geh lieber hinaus, Frieder," sagte Marie muetterlich, "das Elschen hat sich so gefreut auf dich," und sie schob den Kleinen zur Tuere hinaus. Es ergab sich eine gute Durchschnittsnote, und Marie wollte es uebernehmen, sie dem Vater so geschickt mitzuteilen, dass er gewiss nicht nach den Heften fragen wuerde. Sie wartete den Augenblick ab, wo Herr Pfaeffling sich richtete, um zum letztenmal vor dem Fest in das Zentralhotel zu gehen. An seinen raschen Bewegungen bemerkte sie, dass er in Eile war. "Vater," sagte sie, "wir haben alle unsere Zeugnisse bekommen und die Noten zusammengezaehlt. Dann hat Karl berechnet, was wir fuer eine Durchschnittsnote haben, weisst du, was da herausgekommen ist? Magst du raten, Vater?" "Ich kann mich nicht mehr aufhalten, ich muss fort, aber hoeren moechte ich es doch noch gerne, eine Durchschnittsnote von allen Sechsen? Zwei bis drei vielleicht?" "Nein, denke nur, Vater, eins bis zwei, ist das nicht gut?" "Recht gut," sagte Herr Pfaeffling; er hatte nun schon den Hut auf und Marie bemerkte noch schnell unter der Tuere: "Die Zeugnisheftchen will ich alle in der Mutter Schreibtisch legen, dass du sie dann einmal unterschreiben kannst." "Ja, hebe sie nur gut auf," rief Herr Pfaeffling noch von der Treppe herauf. Die kleine List war gelungen, die Heftchen wurden sehr sorgfaeltig, aber sehr weit hinten im Schreibtisch geborgen; ungesucht wuerden sie da niemand in die Haende fallen. Herr Pfaeffling freute sich jedesmal auf die Stunden im Zentralhotel, denn es war dort mehr ein gemeinsames Musizieren als ein Unterrichten und so betrat er auch heute in froehlicher Stimmung das Hotel. Diesmal stand die grosse Fluegeltuere des untern Saales weit offen, Tapezierer waren beschaeftigt, die Waende zu dekorieren, der Besitzer des Hotels stand mitten unter den Handwerksleuten und erteilte ruhig und bestimmt seine Befehle. "Das ist auch ein General," dachte Herr Pfaeffling, nachdem er einige Augenblicke zugesehen hatte. Grosse Taetigkeit herrschte in den untern Raeumen. An der angelehnten Tuere des Speisezimmers stand ein kleiner Kellner, die Serviette ueber dem Arm, einige Flaschen in der Hand und sah zu, wie eben zwei hohe Tannenbaeume in den Saal getragen wurden. Aber ploetzlich fuhr der kleine Bursche zusammen, denn hinter ihm ertoente eine scheltende Stimme: "Was stehst du da und hast Maulaffen feil, mach dass du an dein Geschaeft gehst!" Es war Rudolf Meier, der den Saeumigen so anfuhr. Als er Herrn Pfaeffling gewahrte, gruesste er sehr artig und sagte: "Man hat seine Not mit den Leuten, heutzutage taugt das Pack nicht viel." Eine Antwort erhielt Rudolf nicht auf seine Rede, ohne ein Wort ging Herr Pfaeffling an ihm vorbei, die Treppe hinauf. Rudolf sah ihm nachdenklich nach. Es kam ihm oefters vor, dass er auf seine verstaendigsten Reden keine Antwort bekam, und zwar gerade von den Leuten, die er hoch stellte. Andere ruehmten ihn ja oft und sagten ihm, er spreche so klug wie sein Vater; ob wohl solche Leute, wie Herr Pfaeffling noch groessere Ansprueche machten? Rudolf stellte sich die Brueder Pfaeffling vor. Wie kindisch waren sie doch im Vergleich mit ihm, sogar Karl, der aelteste; diesen Unterschied musste ihr Vater doch empfinden, es musste ihm doch imponieren, dass er schon so viel weiter war! Der kleine Kellner konnte es wohl noch bemerkt haben, wie geringschaetzig Herr Pfaeffling an ihm voruebergegangen war: so etwas erzaehlten sich dann die Dienstboten untereinander und spotteten ueber ihn, das wusste er wohl. Ja, er hatte keine leichte Stellung im Haus. Indessen war Herr Pfaeffling die ihm laengst vertraute Treppe hinaufgesprungen. Droben empfing ihn schon das flotte Geigenspiel seiner Schueler, und nun wurde noch einmal vor Weihnachten ausgiebig musiziert. "Es wird ein Ball im Hotel arrangiert zur Weihnachtsfeier," erzaehlte ihm die Generalin am Schluss der Stunde, "es soll sehr schoen werden." "Ja," sagte der General, "der Hotelier gibt sich alle Muehe, seinen Gaesten viel zu bieten, er ist ein tuechtiger Mann und versteht sein Geschaeft ausgezeichnet, aber sein Sohn _spricht_ nur von Arbeit und tut selbst keine! Der Sohn wird nichts." Als Herr Pfaeffling sich fuer die Weihnachtsferien verabschiedet hatte und hinausging, sah er am Fenster des Korridors eben _den_ Sohn stehen, ueber den einen Augenblick vorher das vernichtende Urteil gefaellt war: "Er wird nichts." Kann es ein traurigeres Wort geben einem jungen Menschenkind gegenueber? Herr Pfaeffling konnte diesmal nicht teilnahmslos an ihm voruebergehen. Rudolf Meier stand auch nicht zufaellig da. Er wusste vielleicht selbst nicht genau, was ihn hertrieb. Es war das Beduerfnis, sich Achtung zu verschaffen von diesem Mann. Ein anderes Mittel hiezu kannte er nicht, als seine eigenen Leitungen zur Sprache zu bringen. "Wuensche froehliche Feiertage," redete er Herrn Pfaeffling an. "Fuer andere Menschen beginnen ja nun die Ferien, fuer uns bringt so ein Fest nur Arbeit." Herr Pfaeffling blieb stehen. "Ja," sagte er, "ich sehe, dass Ihr Vater sehr viel zu tun hat, aber wenn die Gaeste versorgt sind, haben Sie doch wohl auch Ihre Familienfeier, Ihre Weihnachtsbescherung?" "Ne, das gibt es bei uns nicht. Frueher war das ja so, als ich klein war und meine Mutter noch lebte, aber ich bin nicht mehr so kindisch, dass ich jetzt so etwas fuer mich beanspruchte. Ich habe auch keine Zeit. Sie begreifen, dass ich als einziger Sohn des Hauses ueberall nachsehen muss. Die Dienstboten sind so unzuverlaessig, man muss immer hinter ihnen her sein." "Lassen sich die Dienstboten von einem fuenfzehnjaehrigen Schuljungen anleiten?" Rudolf Meier war ueber diese Frage verwundert. Wollte es ihm denn gar nicht gelingen, diesem Manne verstaendlich zu machen, dass er eben kein gewoehnlicher Schuljunge war? "Ich habe keinen Verkehr mit Schulkameraden," sagte er, "in jeder freien Stunde, auch Sonntags, bin ich hier im Hause beschaeftigt." "Sie kommen wohl auch nie in die Kirche?" "Ich selbst nicht leicht, aber ich bin sehr gut ueber alle Gottesdienste unterrichtet. Wir haben oft Gaeste, die sich dafuer interessieren, und ich weiss auch allen, gleichviel ob es Christen oder Juden sind, Auskunft zu geben ueber Zeit und Ort des Gottesdienstes, ueber beliebte Prediger, feierliche Messen und dergleichen. Man muss allen dienen koennen und darf keine Vorliebe fuer die eine oder andere Konfession merken lassen. Wir duerfen ja auch Auslaender nicht verletzen und muessen uns manche spoettische Aeusserung ueber die Deutschen gefallen lassen. Das bringt ein Welthotel so mit sich." Herr Pfaeffling sagte darauf nichts und Rudolf Meier war zufrieden. Das "Welthotel" war immer der hoechste Trumpf, den er ausspielen konnte, und der verfehlte nie seine Wirkung, auch auf Herrn Pfaeffling hatte er offenbar Eindruck gemacht, denn der geringschaetzige Blick, den er vor der Stunde fuer ihn gehabt hatte, war einem andern Ausdruck gewichen. Unten, im Hausflur, stand noch immer die Tuere zu dem grossen Saal offen, die Dekoration hatte Fortschritte gemacht, Herr Rudolf Meier sen. stand auf der Schwelle und ueberblickte das Ganze, und im Vorbeigehen hoerte Herr Pfaeffling ihn zu einem Tapezierer sagen: "An diesem Fenster ist noch Polsterung anzubringen, damit jede Zugluft von den Gaesten abgehalten wird." Unser Musiklehrer, dem sonst, wenn er von seinen russischen Schuelern kam, die schoensten Melodien durch den Kopf gingen, war heute auf dem Heimweg in Gedanken versunken. Er sah vor sich den tuechtigen Geschaeftsmann, der in unermuedlicher Taetigkeit sein Hotel bestellte, der von seinen Gaesten jeden schaedlichen Luftzug abhielt, und der doch nicht merkte, wie der einzige Sohn, dem dies alles einst gehoeren sollte, in Gefahr war, zugrunde zu gehen. Herr Pfaeffling war eine Strasse weit gegangen, da trieben ihn seine Gedanken wieder rueckwaerts. "Sprich mit dem Mann ein Wort ueber seinen Sohn," sagte er sich, "wenn seinem Haus eine Gefahr drohte, wuerdest du es doch auch sagen, warum nicht, wenn du siehst, dass sein Kind Schaden nimmt, dass es hoechste Zeit waere, es den schlimmen Einfluessen zu entziehen? Es sollte fortkommen vom Hotel, von der grossen Stadt, in einfache, harmlose Familienverhaeltnisse!" Waehrend sich Herr Pfaeffling dies ueberlegte, ging er raschen Schritts ins Zentralhotel zurueck, und nun stand er vor Herrn Meier, in dem grossen Saal. Der Hotelbesitzer meinte, der Musiklehrer interessiere sich fuer die Dekoration und forderte ihn hoeflich auf, alles zu besehen. "Ich danke," sagte Herr Pfaeffling, "ich sah schon vorhin, wie huebsch das wird, aber um Ihren Sohn, Herr Meier, um Ihren Sohn ist mir's zu tun!" Aeusserst erstaunt sah der so Angeredete auf und sagte, indem er nach einem anstossenden Zimmer deutete: "Hier sind wir ungestoert. Wollen Sie Platz nehmen?" "Nein," sagte Herr Pfaeffling, "ich stehe lieber," eigentlich haette er sagen sollen, "ich renne lieber," denn kaum hatte er das Gespraech begonnen, so trieb ihn der Eifer im Zimmer hin und her. "Ich meine," sagte er, "ueber all Ihren Leistungen als Geschaeftsmann sehen Sie gar nicht, was fuer ein schlechtes Geschaeft bei all dem Ihr Kind macht. Ist's denn ueberhaupt ein Kind? War es eines? Es spricht wie ein Mann und ist doch kein Mann. Ein Schuljunge sollte es sein, der tuechtig arbeitet und dann froehlich spielt. Er aber tut keines von beiden. In dem Alter, wo er gehorchen sollte, will er kommandieren, den Herrn will er spielen und hat doch nicht das Zeug dazu. Er wird kein Mann wie Sie, er wird auch kein Deutscher, wird kein Christ, denn er duenkt sich ueber alledem zu stehen. Der sollte fort aus dem Hotel, fort von hier, in ein warmes Familienleben hinein, da koennte noch etwas aus ihm werden, aber so nicht!" Herr Pfaeffling hatte so eifrig gesprochen, dass sein Zuhoerer dazwischen nicht zu Wort gekommen war. Er sagte jetzt anscheinend ganz ruhig und kuehl: "Ich muss mich wundern, Herr Pfaeffling, dass Sie mir das alles sagen. Wir kennen uns nicht und meinen Sohn kennen Sie wohl auch nur ganz fluechtig. Mir scheint, Sie urteilen etwas rasch. Andere sagen mir, dass mein Sohn der geborene Geschaeftsmann ist und schon jetzt einem Haus vorstehen koennte. Wenn er Ihnen so wenig gefaellt, dann bitte kuemmern Sie sich nicht um ihn, ich kenne mein eigenes Kind wohl am besten und werde fuer sein Wohl sorgen." Herr Pfaeffling sah nun seinerseits ebenso erstaunt auf Herrn Meier, wie dieser vorher auf ihn. Endlich sagte er: "Ich sehe, dass ich Sie gekraenkt habe. Das wollte ich doch gar nicht. Wieder einmal habe ich vergessen, was ich schon so oft bei den Eltern meiner Schueler erfahren habe, dass es die Menschen nicht ertragen, wenn man offen ueber ihre Kinder spricht und wenn es auch aus der reinsten Teilnahme geschieht. Sagen Sie mir nur das eine, warum wuerden Sie es mir danken, wenn ich Ihnen sagte: 'Ihr Kind ist in Gefahr, ins Wasser zu fallen,' und warum sind Sie gekraenkt, wenn ich sagte: 'dem Kind droht Gefahr fuer seinen Charakter?' Darin kann ich die Menschen nie verstehen!" Diese Frage blieb unbeantwortet, denn zwei Handwerksleute kamen herein, verlangten Bescheid, und Herr Pfaeffling machte rasch der Unterredung ein Ende, indem er sagte: "Wie ungeschickt bin ich Ihnen mit dieser Sache gekommen, ich sehe, Sie sind draussen unentbehrlich und will Sie nicht aufhalten." Er ging, der Hotelbesitzer hielt ihn nicht zurueck. "Diese Sache ist misslungen," sagte sich Herr Pfaeffling, "ich habe nichts erreicht, als dass sich der Mann ueber mich aergert." Und nun aergerte auch er sich, aber nur ueber sich selbst. Warum hatte er sich seine Worte nicht erst in Ruhe ueberlegt und schonend vorgebracht, was er sagen wollte, statt diesen ahnungslosen Vater mit hageldicken Vorwuerfen zu ueberschuetten? Nun ging er mit sich selbst ebenso streng ins Gericht: "Nichts gelernt und nichts vergessen; immer noch gerade so ungestuem wie vor zwanzig Jahren; immer vorgetan und nachbedacht, trotz aller Lebenserfahrung: wenn du es nicht besser verstehst, auf die Leute einzuwirken, so lass die Hand davon; kuemmere dich um deine eigenen Kinder, wer weiss, ob sie andern Leuten nicht auch verkehrt erscheinen." Nachdem sich Herr Pfaeffling so die Wahrheit gesagt hatte, beruhigte er sich ueber Rudolf Meier, und versetzte sich in Gedanken zu seinen eigenen Kindern. Nun kam ihm wieder die Pfaefflingsche Note in den Sinn: eins bis zwei. Er dachte in dieser Richtung noch weiter nach, und die Folge davon war, dass er nach seiner Rueckkehr dem ersten, der ihm zu Hause in den Weg lief, zurief: "Legt mir alle sechs Zeugnishefte aufgeschlagen auf meinen Tisch, ich will sie sehen!" Das gab nun eine Aufregung in der jungen Gesellschaft! "Die Zeugnisse muessen her, der Vater will sie sehen!" fluesterte eines dem andern zu. "Warum denn, warum?" Niemand wusste Antwort, aber jetzt half keine List mehr, Marie musste die Heftchen hervorholen aus ihrem sichern Versteck und sie hinuebertragen in des Vaters Zimmer. "Ich habe das deinige ein wenig versteckt," sagte sie zu Wilhelm, als sie wieder herueberkam, "vielleicht uebersieht es der Vater." Herr Pfaeffling kannte seine Kinder viel zu gut, als dass er ihre kleine List mit der guten Durchschnittsnote nicht durchschaut haette. "Irgend etwas ist sicher nicht in Ordnung," sagte er sich, "gewiss sind ein paar fatale Dreier da, oder eine schlechte Bemerkung ueber das Betragen." Er ueberblickte die kleine Ausstellung auf seinem Tisch. Da lag zuvorderst Karls Zeugnisheft. Dies hielt sich so ziemlich gleich, jahraus, jahrein, nie vorzueglich, immer gut. Es gab das Bild eines gewissenhaften Schuelers, aber nicht eines grossen Sprachgelehrten. Dann Otto. In den meisten Faechern I. So einen konnte man freilich gut brauchen, wenn sich's um eine Durchschnittsnote handelte, der konnte viele Suenden anderer gut machen. Maries Heftchen zeigte die groesste Verschiedenheit in den Noten. Wo die Geschicklichkeit der Hand in Betracht kam und der praktische Sinn, da war sie vorzueglich, in Handarbeit, Schoenschreiben, Zeichnen, da tat sie sich hervor, aber bei der rein geistigen Arbeit war selten eine gute Note zu sehen. Und von Anne konnte man das auch nicht erwarten, denn sie war von der Natur ein wenig verkuerzt, das Lernen fiel ihr schwer, ohne Maries Hilfe waere sie wohl nicht mit ihrer Klasse fortgekommen, aber die Lehrer und Lehrerinnen hatten sich laengst darein gefunden, bei diesen Zwillingsschwestern das gemeinsame Arbeiten zu gestatten und die Marianne als ein Ganzes zu betrachten. So schlugen sie sich schlecht und recht miteinander durch und unter Annes Noten glaenzten doch immer zwei I, durch alle Schuljahre hindurch: im Singen und im Betragen. Bis jetzt hatte Herr Pfaeffling noch nichts Neues oder Besonderes entdecken koennen und nun hielt er Frieders Zeugnis in der Hand und staunte. Was fuer gute Noten hatte sich der kleine Kerl diesmal erworben! Fast in jedem Fach besser als frueher und in einer Bemerkung des Lehrers waren seine Fortschritte und sein Fleiss besonders anerkannt! Wie kam das nur? Es musste wohl mit der Harmonika zusammenhaengen, die ihm frueher alle Gedanken, alle freie Zeit in Anspruch genommen hatte! Herr Pfaeffling hatte seine Freude daran und es kam ihm der Gedanke, seine Kinder seien vielleicht doch nur durch die besseren Zeugnisse auf den Einfall gekommen, eine Durchschnittsnote herauszurechnen. Wieviel Heftchen hatte er schon gesehen? Fuenf, eines fehlte noch, Wilhelms Zeugnis, wo war denn das? Ah, hinter den Buechern, hatte es sich wohl zufaellig verschoben? Er warf nur einen Blick hinein und die ungewohnte Form der Zahl IV sprang ihm ins Auge. Also das war's! Mathematik IV. Das war stark. Herr Pfaeffling lief im Zimmer hin und her. Wie konnte man nur eine so schlechte Note heimbringen! Und wie feig, sie so zu verstecken, und wie dumm, zu meinen, der Vater liesse sich auf diese Weise ueberlisten! Schlechtere Noten konnte Rudolf Meier auch nicht heimbringen. Er nahm das Heftchen noch einmal in die Hand. Im ganzen war das Zeugnis etwas besser als die frueheren, also Faulheit oder Leichtsinn war es wohl nicht, aber fuer die Mathematik fehlte das Verstaendnis. Eine Weile war Herr Pfaeffling auf und ab gegangen, da hoerte er jemand an seiner Tuere vorbeigehen und oeffnete rasch, um Wilhelm zu rufen. Es war Elschen. Als sie den Vater sah, sprang sie auf ihn zu, sah ihm fragend ins Gesicht und sagte dann betruebt: "Vater, du denkst gar nicht daran, dass morgen Weihnachten ist!" und sie schmiegte sich an ihn und folgte ihm in sein Zimmer. Er zog sie freundlich an sich: "Es ist wahr, Elschen, ich habe nicht daran gedacht, es ist gut, dass du mich erinnerst." "Die andern denken auch nicht daran," klagte die Kleine, "sie reden immer nur von ihren Zeugnissen und freuen sich gar nicht." "So?" sagte Herr Pfaeffling und wurde nachdenklich, "am Tag vor Weihnachten freuen sie sich nicht? Nun, dann schicke sie mir einmal alle sechs herueber, ich will machen, dass sie sich freuen!" Wie der Wind fuhr die Kleine durch die Zimmer und brachte ihre Geschwister zusammen. Nun standen sie alle ein wenig aengstlich auf einem Trueppchen dem Vater gegenueber. Es fiel ihm auf, wie sie sich so eng aneinander drueckten. Aus diesem Zusammenhalten war auch die Durchschnittsnote hervorgegangen. "Ihr haltet alle fest zusammen," sagte er, "das ist ganz recht, nur gegen mich duerft ihr euch nicht verbinden, mit List und Verschwiegenheit, das hat ja keinen Sinn! Gegen den _Feind_ verbindet man sich, nicht gegen den _Freund_. Habt ihr einen treuern Freund als mich? Halte ich nicht immer zu euch? Wir gehoeren zusammen, zwischen uns darf nichts treten, auch kein Vierer!" Da loeste sich die Gruppe der Geschwister und in der lebhaften, warmen Art, die Wilhelm von seinem Vater geerbt hatte, warf er sich diesem um den Hals und sagte: "Nein, Vater, ich habe dir nichts verschweigen wollen, nur Weihnachten wollte ich abwarten, damit es uns nicht verdorben wird, du bist doch auch mit mir auf die Polizei gegangen, nein, vor dir moechte ich nie etwas verheimlichen!" "Recht so, Wilhelm," antwortete Herr Pfaeffling, "was kaeme denn auch Gutes dabei heraus? Es ist viel besser, wenn ich alles erfahre, dann kann ich euch helfen, wie auch jetzt mit dieser schlechten Note. Was machen wir, dass sie das naechste Mal besser ausfaellt? Nachhilfstunden kann ich euch nicht geben lassen, die sind unerschwinglich teuer, mit meinen mathematischen Kenntnissen ist es nicht mehr weit her, aber wie waere es denn mit dir, Karl? Du bist ja ein guter Mathematiker und hast das alles erst voriges Jahr gelernt, du koenntest dich darum annehmen. Jede Woche zwei richtige Nachhilfstunden." Karl schien von diesem Lehrauftrag nicht begeistert. "Ich habe so wenig Zeit," wandte er ein. "Das ist wahr, aber du wirst auch keinen bessern Rat wissen und den Vierer muessen wir doch wegbringen, nicht? Gebt einmal den Kalender her. Von jetzt bis Ostern streichen wir fuenfundzwanzig oder meinetwegen auch nur zwanzig Tage an fuer eine Mathematikstunde. Faellt eine aus, so muss sie am naechsten Tag nachgeholt werden. Ich verlasse mich auf euch. Macht das nur recht geschickt, dann werdet ihr sehen, im Osterzeugnis gibt es keinen Vierer mehr." Die Brueder nahmen den Kalender her, suchten die geeigneten Wochentage aus und ergaben sich in ihr Schicksal, Lehrer und Schueler zu sein. "So," sagte Herr Pfaeffling, "und jetzt fort mit den Zeugnissen, fort mit den Mathematik-Erinnerungen; Elschen, jetzt ist's bei uns so schoen wie in der Sahara, wo es keine Schule gibt! Wer freut sich auf Weihnachten?" Waehrend des lauten, lustigen Antwortens, das nun erklang, und Elschens froehlichem Jauchzen ging leise die Tuere auf, ein Lockenkoepfchen erschien und eine zarte Stimme wurde vernommen: "Ich habe schon drei Mal geklopft, Herr Pfaeffling, aber Sie haben gar nicht 'herein' gerufen." Es war Fraeulein Vernagelding, die zu ihrer letzten Stunde kam. Noch immer hatte sie Herrn Pfaeffling allein im Musikzimmer getroffen, als sie nun unerwartet die Kinder um ihn herum sah, machte sie grosse, erstaunte Augen und rief: "Nein, wie viele Kinder Sie haben!" aber noch ehe sie langsam diese Worte gesprochen hatte, waren alle sieben schon verschwunden. "Und jetzt sind alle fort! Wie schnell das alles bei Ihnen geht, Herr Pfaeffling, ich finde das so reizend!" Die fliehende Schar suchte die Mutter auf und fand sie in der Kueche. Als aber Frau Pfaeffling die Kinder kommen hoerte, liess sie sie nicht ein, machte nur einen Spalt der Tuere auf und rief: "Niemand darf hereinschauen," und sie sah dabei so geheimnisvoll, so verheissungsvoll aus, dass das Verbot mit lautem Jubel aufgenommen wurde. Ja, jetzt beherrschte die Weihnachtsfreude das ganze Haus und sogar aus dem Musikzimmer ertoente nicht die Tonleiter, sondern "Stille Nacht, heilige Nacht". Aber falsch wurde es gespielt, o so falsch! "Fraeulein," sprach der gepeinigte Musiklehrer, "Sie greifen wieder nur so auf gut Glueck, aber Sie haben einmal kein Glueck, Sie muessen _die_ Noten spielen, die da stehen." "Ach Herr Pfaeffling," bat das Fraeulein schmeichelnd, "seien Sie doch nicht so pedantisch! Das ist ja ein Weihnachtslied, dabei kommt es doch nicht so auf jeden Ton an!" Nach diesem Grundsatz spielte sie froehlich weiter und nun, als der Schlussakkord kommen sollte, hoerte sie ploetzlich auf und sagte: "Ich habe mir auch erlaubt, Ihnen eine kleine Handarbeit zu machen zum taeglichen Gebrauch, Herr Pfaeffling." "Den Schlussakkord, Fraeulein, bitte zuerst noch den Akkord!" Da sah sie ihren Lehrer schelmisch an: "Den letzten Akkord spiele ich lieber nicht, denn Sie werden immer am meisten boese, wenn der letzte Ton falsch wird." "Aber Sie koennen ihn doch nicht einfach weglassen?" "Nicht? Das Lied koennte doch auch um so ein kleines Stueckchen kuerzer sein?" Darauf wusste Herr Pfaeffling nichts mehr zu sagen. Er nahm ein in rosenrotes Seidenpapier gewickeltes Paeckchen in Empfang und sagte zuletzt zu Fraeulein Vernagelding, er wolle ihr nicht zumuten, vor dem 8. Januar wieder zu kommen. Darueber hatte sie eine kindliche Freude, und diese Freude, vierzehn Tage lang nichts mehr miteinander zu tun zu haben, war wohl die einzige innere Gemeinschaft zwischen dem Musiklehrer und seiner Schuelerin. In vergnuegter Ferienstimmung kam er in das Wohnzimmer herueber. Er hielt hoch in seiner Rechten das eine Ende eines buntgestickten Streifens, das ueber einen Meter lang herunter hing. "Da seht, was ich erhalten habe!" sagte er, "was soll's denn wohl sein? Zu einem Handtuch ist's doch gar zu schoen, kannst du es verwenden, Caecilie?" Da wurde es mit Sachkenntnis betrachtet und als eine Tastendecke fuer das Klavier erkannt. "Und das soll ich in taeglichen Gebrauch nehmen, immer so ein Tuechlein ausbreiten?" rief Herr Pfaeffling erschreckt; "nein, Fraeulein Vernagelding, das ist zu viel verlangt. Ich bitte dich, Caecilie, ich bitte dich, nimm mir das Ding da ab!" Herr Pfaeffling hatte bis zum spaeten Abend keine Gelegenheit gefunden, seiner Frau von dem Gespraech mit Herrn Rudolf Meier sen. zu erzaehlen. Nun waren die Kinder zu Bett gegangen, Karl allein sass noch mit den Eltern am Tisch, und Herr Pfaeffling berichtete getreulich die Vorgaenge im Zentralhotel. Er stellte sich selbst dabei nicht in das beste Licht, aber Frau Pfaeffling war der Ansicht, dass Herr Meier die Kritik seines Sohnes wohl auch in milderer Form uebelgenommen haette. "Es gibt so wenig Menschen, die sich Unangenehmes sagen lassen," meinte sie. "Und wenige, die es taktvoll anfassen," sprach Herr Pfaeffling und fuegte laechelnd hinzu: "wo aber zwei solche zusammen kommen, gibt es leicht ein glueckliches Paar, nicht wahr?" Frau Pfaeffling wusste, was ihr Mann damit sagen wollte, aber Karl sah verstaendnislos darein. "Du weisst nicht, was wir meinen," sagte der Vater zu ihm, "soll ich es dir erzaehlen, oder ist er noch zu jung dazu, Caecilie?" "O nein," rief Karl, "bitte, erzaehle es!" "Soll ich? Nun also: Wie die Mutter noch ein junges Maedchen war und dein Grossvater Professor, da kam ich als blutjunger Musiklehrer in die kleine Universitaetsstadt und machte ueberall meine Aufwartung, um mich vorzustellen. Fast zuerst machte ich bei deinen Grosseltern Besuch. Es war Regenwetter und ich trug einen langen braunen Ueberrock und hatte den Regenschirm bei mir." "Du musst auch sagen, was fuer einen Schirm," fiel Frau Pfaeffling ein, "einen dicken baumwollenen gruenen, so ein rechtes Familiendach, wie man sie jetzt gar nicht mehr sieht. Mit diesem Ueberrock und diesem Schirm trat dein Vater in unser huebsches, mit Teppichen belegtes Empfangszimmer, und er behielt den Schirm auch fest in der Hand, als mein Vater ihn aufforderte, Platz zu nehmen. Meine Mutter war nicht zu Hause, so war ich an ihrer Stelle, und mir, die ich noch ein junges, dummes Maedchen war, kam das so furchtbar komisch vor, dass ich alle Muehe hatte, mein Lachen zu unterdruecken." "Ja," sagte Herr Pfaeffling, "du hast es auch nicht verbergen koennen, sondern hast mich fortwaehrend mit strahlender Heiterkeit angesehen, und um deine Mundwinkel hat es immerwaehrend gezuckt. Ich aber hatte keine Ahnung, was die Ursache war. Dein Vater verwickelte mich gleich in ein gelehrtes Gespraech, und wenn ich dazwischen hinein einen Blick auf dich warf, so kam es mir wunderlich vor, dass du wie die Heiterkeit selbst dabei warst. Aber nun pass auf, Karl, nun kommt das Grossartige. Als ich wieder aufstand, aeusserte ich, dass ich im Nebenhaus bei Professer Lenz Besuch machen wollte." "Ja," sagte Frau Pfaeffling "und ich wusste, dass Lenzens zwei Toechter hatten, so kleinlich lieblos und spoettisch, dass jedermann sie fuerchtete. Ich dachte bei mir: wenn der junge Mann im Ueberrock und mit dem Schirm in der Hand bei Professer Lenz in den Salon tritt, so wird er zum Gespoett fuer den ganzen Kreis. Da dauerte er mich, und ich sagte mir, ich sollte ihn aufmerksam machen, doch war ich schuechtern und ungeschickt." "Du hast mich auch bis an die Tuere gehen lassen," fiel Herr Pfaeffling ein, "ich hatte schon die Klinke in der Hand, da riefst du mich an, wurdest dunkelrot dabei und sagtest: 'Herr Pfaeffling, wollen Sie nicht lieber ihren Ueberrock und Schirm ablegen?' Ich verstand nicht gleich, was du meintest, wollte dir doch zu Willen sein und machte Anstalt, meinen Ueberrock auszuziehen. Da war es aus mit deiner Fassung, du lachtest laut und riefst: 'Ich meine nicht, wenn Sie gehen, sondern wenn Sie kommen!' Dein Vater aber wies dich zurecht mit einem strengen Wort und setzte mir hoeflich auseinander, dass es allerdings gebraeuchlich sei, im Vorplatz abzulegen; du aber warst noch immer im Kampf mit der Lachlust." "Ja," sagte Frau Pfaeffling, "so lange bis du freundlich und ohne jede Empfindlichkeit zu mir sagtest: 'Lachen Sie immerhin ueber den Ruepel, Sie haben es doch gut mit ihm gemeint, sonst haetten Sie ihm das nicht gesagt.' Da verging mir das Lachen, weil die Achtung kam." "Ja, Karl, so haben sich deine Eltern kennen gelernt," schloss Herr Pfaeffling. 8. Kapitel Endlich Weihnachten. Gibt es ein schoeneres Erwachen als das Erwachen mit dem Gedanken: Heute ist Weihnachten? Die jungen Pfaefflinge kannten kein schoeneres, und an keinem anderen kalten, dunkeln Dezembermorgen schluepften sie so leicht und gern aus den warmen Betten, als an diesem und nie waren sie so dienstfertig und hilfsbereit wie an diesem Vormittag. Man musste doch der Mutter helfen aus Leibeskraeften, damit sie ganz gewiss bis abends um 6 Uhr mit der Bescherung fertig wurde. An gewoehnlichen Tagen schob gerne eines der Kinder dem andern die Pflicht zu, aufzumachen, wenn geklingelt wurde; heute sprangen immer einige um die Wette, wenn die Glocke ertoente, denn an Weihnachten konnte wohl etwas Besonderes erwartet werden, so z.B. das Paket, das noch jedes Jahr von der treuen Grossmutter Wedekind angekommen war und durch das viele Herzenswuensche befriedigt wurden, zu deren Erfuellung die Kasse der Eltern nie gereicht haette. Zunaechst kam aber nicht jemand, der etwas bringen, sondern jemand, der etwas holen wollte: Es war die Schmidtmeierin, eine Arbeitersfrau aus dem Nebenhaus, die manchmal beim Waschen und Putzen half und fuer die allerlei zurechtgelegt war. Sie brachte ihre zwei Kinder mit. Aber damit war Frau Pfaeffling nicht einverstanden. "Marianne," sagte sie, "fuehrt ihr die Kleinen in euer Stuebchen und spielt ein wenig mit ihnen, bis ich sie wieder hole." Als die Kinder weg waren, sagte Frau Pfaeffling: "Sie haetten die Kinder nicht bringen sollen, sonst sehen sie ja gleich, was sie bekommen; hat Walburg Ihnen nicht gesagt, dass wir einen Puppenwagen und allerlei Spielzeug fuer sie haben?" "Ach," entgegnete die Frau, "darauf kommt es bei uns nicht so an, die Kinder nehmen es, wenn sie's kriegen, und wenn man ihnen ja etwas verstecken will, sie kommen doch dahinter und dann betteln sie und lassen einem keine Ruhe, bis man ihnen den Willen tut. Bis Weihnachten kommt, ist auch meist schon alles aufgegessen, was man etwa Gutes fuer sie bekommen hat. Ich weiss wohl, dass es anders ist bei reichen Leuten, aber bei uns war's noch kein Jahr schoen am heiligen Abend." "Wir sind auch keine reichen Leute, Schmidtmeierin, aber wenn ich auch noch viel aermer waere, das weiss ich doch ganz gewiss, dass ich meinen Kindern einen schoenen heiligen Abend machen wuerde. Meine Kinder bekommen auch nicht viel--das koennen Sie sich denken bei sieben--aber weil keines vorher ein Stueckchen sieht, so ist dann die Ueberraschung doch gross. Glauben Sie, dass irgend eines von uns einen Lebkuchen oder sonst etwas von dem Weihnachtsgebaeck versuchen wuerde vor dem heiligen Abend? Das kaeme uns ganz unrecht vor. Und wenn der Christbaum geputzt wird, darf keines von den Kinder hereinschauen, erst wenn er angezuendet ist und alles hingerichtet, rufen wir sie herbei, mein Mann und ich, und dann sind sie so ueberrascht, dass sie strahlen und jubeln vor Freude, wenn auch gar keine grossen Geschenke daliegen." "Bei Ihnen ist das eben anders, Frau Pfaeffling, mein Mann hat keinen Sinn fuer so etwas und will kein Geld ausgeben fuer Weihnachten." "Haben Sie kein Baeumchen kaufen duerfen?" fragte Frau Pfaeffling. "Das schon," sagte die Schmidtmeierin, "er hat selbst eines heimgebracht und Lichter dazu." "Nun sehen Sie, was braucht es denn da weiter? Ein sauberes Tuch auf den Tisch gebreitet und die kleinen Sachen darauf gelegt, die ich Ihnen hier zusammen gerichtet habe, das waere schon genug fuer Kinder, aber ich denke mir, dass Sie noch von anderen Familien, denen Sie aushelfen, etwas bekommen, oder nicht?" "Frau Hartwig hat mich angerufen, ich solle nachher zu ihr herein kommen, sie habe etwas fuer mich und die Kinder." "So lange lassen Sie die Kleinen bei uns, und in einem andern Jahr tragen Sie alles heimlich nach Hause, dann wird bei Ihnen der Jubel gerade so gross wie im reichsten Haus, und Ihr Mann wird sich dann schon auch daran freuen." "Es ist wahr," sagte die Schmidtmeierin, "er hat am vorigen Sonntag gezankt, weil ich den Kindern die neuen Winterkleider, die sie von der Schulschwester bekommen haben, vor Weihnachten angezogen habe. Aber sie haben so lang gebettelt und nicht geruht, bis ich ihnen den Willen getan habe." "Aber Schmidtmeierin, da wuerde ich doch lieber tun, was der Mann will, als was die Kinder verlangen und erbetteln! Was waere das jetzt fuer eine Freude, wenn die Kleidchen noch neu auf dem Tisch laegen! So wuerde mein Mann auch den Sinn fuer Weihnachten verlieren. Das muessen Sie mir versprechen, Schmidtmeierin, dass Sie meine Sachen, und die von Frau Hartwig, und was etwa sonst noch kommt, verstecken, und dann eine schoene Bescherung halten. Wo koennen denn Ihre Kinder bleiben, solange Sie herrichten, ist's zu kalt in der Kammer?" "Kalt ist's, aber ich stecke sie eben ins Bett so lang!" "Ja, das tun Sie. Und noch etwas: koennen die Kinder nicht unter dem Christbaum dem Vater ein Weihnachtslied hersagen, aus der Kinderschule? Das gehoert auch zur rechten Feier. Und wenn Sie noch von Ihrem Waschlohn ein paar Pfennige uebrig haetten, dann sollten Sie fuer den Mann noch einen Kalender kaufen, oder was ihn sonst freut, und dann erzaehlen Sie mir, Schmidtmeierin, ob er wirklich keine Freude gehabt hat am heiligen Abend, und ob es nicht schoen bei Ihnen war." "Ich mach's wie Sie sagen, Frau Pfaeffling, und ich danke fuer die vielen Sachen, die Sie mir zusammengerichtet haben." "Es ist recht, Schmidtmeierin, aber glauben Sie mir's nur, die Sachen allein, und wenn es noch viel mehr waeren, machen kein schoenes Fest, das koennen nur Sie machen fuer Ihre Familie; fremde Leute koennen die Weihnachtsfreude nicht ins Haus bringen, das muss die Mutter tun, und die Reichen koennen die Armen nicht gluecklich machen, wenn die nicht selbst wollen." Frau Pfaeffling hielt die fremden Kinder noch eine gute Weile zurueck; als diese endlich heimkamen, waren alle Schaetze im Schrank verborgen und der Schluessel abgezogen. Da sich aber die Kinder schon darauf gefreut hatten, fingen sie an, darum zu betteln und schliesslich laut zu heulen. Damit setzten sie gewoehnlich bei der Mutter ihren Willen durch. Heute aber nicht; "bruellt nur recht laut," sagte die Schmidtmeierin, "damit man es im Nebenhaus hoert. Nichts Gutes gibt's heute, nichts Schoenes, erst am Abend, wenn ihr dem Vater eure Lieder aufsagt. Bei Pfaefflings ist's auch so." Da ergaben sich die Kinder. Frau Pfaeffling und Walburg hatten noch alle Haende voll zu tun mit Vorbereitungen auf das Fest. Aber die Arbeit geschah in froehlicher Stimmung. "Man muss sich seine Feiertage verdienen," sagte Frau Pfaeffling und rief die Kinder zu Hilfe, die Buben so gut wie die Maedchen. "Oben auf dem Boden haengen noch die Struempfe von der letzten Waesche," sagte sie, "die sollten noch abgezogen werden. Das koennt ihr Buben besorgen." Wilhelm und Otto sprangen die Treppe hinauf. Auf dem freien Bodenraum war ein Seil gespannt, an dem eine ungezaehlte Menge Pfaeffling'scher Struempfe hing. Walburg war eine grosse Person und pflegte das Seil hoch zu spannen, die Kinder konnten die hoelzernen Klammern nicht erreichen, mit denen die Struempfe angeklemmt waren. "Einen Stuhl holen und hinaufsteigen," schlug Otto vor, aber Wilhelm fand das unnoetig, "Hochspringen und bei jedem Sprung eine Klammer wegnehmen," so war es lustiger. Er probierte das Kunststueck und brachte es fertig, Otto gelang es nicht auf den ersten Sprung, und ein Trampeln und Stampfen gab es bei allen beiden. Sie bemerkten nicht, dass die Tuere von Frau Hartwigs Bodenkammer offen stand und die Hausfrau, die eben ihren Christbaumhalter hervorsuchte, ganz erschrocken ueber den ploetzlichen Laerm herauskam und rief: "Was treibt ihr denn aber da oben, ihr Kinder?" "Wir nehmen bloss die Struempfe ab", sagte Otto. "So tut es doch nicht, wenn man Struempfe abzieht," entgegnete Frau Hartwig. "Wir muessen eben darnach springen," sagte Wilhelm, "sehen Sie, so machen wir das," und mit einem Hochsprung hatte er wieder eine Klammer gluecklich erfasst, der Strumpf fiel herunter. "Aber Kinder, so fallen sie ja alle auf den Boden!" sagte die Hausfrau. "Es sind ja nur Struempfe," entgegnete Wilhelm, "die sind schon vorher grau und schwarz, denen schadet das nichts." Eine kleine Weile stand Frau Hartwig dabei und machte sich ihre Gedanken. Welche Arbeit, fuer soviel Fuesse sorgen zu muessen! Fast alle Struempfe schienen zerrissen! Und welche Koerbe voll Flickwaesche mochten sonst noch da unten stehen und auf die Haende der vielbeschaeftigten Hausfrau warten, die doch kein Geld ausgeben konnte fuer Flickerinnen! Ob es nicht Christenpflicht waere, da ein wenig zu helfen? Es dauerte gar nicht lange, da kamen die Brueder mit dem Bescheid herunter: Die meisten Struempfe seien noch zu feucht, die Hausfrau meine, sie muessten noch haengen bleiben. Frau Pfaeffling achtete im Drang der Arbeit kaum darauf und dachte nicht, dass Frau Hartwig kurz entschlossen den ganzen Schatz Pfaeffling'scher Struempfe heruntergenommen hatte, und ihnen nun mit Trocknen und Buegeln viel mehr Ehre erwies, als diese es sonst erfuhren. Dann stapelte sie den Vorrat auf, legte sich das Noetige zum Ausbessern zurecht und sagte sich: Das gibt auch eine Weihnachtsueberraschung und wird nach Jesu Sinn keine Feiertags-Entheiligung sein. Inzwischen war es Mittag geworden. Heute gab es bei Pfaefflings ein kaergliches Essen. Mit Wassersuppe fing es an, und die Mutter redete den Kindern zu: "Haltet euch nur recht an die Suppe, es kommt nicht viel nach!" "Warum denn nicht?" fragte Elschen bedenklich. Die Antwort kam von vielen Seiten zugleich. "Weil Weihnachten ist. Weisst du das noch nicht? Vor dem heiligen Abend gibt es nie etwas ordentliches zu essen. Die Walburg hat auch keine Zeit zu kochen." "Ja," sagte Frau Pfaeffling, "und selbst wenn sie Zeit haette, heute Mittag muesste das Essen doch knapp sein, damit man sich recht freut auf die Lebkuchen und auf den Gansbraten, den es morgen gibt." Walburg brachte noch gewaermte Reste vom gestrigen Tag herein, und als diese alle verteilt waren, sagte Herr Pfaeffling: "Wer jetzt noch Hunger hat, kann noch Brot haben und darf dabei an ein grosses Stueck Braten denken!" "Und nun," sagte die Mutter, "hinaus aus dem Wohnzimmer; wenn ihr wieder herein duerft, dann ist Weihnachten!" Da stob die ganze Schar jubelnd davon; wenn man nicht mehr in das Zimmer herein durfte, ja dann wurde es Ernst! Die Eltern standen beisammen und putzten den Baum, Frieders Baum. Die kleinen Schaeden, die er auf seinen vielen Wanderungen erlitten hatte, wurden sorgfaeltig verdeckt, und bald stand er in seinem vollen Schmuck da, mit goldenen Nuessen und rotbackigen Aepfeln, mit bunten Lichtern und oben auf der Spitze schwebte ein kleiner Posaunenengel. Es gab in andern Haeusern feiner geschmueckte Tannenbaeume mit Winterschnee und Eiszapfen, es gab auch solche, die mit bunten Ketten und Kugeln, mit Papierblumen und Flittergold so ueberladen waren, dass das Gruen des Baumes kaum mehr zur Geltung kam. Pfaefflings Baum hatte von all dem nichts, er war noch ebenso, wie ihn Grossvater Pfaeffling und Grossmutter Wedekind vor dreissig Jahren ihren Kindern geschmueckt hatten, und weil ihre seligsten Kindheitserinnerungen damit verbunden waren, mochten sie nichts daran aendern. Mit der Krippe, die unter dem Baum aufgestellt wurde, war es anders. Die feinen Wachsfiguren, die Tiere, die dazu gehoerten, standen nicht jedes Jahr gleich. Nach den Bildern, die uns schon die alten deutschen Kuenstler gezeichnet haben, und in denen unsere Maler uns auch jetzt noch die heilige Nacht darstellen, nach diesen verschiedenen Bildern wurden die Krippenfiguren in jedem Jahr wieder anders aufgestellt, das war Herrn Pfaefflings Anteil an dem Herrichten des Weihnachtszimmers. Wenn aber die Tische gestellt waren, und wenn die muehsame Arbeit des Einraeumens von Puppenzimmer, Kueche und Kaufladen begann, dann verschwand der Herr des Hauses aus dem Gebiet und uebernahm die Aufsicht ueber die mutterlose Kinderschar, damit sie nicht in Ungeduld und Langeweile auf allerlei Unarten verfiel. Gegen vier Uhr, als es dunkelte, zogen sie zusammen fort nach der Kirche, in der jedes Jahr um diese Zeit ein Gottesdienst gehalten wurde, so kurz und doch so feierlich wie kein anderer im Jahr: Ein Weihnachtslied, das Weihnachtsevangelium und ein paar Worte, nur wie ein warmer Segenswunsch des Geistlichen. Es war genug, um in den Herzen der jungen und alten Zuhoerer die rechte Weihnachtsstimmung zu wecken. Frau Pfaeffling hoerte ihre Schar heimkommen, sie sah ein wenig heraus aus dem Weihnachtszimmer und schob etwas durch den Tuerspalt, es war eine Handvoll Backwerk, das etwas Schaden gelitten hatte durch die Verpackung: "Das ist etwas zum versuchen," rief sie, "das ist zerbrochen aus der Grossmutter Paket gekommen, teilt euch darein! und dann zieht frische Schuerzen an und sagt auch Walburg, dass sie sich bereit macht, nun wird bald alles fertig sein!" Der Mutter Angesicht leuchtete verheissungsvoll, es rief auf allen Kindergesichtern das gleiche Strahlen hervor. Herr Pfaeffling war bei seiner Frau, er half bei den letzten Vorbereitungen. "Jetzt waeren wir so weit," sagte er, "koennen wir den Baum anzuenden?" "Wenn du einen kleinen Augenblick warten wolltest," erwiderte sie, "ich bin so mued und moechte nur ein ganz klein wenig ruhen, um fuer den grossen Jubel Kraft zu sammeln." "Freilich, freilich," sagte Herr Pfaeffling, "die Kinder koennen sich wohl noch eine Viertelstunde gedulden, setze dich hieher, ruhe ein wenig und schliesse die Augen." "O, das tut gut," antwortete sie und lehnte sich still zurueck. Aber nur drei Minuten, dann stand sie wieder auf. "Nun bin ich schon wieder frisch, und ich kann jetzt doch nicht ruhen, ich spuere die siebenfache Unruhe, die klopfenden Herzen der Kinder da draussen, wir wollen anzuenden." Bald strahlten die Lichter an dem Baum, die grossen Kerzen in den silbernen Leuchtern, die die Tische erhellten, und die kleinen Lichtchen in Puppenstube und Kueche. Und nun ein Glockenzeichen und die Tuere weit auf! Sie draengen alle herein, die Kinder und Walburg hinter ihnen. Dem Christbaum gelten die ersten Ausrufe der Bewunderung; solange er die Blicke fesselt, ist's noch eine weihevolle Stimmung, ein Staunen und seliges Widerstrahlen; dann wenden sich die Augen der Bescherung zu, nun geht die beschauliche Freude ueber, immer lauter und jubelnder wird das Kinderglueck. War denn so Herrliches auf dem Gabentisch? Viel Kostbares war nicht dabei, aber es war alles ueberraschend und jedes kleine Geschenk war sinnig auf den Empfaenger berechnet und manches erhielt durch einen kleinen Vers, den der Vater dazu gemacht hatte, noch einen besonderen Reiz. Wenn eines der Kinder nach den Eltern aufblickte, so sah es Liebe und Guete, wenn es einem der Geschwister ins Gesicht sah, so glaenzte dies in Glueck und Freude, und ueber all dem lag der Duft des Tannenbaums--ja die Fuelle des Glueckes bringt der Weihnachtsabend! Frau Pfaeffling beruehrte ihren Mann und sagte leise: "Sieh dort, den Frieder!" An dem Plaetzchen des grossen Tisches, das ihm angewiesen war, stand schon eine ganze Weile Frieder unbeweglich und sah mit staunenden, zweifelnden Augen auf das, was vor ihm lag: Eine Violine! Und nun nahm er den kleinen Streifen Papier, der daran gebunden war, und las das Verschen: Fideln darfst du, kleiner Mann, Vater will dir's zeigen. Aber merk's und denk daran: Immerfort zu geigen Tut nicht gut und darf nicht sein. Halte fest die Ordnung ein: Eine Stund' am Tag, auch zwei, Doch nicht mehr, es bleibt dabei. "Mutter!" rief jetzt Frieder, "Mutter, hast du's schon gesehen?" Er draengte sich zu ihr und zog sie an seinen Platz und fragte: "Darf ich sie gleich probieren?" Und er nahm die kleine Violine, und da die Geschwister ihm nicht viel Platz liessen, drueckte er sich hinter den Christbaum und fing ganz sachte an, leise ueber die Saiten zu streichen und zarte Toene hervorzulocken. Und er sah und hoerte nichts mehr von dem, was um ihn vorging, und muehte und muehte sich, denn er wollte _reine_ Toene, dieser kleine Pfaeffling. Die Eltern sahen sich mit gluecklichem Laecheln an: "Dies Weihnachten vergisst er nicht in seinem Leben," sagte Frau Pfaeffling. "Ja," erwiderte ihr Mann, "und auf diesen kleinen Schueler braucht mir wohl nicht bange zu sein!" "Vater, hast du gesehen?" riefen nun wieder zwei Stimmen. "Was ist's, Marianne?" "Ein Paeckchen feinste Glacehandschuhe hat uns Fraeulein Vernagelding geschickt!" "Was? Euch Kindern, was tut _ihr_ denn damit?" "Wir ziehen sie an, Vater, viele Kinder in unserer Schule haben welche." "Nun, wenn nur ich sie nicht tragen muss!" Es gab jetzt ein grosses Durcheinander, denn die Brueder probierten ihre neuen Schlittschuhe an, liefen damit hin und her, fielen auch gelegentlich auf den Boden. Im untern Stock erzitterte die Haengelampe. "Man koennte meinen, es sei ein Erdbeben, die da droben sind heute ganz ausser Rand und Band!" sagte Herr Hartwig zu seiner Frau. "Weihnachtsabend!" entgegnete sie, und das eine Wort beschwichtigte den Hausherrn. Auch hoerte das Getrampel der Kinderfuesse ploetzlich auf, es wurde ganz stille im Haus, nur eine einzelne Stimme drang bis in den untern Stock: Otto deklamierte. Nacheinander kamen nun all die kleinen Ueberraschungen fuer die Eltern an die Reihe, zu denen sich an jenem Adventsonntag Frieder auf den Balken die Eingebung geholt hatte. Alles gelang zur Freude der Eltern, zum Stolz unserer sieben! In ihrer Kueche stand Walburg und sorgte fuer das Abendessen. Auch fuer sie war ein Platz unter dem Christbaum, und sie war freundlich bedacht worden. Aber die Freude und innere Bewegung, die sich jetzt auf ihren grossen, ernsten Zuegen malte, hatte einen andern Grund. Schon seit heute morgen bewegte sie etwas in ihrem Herzen, das sie gern besprochen haette, aber es hatte sich kein ruhiges Viertelstuendchen finden lassen. Wenn jetzt Frau Pfaeffling herauskaeme, jetzt haette sie vielleicht einen Augenblick Zeit fuer sie, aber sie wuerde wohl schwerlich kommen. Waehrend Walburg sich darnach sehnte, war Frau Pfaeffling ganz von ihren Kindern in Anspruch genommen, aber einmal, als ihr Blick zufaellig auf Walburgs Geschenke fiel, die noch auf dem Tisch lagen, dachte sie an das Maedchen. Warum war es wohl gar so kurz im Weihnachtszimmer geblieben? Es war noch nicht Zeit, das Abendessen zu bereiten, warum verweilte sie nicht lieber unter den gluecklichen Kindern, anstatt einsam in der kalten Kueche zu stehen? Frau Pfaeffling ging hinaus, nach Walburg zu sehen. Die Mutter wurde zuerst nicht vermisst, es gab ja so viel anzusehen und zu zeigen, und der Vater war ja da, aber allmaehlich ging von Mund zu Mund die Frage: "Wo ist denn die Mutter?" Herr Pfaeffling schickte Frieder hinaus. Er kam zurueck mit dem Bescheid, die Kuechentuere sei ganz fest zu und Walburg rede so viel mit der Mutter, wie sonst nie. "Dann lasst sie nur ungestoert," sagte der Vater, "wenn Walburg einmal redet, muss man froh sein." Frau Pfaeffling brachte aus der kalten Kueche einen warmen, sonnigen Ausdruck mit herein. Die Kinder zogen sie an ihren Tisch heran, aber im Vorbeigehen drueckte sie unvermerkt ihrem Mann die Hand und sagte leise: "Ich erzaehle dir spaeter!" Als Walburg das Abendessen auftrug wechselten sie einen vielsagenden Blick, und Marie sagte: "Unserer Walburg sieht man so gut an, dass heute Weihnachten ist." An diesem Abend waren die Kinder gar nicht zu Bett zu bringen, sie wollten sich nicht trennen von der Bescherung. Es wurde spaet, bis endlich Herr Pfaeffling mit seiner Frau allein war. "Du wirst nun auch der Ruhe beduerftig sein," sagte er. "Ja, aber eines muss ich dir noch erzaehlen, was mir Walburg anvertraut hat. Sie erhielt heute einen Brief von einer alten Frau aus ihrem Heimatdorf, die schreibt in schlichten, einfachen Worten, dass vor einem Jahr ihr Sohn Witwer geworden sei und mit seinen drei Kindern und dem kleinen Bauerngut hilflos dastehe. Er muesse wieder eine Frau haben, und weil er Walburg von klein an kenne, moechte er am liebsten sie haben. Er wisse wohl, dass sie nicht gut hoere, aber das mache weiter nicht viel. Wenn sie einverstanden sei, moege sie in den Feiertagen einmal herausfahren, dass man die Verlobung feiern koenne und die Hochzeit festsetze. Der Sohn hat dann noch an den Brief seiner Mutter unten hingeschrieben, die Reisekosten wolle er zur Haelfte bezahlen. Walburg kennt den Mann gut, denn sie waren Nachbarsleute, und sie ist ganz entschlossen, ja zu sagen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das freut fuer Walburg!" "Das ist freilich ein unerhofftes Glueck, aber wird sie denn einem Haushalt vorstehen koennen bei ihrer Taubheit?" "Wenn ihr die alte Mutter zur Seite steht, wird sie schon zurecht kommen. Ein schweres Kreuz bleibt es freilich fuer sie, aber ich finde es ruehrend, dass der Mann es auf sich nehmen will, um ihrer andern guten Eigenschaften willen. Uebrigens sagt Walburg, sie verstehe die Leute da draussen viel besser, weil sie ihren Dialekt reden." "Das kann wohl etwas ausmachen, und mich freut es fuer die treue Person, wenn auch nicht fuer uns. Aber wir werden auch wieder einen Ersatz finden." "Nicht so leicht! Doch daran denke ich heute gar nicht. Am zweiten Feiertag moechte sie hinausfahren auf ihr Dorf. Vorher wollen wir mit den Kindern noch nicht davon sprechen, sondern ihnen erst, wenn Walburg zurueckkommt, sagen, dass sie Braut ist." Waehrend unten so von ihr gesprochen wurde, war auch Walburg oben in ihrer Kammer noch taetig. Sie hatte zuerst in diesem ihrem eigenen kleinen Revier noch einmal ihren Brief gelesen und nun kniete sie vor der hoelzernen Truhe, in der ihre Habseligkeiten saeuberlich und sorgsam geordnet lagen. Sie hatte schon seit Jahren die Bauerntracht nimmer getragen, die in ihrem Dorf gebraeuchlich war, jetzt wollte sie sie hervorsuchen, sie sollte ja wieder zu den Landleuten da draussen gehoeren. Der dicke Rock und das schwarze Mieder, das Haeubchen und die breite blauseidene Schuerze, das alles lag beisammen, und sollte nun wieder zu Ehren kommen! Am zweiten Weihnachtsfeiertag, frueh morgens, noch ehe es tagte, reiste sie in ihrem laendlichen Staat in ihre Heimat. Erst wenn Walburg fehlte, merkte man, wie viel sie im Haus leistete. Es war gar kein Fertigwerden ohne sie. Und nun gar in solchen Ferientagen. Wenn Frau Pfaeffling drei ihrer Kinder dazu gebracht hatte, schoen aufzuraeumen, so hatten inzwischen vier andere wieder Unordnung gemacht und auf dem grossen Weihnachtstisch nahm der Kampf gegen die Nussschalen und Apfelbutzen kein Ende. Dazu kam der Kinderlaerm. Die Schlittschuhe lagen bereit, aber das Eis wollte sich bei der geringen Kaelte nicht bilden, und Frau Pfaeffling hatte doch so viel Feiertagsruhe davon erhofft! So lockte nichts die Kinder ins Freie, sie trieben sich alle sieben lachend, spielend oder streitend herum und machten der Mutter warm. Bis sie das Mittagessen bereitet und auf den Tisch gebracht hatte, war sie fast zu muede, um selbst davon zu nehmen. Da sah Herr Pfaeffling nach den Wolken am Himmel, erklaerte, das Wetter helle sich auf und er wolle einen weiten Marsch mit den grossen Kindern machen. Als eben beraten wurde, ob Marianne auch mittun koenne, kam eine Schulfreundin und lud die beiden Maedchen zu sich ein. Das war ein seltenes Ereignis und wurde mit Freude aufgenommen. So blieben nur die beiden Kleinen uebrig, die begleiteten ein wenig traurig die Grossen hinunter, kamen dann aber um so vergnuegter wieder herausgesprungen. Die Hausfrau hatte sie eingeladen, ihren Christbaum anzusehen und bei ihr zu spielen. So geschah es, dass Frau Pfaeffling an diesem Nachmittag ganz allein war; ihr Mann, die Kinder, ja sogar Walburg fort, so dass nicht einmal aus der Kueche ein Ton hereindrang. Wie wohl tat ihr die unerhoffte Ruhe! Wie viel liess sich auch an solch einem stillen Nachmittag tun, an das man sonst nicht kam! Es war schon ein Genuss, sich sagen zu duerfen: was _willst_ du tun? Meistens draengten sich die Geschaefte von selbst auf und haetten schon fertig sein sollen, ehe man daran ging. Eine Weile ruhte sie in traeumerischem Sinnen und ueber dem wurde ihr klar, was sie tun wollte: "Mutter," sagte sie leise vor sich hin, "Mutter, ich komme zu dir!" Frau Pfaefflings Mutter lebte im fernen Ostpreussen, und seit vielen Jahren hatten sich Mutter und Tochter nimmer gesehen. Die bald 80 jaehrige Frau konnte _nicht mehr_, und die junge Frau konnte _noch_ nicht die Reise wagen, die Kinder brauchten sie noch gar zu notwendig daheim. Aber es war doch koestlich, das treue Mutterherz noch zu besitzen, wenn auch in weiter Ferne. Seit langer Zeit hatte sie den Ihrigen nur kurze, eilig geschriebene Briefe mit den noetigsten Mitteilungen schicken koennen, jetzt wollte sie sich aussprechen, wie wenn sie endlich, endlich einmal wieder bei der geliebten Mutter waere. Und es gab einen langen, langen Brief, in dem die ganze Liebe zur Mutter sich aussprach, ja, in dem es fast wie Heimweh klang, aber das konnte doch nicht sein, war Frau Pfaeffling doch schon 18 Jahre aus dem Elternhaus. Es stand in dem Brief viel von Glueck und Dankbarkeit, viel von des Tages Last und Hitze und davon, dass ihr Mann und sie noch immer treulich an dem Trauungsspruch festhielten: Ein jeder trage des andern Last. Ihr Brief war fertig geworden beim letzten Schimmer des kurzen Dezembertags. Jetzt, als es dunkelte, ging sie zum Christbaum und zuendete ein einziges Lichtchen an. Das warf einen schwachen Schein und grosse breite Schatten von Tannenzweigen zeichneten sich an der Decke des Zimmers ab. Es war eine feierliche Stille am Weihnachtsbaum und Frau Pfaeffling sagte leise vor sich hin: Nahet euch zu Gott, so nahet er sich zu euch. Eine Viertelstunde spaeter mahnte die Glocke, dass wieder Leben und Bewegung Einlass begehre. "Nun werden die Kinder kommen," sagte sich Frau Pfaeffling. Sie fuehlte sich wieder allen Anforderungen gewachsen, froehlich ging sie hinaus und sprach zu sich selbst: "Dein Mann soll dich nicht so matt wiederfinden, wie er dich verlassen hat." Sie ging, ihm und den Kindern zu oeffnen, sie waren es aber nicht, die geklingelt hatten, Walburg stand vor der Tuere. "Du kommst schon?" rief Frau Pfaeffling erstaunt, "wir haben dich erst mit dem letzten Zug erwartet." "So kann ich das Abendessen machen," entgegnete das Maedchen. "Kartoffeln zusetzen?" "Ja, aber das ist mir jetzt nicht das wichtigste, sage mir doch erst, wie alles gegangen ist," und da Walburg zoegerte, fuegte sie hinzu, "ich bin ganz allein zu Hause." Und nun antwortete Walburg: "Er hat sich's nicht so arg gedacht, er meint, fuer die Kinder waere doch eine besser, die hoert." Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ging die Treppe hinauf in ihre Kammer. Sie wollte den braeutlichen Putz ablegen. Sorgsam faltete sie die blauseidene Schuerze, versenkte sie in die Truhe und legte den Brief dazu, der sie zwei Tage gluecklich gemacht hatte. Dann schluepfte sie in ihre alltaeglichen Kleider, setzte sich auf die alte Truhe und sah mit traurigen, aber traenenlosen Augen auf die kahlen Waende ihrer Kammer. Es war so kalt und totenstill da oben, es war so oede und leer in ihrem Herzen. Da ging die Tuere auf, Frau Pfaeffling kam herein und stand unvermutet neben dem Maedchen, das ihren Schritt nicht gehoert hatte. "Walburg, du tust mir so leid," sagte sie und ihre Augen waren nicht traenenleer. Walburg aber beherrschte ihre Bewegung und erwiderte in ihrer ruhigen Art: "Draussen habe ich selbst erst gemerkt, wie schlimm das mit mir geworden ist, ich habe kein Wort verstanden, sie haben mir's auf die Tafel schreiben muessen und die Kinder haben gelacht. So wird er wohl recht haben. Er war freundlich mit mir bis zuletzt, das Reisegeld hat er mir zu zwei Drittel gezahlt und die Alte hat mir noch Kuchenbrot mitgegeben. Sonst waere alles recht gewesen, nur gerade eben die Taubheit. Und sie sagen auch, ich koennte gar nicht mehr so reden wie sich's gehoert. Ich weiss nicht wie das zugeht, Sie verstehe ich doch auch ohne Tafel und rede ich denn nicht wie frueher auch?" "Fuer uns redest du ganz recht," entgegnete Frau Pfaeffling, "wir verstehen uns und darum ist's am besten, wir bleiben zusammen. Uns ist's lieb, dass du uns nicht verlaesst, Walburg, du hast uns so gefehlt." Da wich der starre, traurige Zug aus Walburgs Gesicht, und sie sah voll Liebe und Dankbarkeit auf zu der Frau, die sich so bemuehte, ihr, der Tauben, Trostreiches zu Gehoer zu bringen. Worte des Dankes fand sie freilich nicht, aber mit Taten wollte sie danken; eilfertig griff sie nach ihrer Hausschuerze, band sie um und sagte: "Wenn der Herr heimkommt und das Essen nicht gerichtet ist!" Frau Pfaeffling sagte an diesem Abend zu ihren Kindern: "Walburg ist so traurig aus ihrer Heimat zurueckgekehrt, sie hat weder Eltern noch Geschwister mehr draussen, wir wollen uns Muehe geben, dass sie sich bei uns recht heimisch fuehlt." "Ich gehe mit meiner Violine zu ihr," sagte Frieder, "den Geigenton hoert sie." Da warnte Herr Pfaeffling mit dem Finger und sagte: "Nach dem Abendessen noch geigen? Wie heisst dein Vers? "'Eine Stund am Tag, auch zwei, Doch nicht mehr, es bleibt dabei.'" Aber Frieder konnte nachweisen, dass er heute noch nicht zwei Stunden gespielt hatte, ging hinaus in die Kueche und machte mit denselben Violinuebungen, die sonst die Zuhoerer in Verzweiflung bringen, dem traurigen Maedchen das Herz leichter, denn es erkannte die Anhaenglichkeit des Kindes, und in die tiefe Vereinsamung, die ihr die Taubheit auferlegte, drang der Ton der Saiten zu ihr als eine Verbindung mit den Mitmenschen. 9. Kapitel Bei grimmiger Kaelte. Das Neujahrsfest brachte grimmige Kaelte, brachte Eis, mehr als zum Schlittschuhlaufen noetig gewesen waere. Schon beim Erwachen empfand man die menschenfeindliche Luftstroemung und es gehoerte Heldenmut dazu, aus den warmen Betten zu schlupfen. In Pfaefflings kalten Schlafzimmern war das Waschwasser eingefroren, und man musste erst die Eisdecke einschlagen, ehe man es benuetzen konnte. Als die Familie sich mit Neujahrswuenschen am Fruehstueckstisch zusammenfand, galt Herrn Pfaefflings erster Blick dem Thermometer vor dem Fenster, und er musste das Quecksilber in ungewohnter Tiefe suchen. "Zwanzig Grad Kaelte," verkuendete er, "Kinder, das habt ihr noch nie erlebt; und Walburgs Neujahrsgruss lautete: 'Die Wasserleitung ist ueber Nacht eingefroren.'" Die Strassen waren ungewoehnlich still, wer nicht hinaus musste, blieb daheim am warmen Ofen und wer, wie die Brieftraeger, am Neujahrstag ganz besonders viel durch die kalten Strassen laufen und vor den Haeusern stehend warten musste, bis die Tueren geoeffnet wurden, der hoerte manches teilnehmende Wort. Frau Hartwig brachte ihnen bei jedem Gang eine Tasse warmen Kaffees entgegen. Auch die Familie Pfaeffling hatte ihr Paeckchen Glueckwunschkarten und -briefe erhalten und unter diesen Briefen war einer, der noch mehr als Glueckwuensche enthielt. Es war die Antwort auf Frau Pfaefflings Weihnachtsbrief und er brachte ihr eine warme, dringende Einladung, sich zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter, der im Februar gefeiert werden sollte, einzufinden, damit nach langen Jahren der Trennung auch _einmal_ wieder die drei Geschwister mit der Mutter in der alten Heimat vereinigt waeren. So viel Liebe und Anhaenglichkeit sprach sich aus in den Briefen von Frau Pfaefflings Bruder und Schwester, denen ein eigenhaendiger, mit zitternder Hand geschriebener Gruss der alten Mutter beigesetzt war, dass Frau Pfaeffling tief bewegt war und zu ihrem Mann wehmuetig sagte: "Ach, wenn es nur moeglich waere, aber es ist ja gar nicht daran zu denken! So weit fort und auf ein paar Wochen, denn fuer einige Tage wuerde sich die grosse Reise gar nicht lohnen." Es kam ganz selten vor, dass Frau Pfaeffling fuer sich einen Wunsch aeusserte, und so war es nur natuerlich, dass es der ganzen Familie Eindruck machte, wenn es doch einmal geschah. "Geht es denn wirklich nicht, Vater?" fragte Karl. "So ganz unmoeglich kommt mir die Sache nicht vor," antwortete Herr Pfaeffling, indem er sich an seine Frau wandte, "jetzt, wo die Kinder gross sind und Walburg so zuverlaessig ist." Frau Pfaeffling wollte etwas entgegnen, aber der ganze Kinderchor stimmte dem Vater zu, wollte gar keine Schwierigkeit gelten lassen und versicherte, es sollte in Abwesenheit der Mutter alles so ordentlich zugehen, wie wenn sie da waere. Aber sie schuettelte dazu unglaeubig den Kopf und brach die Beratung ab, indem sie sagte: "Bei solch einer Kaelte mag man gar nicht an eine Reise denken, wir wollen sehen, was der Januar bringt!" Zunaechst brachte er den Abschluss der Ferienzeit, die Schulen begannen wieder. So warm wie moeglich eingepackt machten sich die Kinder auf den Weg. Freilich, die drei grossen Brueder besassen zusammen nur zwei Wintermaentel, bisher waren sie auch immer gut damit ausgekommen, heute haette jeder gerne einen gehabt. Otto hatte sich einen gesichert, indem er ihn schon vor dem Fruehstueck angezogen hatte. Nun standen Karl und Wilhelm vor dem einen, der noch uebrig war. "Dich wird's nicht so arg frieren wie mich," sagte Wilhelm zum groesseren Bruder und Karl, obwohl er nicht recht wusste, warum es ihn nicht so frieren sollte, war schon im Begriff, auf den Mantel zu verzichten, als Otto sich einmischte: "Lass doch Karl den Mantel. In den obern Klassen hat doch jeder einen, es sieht so dumm aus, wenn er allein keinen hat!" "Dumm?" sagte Herr Pfaeffling, "es sieht eben aus, als seien keine grossen Kapitalien da, mit denen man ungezaehlte Maentel beschaffen koennte. So ist's und deshalb darf es auch so aussehen. Uebrigens, laenger als fuenfzehn Minuten braucht ihr nicht zum Schulweg, ist das auch der Rede wert, wenn man eine Viertelstunde frieren muss? Seid ihr so zimpferlich?" "Ich nicht," rief Wilhelm, "ich brauche auch nur zwoelf Minuten," er liess den Mantel fahren und rannte davon. Elschen war diesmal nicht so ungluecklich wie frueher ueber den Schulanfang, sie nahm die Schultasche her, die sie zu Weihnachten bekommen hatte, packte die Tafel aus, fing an zu schreiben, was sie von Buchstaben kannte, und troestete sich mit der Aussicht, dass nach den Osternferien auch sie mit den Grossen den Schulweg einschlagen wuerde. So wohl es Frau Pfaeffling tat, wenn ihre Kinder nach solcher Ferienzeit wieder zum ersten Male in die Schule gingen, so freute sie sich doch auf das erste Heimkommen, denn sie wusste aus Erfahrung, dass Mann und Kinder angeregt und von irgend welchen neuen Mitteilungen erfuellt, zurueckkommen wuerden. Um so mehr war sie ueberrascht, dass Marianne diesmal weinend nach Hause kam. Die beiden Maedchen, obgleich sie gut mit Wintermaenteln versehen waren, weinten vor Kaelte und die Fingerspitzen wurden in der Waerme nur noch schmerzhafter, so dass sie noch klagend im Zimmer herumtrippelten, als die Familie sich zu Tisch setzen wollte. "Habt ihr denn eure Winterhandschuhe nicht angehabt?" fragte Frau Pfaeffling. Da kam ein kleinlautes "Nein" heraus und das Gestaendnis, dass man sich den Mitschuelerinnen mit den neuen, knapp anschliessenden Glacehandschuhen habe zeigen wollen, die Fraeulein Vernagelding zu Weihnachten geschenkt hatte. Nun wurden die armen Frierenden noch von den Bruedern ausgelacht. "So, du lachst auch mit, Otto," sagte Frau Pfaeffling. "Wenn du keine Glacehandschuhe traegst, so kommt es gewiss nur daher, dass du keine hast. Aber Kinder, wer von euch eitel ist, der hat nichts vom Vater und ist gar kein rechter Pfaeffling, und das wollt ihr doch alle sein? Nun kommt, ihr Erfrorenen, jetzt gibt es warme Suppe. Elschen und ich, wir haben uns so gefreut, bis ihr alle heimkommt und von der Schule erzaehlt. Kommt, wir wollen beten: "Herr wie schon vor tausend Jahren Unsre Vaeter eifrig waren, Dich als Gast zu Tisch zu bitten, So verlangt uns noch heute, Dass Du teilest unsre Freude. Komm, o Herr in unsre Mitte!" Bei Tisch kamen nun, wie Frau Pfaeffling erwartet hatte, allerlei Mitteilungen. Ueber Weihnachten hatte man sich ganz in die Familie vergraben, jetzt, durch die Beruehrung mit der Aussenwelt, erfuhr man wieder, was vor sich ging. Herr Pfaeffling hatte vom Direktor der Musikschule etwas gehoert, was ihn ganz erfuellte: Ein Kuenstlerkonzert ersten Ranges sollte in diesem Monat stattfinden. Ein Kuenstlerpaar, das vor Jahren schon die Stadt besucht und alle Musikfreunde hingerissen hatte, die Frau durch ihren herrlichen Gesang, der Mann durch meisterhaftes Klavierspiel, wollte auf einer Reise durch die grossen Staedte Europas sich hoeren lassen, und zwar nahm an dieser Konzertreise zum erstenmal auch der kleine Sohn des Kuenstlerpaares als Violinspieler Anteil, und die Zeitungen waren voll von ueberschwaenglichen Schilderungen des ruehrenden Eindrucks, den das geniale Violinspiel des wunderbar begabten Knaben mache. Freilich waren die Preise fuer diesen Kunstgenuss so hoch gestellt, dass unser Musiklehrer nicht daran gedacht haette, sich ein solch kostbares Vergnuegen zu goennen, aber das Konzert sollte im Saal der Musikschule gegeben werden, und in solchem Fall war es ueblich, dass die Hauptlehrer der Anstalt Freikarten erhielten. So gab er sich jetzt schon der Freude auf diesen grossen Kunstgenuss hin, umkreiste vergnuegt den Tisch, blieb dann hinter seiner Frau Stuhl stehen und sagte: "Ich bekomme eine Freikarte zum Konzert, du bekommst von deinem Bruder eine Freikarte zum 80. Geburtstag der Mutter. Nicht wahr, Kinder, die Mutter muss sich zur Reise richten?" Sie stimmten alle ein, und es schien der Mutter mit dem Widerspruch nicht mehr bitterer Ernst zu sein. Nun berichteten die Kinder von mancherlei Schulereignissen, ein Lehrer war krank, eine Lehrerin gesund geworden, ein Schueler war neu eingetreten, ein anderer ausgetreten. Herr Pfaeffling hatte nur mit halber Aufmerksamkeit zugehoert, jetzt aber traf ein Name an sein Ohr, der ihn aus seinen Gedanken weckte: "Was hast du eben von Rudolf Meier erzaehlt?" fragte er Otto. "Er ist aus dem Gymnasium ausgetreten." "Hast du nichts naeheres darueber gehoert?" "Sie sagen, er sei fortgekommen von hier, ich glaube zu Verwandten, ich weiss nicht mehr." Herr und Frau Pfaeffling wechselten Blicke, die nur Karl verstand. Gesprochen wurde nichts darueber, Herr Pfaeffling sollte aber bald naeheres erfahren. Er machte sich an diesem Nachmittag auf den Weg nach dem Zentralhotel, im neuen Jahr die erste Musikstunde dort zu geben. Es war bitter kalt, und selbst die russische Familie klagte ueber den kalten deutschen Winter. "Sie muessen von Russland doch noch an ganz andere Kaelte gewoehnt sein?" meinte Herr Pfaeffling. "Ja, aber dort friert man nicht so, da weiss man sich besser zu schuetzen. Alle Fahrgelegenheiten sind heizbar, alles ist mit Pelzen belegt und Sie sehen auch jedermann in Pelze gehuellt auf der Strasse. Warum tragen Sie keinen Pelz bei solcher Kaelte?" fragte die Generalin, indem sie einen Blick auf Herrn Pfaefflings Kleidung warf. Ihm war der Gedanke an einen Pelzrock noch nie gekommen. "Da gibt es noch vieles, vieles Noetigere anzuschaffen, ehe ein Pelzrock fuer mich an die Reihe kaeme," sagte er, "ich kann uebrigens sehr rasch gehen und werde warm vom Lauf, meine Haende sind nicht steif, wir koennen gleich spielen." Am Schluss der Stunde erzaehlten die jungen Herren von dem Ball im Hotel. "Es war sehr huebsch," sagten sie, "wir durften auch tanzen, der Sohn des Besitzers, der viel juenger ist als wir, hat auch getanzt. Er ist uebrigens jetzt nicht mehr hier." "Ja," sagte der General, "der Hotelier ist einsichtsvoller, als ich gedacht haette. Er sagte zu mir: 'Hier in diesem Hotelleben arbeitet der Junge nicht, er kommandiert nur. Er soll fort von hier, in ein richtiges Familienleben hinein.'" Herr Pfaeffling erkannte diese Worte als seine eigenen. "Der Mann hat recht," fuhr der General fort, "wenn die Verhaeltnisse im Haus unguenstig sind, ist es besser, ein Kind wegzugeben, und wenn sie im ganzen Land unguenstig sind, so wie bei uns in Russland, so ist es wohl auch besser, die Kinder in einem andern _Land_ aufwachsen zu lassen. In Russland haben wir ganz traurige Zustaende, die jungen Leute, die dort aufwachsen, sehen nichts als Verderbnis ueberall, Unredlichkeit und Bestechung sogar schon in den Schulen. Unsere eigenen Soehne haben von dieser verdorbenen Luft schon mehr eingeatmet, als ihnen gut war. Meine Frau und ich haben uns entschlossen, sie in einer deutschen Erziehungsanstalt zurueckzulassen, wenn wir nach Russland zurueckkehren, was wohl in der naechsten Zeit sein muss. Wir stehen gegenwaertig ueber diese Angelegenheit in Briefwechsel mit einer Berliner Anstalt." Noch nie hatte der General so eingehend und offen mit dem Musiklehrer gesprochen. Die Generalin sah ernst und sorgenvoll aus, die Soehne standen beiseite mit niedergeschlagenen Augen. Herr Pfaeffling fuehlte, dass diese reichen, hochgebildeten und begabten Leute auch ihren schweren, heimlichen Kummer zu tragen hatten, und er sagte mit warmer Teilnahme: "Jeder einzelne leidet mit, wenn sein Vaterland so schlimme Zeiten durchmacht, wie das Ihrige. Moechte das neue Jahr fuer Russland bessere Zustaende bringen!" Als Herr Pfaeffling kurz darauf die Treppe herunter ging, traf er unvermutet mit Herrn Rudolf Meier sen. zusammen, der heraufkam. Einen Augenblick zoegerten beide. Sie hatten _ein_ gemeinsames Interesse, ueber das zu sprechen ihnen nahelag. Aber an Herrn Meier waere es gewesen, die Sprache darauf zu bringen, wenn er nicht mehr zuernte. Er tat es nicht. Mit dem hoeflichen aber kuehlen Gruss des Gastwirts ging er vorueber, gewohnheitsmaessig die Worte sprechend: "Sehr kalt heute!" "Ja, 20 Grad," entgegnete Herr Pfaeffling, und dann gingen sie auseinander. Daheim angekommen, hoerte Herr Pfaeffling Frieders Violine. Wie der kleine Kerl sie schon zu streichen verstand! Ob er wohl einmal ein Kuenstler, ein echter, wahrer, gottbegnadeter Kuenstler wuerde? Aber wie war denn das? Hatte Frieder nicht schon gespielt, lange, ehe sein Vater sich auf den Weg zum Zentralhotel gemacht hatte? Spielte er wohl seitdem ununterbrochen? Er ging dem Geigenspiel nach. Aus der Kueche erklang es. Neben Walburg, die da buegelte, stand der eifrige, kleine Musiker, ein herzgewinnender Anblick. Aber Herr Pfaeffling liess sich dadurch nicht bestechen. "Frieder, wie lange hast du schon gespielt?" fragte er. "Nicht lange, Vater." "Nicht immerfort, seitdem du aus meinem Zimmer die Geige geholt hast? Sage mir das genau?" "Immerfort seitdem," antwortete Frieder und fuegte etwas unsicher hinzu: "Aber das ist doch noch nicht lang her?" "Das ist ueber zwei Stunden her, Frieder, und hast du nicht auch schon heute nach Tisch gespielt? Und sind deine Schulaufgaben gemacht? Ei, Frieder, da stehst du und kannst nicht antworten! Nimm dich in acht, sonst kommst du noch ganz um die Geige! Gib sie her, in _der_ Woche bekommst du sie nimmer!" Herr Pfaeffling streckte die Hand aus nach der Violine. Der Kleine hielt sie fest. Der Vater sah das mit Erstaunen. Konnte Frieder widerstreben? Hatte je eines der Kinder sich seinem Befehl widersetzt? Aber nein, es war nur _ein_ Augenblick gewesen, dann reichte er schuldbewusst die geliebte Violine dem Vater hin und ergab sich. Herr Pfaeffling ging hinaus mit dem Instrument. Walburg hatte nicht verstanden, was gesprochen worden war, aber gesehen hatte sie und sie sah auch jetzt, wie sich langsam ihres Lieblings Augen mit dicken Traenen fuellten. Sie stellte ihr Buegeleisen ab, zog den Kleinen an sich und fragte: "Darfst du denn nicht spielen?" "Nicht laenger als zwei Stunden im Tag," rief Frieder in klaeglichem Ton. "Sei nur zufrieden," troestete sie ihn, "ich sehe dir jetzt immer auf die Uhr." Frieder zog traurig ab; jede Stunde sehnte er sich nach seiner Violine, und nun war sie ihm fuer eine ganze Woche genommen! Aber auch Herr Pfaeffling war nicht in seiner gewohnten froehlichen Stimmung. Ihm war es leid, dass der Unterricht in der russischen Familie zu Ende gehen sollte, eine grosse Freude und eine bedeutende Einnahme fiel damit fuer ihn weg, und dazu kam nun, dass er auf dem Tisch im Musikzimmer eine Neujahrsrechnung vorfand, die, nachdem er sie geoeffnet und einen Blick auf die Summe geworfen hatte, ihn hinuebertrieb in das Familienzimmer zu seiner Frau. "Caecilie," rief er schon unter der Tuere, und als er die Kinder allein fand, fragte er ungeduldig: "Wo ist denn die Mutter schon wieder?" "Sie ist draussen und buegelt." "So ruft sie herein, schnell, Marianne!" Die Maedchen gingen eiligst hinaus: "Mutter, der Vater fragt nach dir." Frau Pfaeffling buegelte eben einen Kragen. "Sagt nur dem Vater, ich komme gleich; ich muss nur den Kragen erst steif haben." "Wir wollen lieber erst mit dir hineingehen," sagten die Schwestern und in diesem Augenblick ertoente ein lautes "Caecilie". Daraufhin wurde der halb gebuegelte Kragen im Stich gelassen. Frau Pfaeffling kam in das Zimmer und sah ihren Mann mit einer Rechnung in der Hand. "Ist denn das nicht eine ganz unnoetige Komoedie mit der ewigen Buegelei," fragte Herr Pfaeffling, "die Kinder waeren doch ebenso gluecklich in ungebuegelten Hemden!" Auf diese gereizte Frage antwortete Frau Pfaeffling bloss wieder mit einer Frage: "Ist das die Doktorsrechnung? Sie kann doch nicht sehr hoch sein?" "Sechzig Mark! Haettest du das fuer moeglich gehalten?" "Unmoeglich! Sechzig Mark? Zeige doch nur! Die kleine Ohrenoperation von Anne im vorigen Sommer fuenfzig Mark?!" Bei diesem Ausruf sahen alle Geschwister auf Anne, und diese fing bitterlich an zu weinen. Die Traenen besaenftigten aber den Vater. Er ging zu der Schluchzenden. "Sei still, du armer Wurm," sagte er, "du kannst nichts dafuer. Hast so viel Schmerzen aushalten muessen, und das soll noch so viel Geld kosten! Aber sei nur getrost, geholfen hat dir der Arzt doch, und wir wollen froh sein, dass du nicht so taub geworden bist wie Walburg. Hoerst du jetzt wieder ganz gut, auch in der Schule?" "Ja," schluchzte das Kind. "Nun also, sei nur zufrieden, das Geld bringt man schon auf, man hat ja noch das Honorar zu erwarten fuer die Russenstunden und andere Rechnungen, als die vom Arzt, stehen nicht aus; nicht wahr, Caecilie, es ist doch immer alles gleich bezahlt worden?" "Freilich," entgegnete sie, "aber ich kann es gar nicht fassen, dass diese Ohrenbehandlung foermlich als Operation aufgefuehrt und angerechnet wird. Ich war damals nicht dabei, Marianne ist immer ohne mich beim Arzt gewesen und so schlimm haben sie es nie geschildert." Da sahen sich die Schwestern ernsthaft an und sagten: "Ja, einmal war's schlimm!" Als Frau Pfaeffling nach einer Weile wieder beim Buegeln stand, war ihr der Kummer ueber die sechzig Mark noch anzusehen, waehrend Herr Pfaeffling schon wieder guten Muts in sein Musikzimmer zurueckkehrte und sich sagte: "Es ist doch viel, wenn man es dahin bringt, dass die Doktorsrechnung die einzige an Neujahr ist." Sie war aber doch nicht die einzige. Keine halbe Stunde war vergangen, als wieder so ein Stadtbrief an des Vaters Adresse abgegeben wurde, und die Kinder, die denselben in Empfang genommen hatten, fluesterten bedenklich untereinander: "Es wird doch nicht wieder eine Rechnung sein?" Sie riefen Elschen herbei: "Trage du dem Vater den Brief hinueber." Das Kind uebernahm arglos den Auftrag und blieb, an den Vater geschmiegt, zutraulich plaudernd bei ihm stehen. Er riss hastig den Umschlag auf, eine Rechnung fiel ihm entgegen. Vom Buchhaendler war sie und lautete nur auf vier Mark, fuer eine Grammatik, aber sie empoerte Herrn Pfaeffling fast mehr als die grosse Rechnung. "Wenn die Buben das anfangen, dass sie auf Rechnung etwas holen, dann hoert ja jegliche Ordnung und Sicherheit auf," sagte er, indem er das Blatt auf den Tisch warf und in der Stube hin und her lief: "Else, hole mir die drei Grossen herueber," sagte er, "aber schnell." Die Kleine ging mit besorgter Miene, suchte Karl, Wilhelm und Otto auf und kam dann zur Mutter an den Buegeltisch. "Es ist wieder etwas passiert mit einer Rechnung," sagte sie, "und die Grossen muessen alle zum Vater hinein. Sie sind gar nicht gern hinuebergegangen," fuegte sie bedenklich hinzu. "Es geschieht ihnen nichts, wenn sie nicht unartig waren," sagte die Mutter, aber nebenbei wischte sie sich doch den Schweiss von der Stirne, trotz der zwanzig Grad Kaelte draussen und sagte zu Walburg: "Wieviel Kragen haben wir denn noch zu buegeln, heute nimmt es ja gar kein Ende!" und Walburg entgegnete: "Es sind immer noch viele da." Frau Pfaeffling buegelte weiter, sah muede aus und sagte sich im stillen: "Eine Wohltat muesste es freilich sein, wenn man einmal ein paar Wochen ausgespannt wuerde!" Inzwischen hatte Herr Pfaeffling ein Verhoer mit seinen Soehnen angestellt, und Otto hatte gestanden, dass er bei Beginn des Schuljahrs die Grammatik geholt hatte. Er suchte sich zu rechtfertigen: "Ich haette gerne die alte Ausgabe benuetzt," sagte er, "aber als sie der Professor nur sah, war er schon aergerlich und sagte: 'Die kenne ich, die habe ich schon bei deinem aeltesten Bruder beanstandet, und er hat sie doch immer wieder gebracht, dann hat mich dein Bruder Wilhelm das ganze Schuljahr hindurch vertroestet, er bekomme bald eine neue Auflage, und es ist doch nie wahr geworden, aber zum drittenmal lasse ich mich nicht anschwindeln. Die alte Auflage muss wohl noch von deinem Grossvater stammen?' So hat der Professor zu mir gesprochen, was habe ich da machen koennen?" "Mir haettest du das gleich sagen sollen, dann waere sie bezahlt worden." "Du hast damals gar nichts davon hoeren wollen," sagte Otto klaeglich. "Dann haettest du es der Mutter sagen sollen." "Die Mutter schickt uns immer zu dir." "Ach was," entgegnet Herr Pfaeffling ungeduldig, "du bist ein Streiter; wie du es haettest machen sollen, kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht so. Denkt nur, wohin das fuehren wuerde, wenn ihr alle sieben auf Rechnung nehmen wuerdet. Wenn man so knapp daran ist wie wir, dann kann man durchaus keine Neujahrsrechnungen brauchen, die Mutter und ich bringen es immer zustande ohne solche, und ihr muesst es auch lernen. Darum zahle du nur selbst die vier Mark. Du hast ja an Weihnachten Geld geschickt bekommen?" "Ich habe keine drei Mark mehr." "Dann helfen die Brueder. Ihr habt es doch wohl gewusst, dass Otto die Grammatik geholt hat? Also, dann koennt ihr auch zahlen helfen. Jeder eine Mark, oder meinetwegen eine halbe, und die vierte Mark will ich darauflegen. Aber springt nur gleich zum Buchhaendler, zahlt und bringt mir die Quittung, und am naechsten Neujahr kommt keine Rechnung mehr, Kinder, nicht wahr?" Sie versprachen es, nahmen des Vaters Beitrag dankbar entgegen und waren froh, dass die Sache gnaedig abgelaufen war. Das Geld wurde zusammengesucht, Otto wollte es gleich zum Buchhaendler tragen. Als er hinunterkam, hielt eben vor der Haustuere eine Droschke, eine kleine Dame stieg aus, hinter Pelzwerk und Schleier hervor sah Fraeulein Vernageldings Lockenkoepfchen. Sie kam zur Stunde. "Armer Vater, auch das noch!" musste Otto denken. Aber das Fraeulein sprach ihn freundlich an: "Es ist zu kalt heute, um zu Fuss zu gehen, wollen Sie nicht auch fahren? Da waere eben eine Droschke frei!" "Danke, nein, ich gehe zu Fuss," entgegnete Otto, lief davon und lachte vor sich hin ueber den Einfall, dass er zum Buchhaendler fahren sollte. Aber das Lachen verging ihm bald, es lacht niemand auf der Strasse bei zwanzig Grad Kaelte! 10. Kapitel Ein Kuenstlerkonzert. Der Vorabend des Konzertes war gekommen, die ganze Stadt sprach von dem bevorstehenden seltenen Kunstgenuss. Die schon frueher Gelegenheit gehabt hatten, die Kuenstler zu hoeren, stritten darueber, ob die entzueckende Stimme der Saengerin, die meisterhaften Leitungen des Klavierspielers die Menschen von nah und fern herbei lockten oder ob das kleine musikalische Wunderkind einen solchen Reiz ausuebte. Im Zentralhotel waren Zimmer bestellt fuer die Kuenstlerfamilie und ihre Begleitung. Herr Pfaeffling wusste das nicht, als er dem Hotel zuging, um seine letzte Stunde bei der russischen Familie zu geben. Noch einmal musizierten sie zusammen, weit ueber die festgesetzte Zeit hinaus, dann nahm Herr Pfaeffling Abschied. Der General und seine Gemahlin schienen ihm ernst und traurig. Schwer lag auf ihnen der Gedanke, sich von den Soehnen trennen zu sollen. Auf der Durchreise wollten sie die beiden jungen Leute in Berlin zuruecklassen. Schwer bedrueckte sie auch der jammervolle Zustand des Vaterlandes, in das sie zurueckkehren mussten. Unordnung herrschte im ganzen russischen Reich. Bei diesem letzten Zusammensein schwand jede Schranke, welche durch den grossen Abstand der aeusseren Stellung und Lebensverhaeltnisse zwischen den beiden Maennern etwa noch bestanden hatte; in offener Mitteilsamkeit und warmer Teilnahme fanden und trennten sie sich. "Unsere Soehne werden morgen noch zu Ihnen kommen," sagte der General, "um sich bei Ihnen zu verabschieden und auch unseren Dank zu ueberbringen. Uebermorgen werden wir reisen. Das Konzert wollen wir noch anhoeren, vielleicht sehen wir uns im Saal!" Vom General und seiner Gemahlin freundlich bis zur Treppe geleitet, verabschiedete sich Herr Pfaeffling. Auf der Treppe musste er Platz machen. Ein praechtiger Blumenkorb wurde eben herauf getragen. Er war fuer das Empfangszimmer des Kuenstlerpaares bestimmt. Eine gewisse Unruhe und Erregung herrschte in dem ganzen Hotel. Um so mehr war Herr Pfaeffling verwundert, als ihn der Hotelbesitzer auf der Treppe einholte und ruhig anredete. "Haben Sie vielleicht einen Augenblick Zeit, mit mir hier herein zu kommen?" fragte er, die Tuere eines Zimmers aufmachend. "Ich wohl," sagte Herr Pfaeffling, "aber Sie sind heute wieder vollauf in Anspruch genommen?" "Allerdings, und man sollte meinen, ich haette keinen anderen Gedanken als meine Gaeste, aber auch uns Geschaeftsleuten steht das eigene Fleisch und Blut doch am naechsten. Mir klingt heute in aller Unruhe immer nach, was mir mein Sohn diesen Morgen geschrieben hat. Sie wissen es vielleicht, dass er seit Weihnachten bei meiner verheirateten Schwester ist. Sie, Herr Pfaeffling, haben mir ja damals, als ich blind war, den Star gestochen. Es war eine schmerzhafte, aber erfolgreiche Operation." "Wenn sie erfolgreich war, so freut mich das herzlich, denn ich bin mir sehr bewusst, dass ich sie mit plumper, ungeschickter Hand vorgenommen habe. Was schreibt Ihr Sohn?" "Anfangs wollte er sich nicht recht in das einfache Familienleben finden, aber nun sollten Sie hoeren, wie er begeistert schreibt ueber seine Tante, obwohl diese ihn fest fuehrt, wie wichtig es ihm ist, ob er ihr zum Quartalsabschluss ein gutes Zeugnis bringen wird und wiederum, wie vergnuegt er die Schlittenfahrten, die Spiele mit den Kindern schildert." Herr Meier warf einen Blick in den Brief, den er ans seiner Tasche zog, und schien Lust zu haben, ihn vorzulesen, aber er steckte ihn rasch wieder ein, da ein Bursche eintrat und ihm eine ganze Anzahl Telegramme ueberreichte, die eben eingetroffen waren. "Ich will Sie nicht laenger aufhalten," sagte Herr Pfaeffling. "Ihre Telegramme beunruhigen mich, auch hoere ich unten immerfort das Telephon." "Fuer dieses sorgt der Portier, und die Telegramme enthalten vermutlich alle nur Zimmerbestellungen. Viele Fremde moechten da absteigen, wo sie wissen, dass die Kuenstler ihr Absteigequartier genommen haben, besonders auch die Berichterstatter fuer die Zeitungen, diese hoffen im gleichen Hause etwas mehr zu hoeren und zu sehen von den Kuenstlern, als was sich im Konzertsaal abspielt." Herr Meier hatte einen Blick in die Telegramme getan: "Nur Zimmerbestellungen," sagte er, "es ist aber schon alles bei mir besetzt oder vorausbestellt. Ich muss fuer Aufnahme in anderen Haeusern sorgen. Mir ist es lieb, zu denken, dass Rudolf fern von dem allem an seiner Arbeit oder auch beim Kinderspiel sitzt. Ich werde Ihnen immer dankbar sein fuer Ihren Rat, Herr Pfaeffling." Die beiden Maenner trennten sich und als Herr Pfaeffling das Zentralhotel verliess, dessen schoene Freitreppe er nun vielleicht zum letztenmal ueberschritten hatte, wandte er sich unwillkuerlich und warf noch einmal einen Blick auf diesen Ort des Luxus und des Wohllebens zurueck. Wie wenig Unterschied war doch im Grund bei aller aeusseren Verschiedenheit zwischen dem, was hier und was im einfachen Hause die Herzen bewegte. Der russische General, der reiche Geschaeftsmann und er, der schlichte Musiklehrer, schliesslich hatten sie alle das gleiche Herzensanliegen. Geld und Gut allein befriedigte keinen, um ihre _Kinder_ sorgten sie sich, tuechtige Soehne wollten sie alle, und das konnte ein armer Musiklehrer so gut oder leichter haben als die Reichen. Am folgenden Morgen erschienen die beiden jungen Russen in der Fruehlingsstrasse, um ihren Abschiedsbesuch zu machen. Herr Pfaeffling war in der Musikschule, seine Frau empfing mit Freundlichkeit diese beiden Schueler, die ihrem Lehrer seine Aufgabe immer leicht gemacht hatten. Die jungen Leute drueckten sich nun schon gewandt in der deutschen Sprache aus, baten Frau Pfaeffling, ihren Dank zu vermitteln und teilten ihr mit, dass die Eltern ihre Abreise noch um einige Tage verschoben haetten, selbst noch einen Gruss schreiben und diesem das Honorar fuer die Stunden beilegen wollten. Unser Musiklehrer haette sie noch in der Fruehlingsstrasse treffen muessen, wenn er zur gewohnten Zeit heim gekommen waere. Aber es hatte heute in der Musikschule nach Schluss des Unterrichts eine sehr erregte Besprechung zwischen den Lehrern der Anstalt gegeben, und Herr Pfaeffling kam spaeter als sonst und nicht mit seiner gewohnten froehlichen Miene heim. Heute war er nicht, wie gestern, der Ansicht, dass reich oder arm nicht viel zum Glueck des Menschen ausmache! Der Direktor hatte mitgeteilt, dass zu dem abendlichen Konzert nur eine einzige Freikarte, auf seinen Namen lautend, fuer die Lehrer der Musikschule abgegeben worden sei. Darueber herrschte grosse Entruestung unter den Kollegen. Manche konnten sich ja auf eigene Kosten noch Plaetze verschaffen, fuer Herrn Pfaeffling war solch eine Ausgabe ausgeschlossen. Seine Frau machte einen schwachen Versuch, ihn doch dazu zu ueberreden. "Nein," sagte er, "ich saesse nur mit schlechtem Gewissen in dem Saal, habe ich doch noch nicht einmal die 60 Mark beisammen fuer den Arzt! Wenn die Russen heute das Geld geschickt haetten, das haette mich vielleicht verfuehrt. Die Leute sind auch so gedankenlos, sie tun, wie wenn unser einem das ganz gleich waere, ob man auf das Stundenhonorar wochenlang warten muss oder nicht! Und die Kuenstler! Wie leicht haetten sie noch eine Freikarte mehr schicken koennen! Weisst du, dass Fraeulein Vernagelding mit ihrer Mutter in das Konzert gehen wird? Ich habe bisher nicht gedacht, dass ich neidisch bin, aber: ich glaube wirklich, in diesem Fall bin ich es! Denke dir, das junge Gaenschen, das nicht hoert, was recht und was falsch klingt, soll diesen Kunstgenuss haben, und unsereines bleibt ausgeschlossen. Und warum geht sie hin? Weil Mama sagt: Bei solch hohem Eintrittspreis sei man sicher, nur die vornehmste Gesellschaft zu treffen! Und da soll man nicht bitter werden!" "Bitter?" wiederholte Frau Pfaeffling, "du und bitter? Das ist gar nicht zusammen zu denken." Sie waren allein miteinander im Musikzimmer. Frau Pfaeffling sprach noch manches gute, beruhigende Wort, so lange bis Elschen als schuechterner Bote eintrat und fragte, wann denn heute zu Mittag gegessen wuerde? Mit dem schlechten Gewissen einer saeumigen Hausfrau folgte die Mutter augenblicklich der Mahnung. Herr Pfaeffling sah ihr nach; von Erbitterung war nichts mehr auf seinen Zuegen zu lesen, aber er sagte vor sich hin: "Das gibt eine oede Zeit, wenn sie fuer vier Wochen verreist, ich wollte, es waere schon ueberstanden." Im Zentralhotel herrschte an diesem Tag Leben und Bewegung. Alle Zimmer waren besetzt, Kunstverstaendige waren von nah und fern herbei geeilt, alte Bekannte, neue Groessen suchten das Kuenstlerpaar auf und das Kuenstlerkind wurde liebkost, mit Bonbons ueberschuettet, aber dennoch langweilte es sich heute und war verstimmt. Dem Fraeulein, das fuer den kleinen Kuenstler zu sorgen hatte und ihn an Konzerttagen bei guter Laune erhalten sollte, wollte es heute nicht gelingen. Am Nachmittag liess die junge Mutter Herrn Meier zu sich bitten. Viele Fremde der Stadt haetten ihn wohl beneidet um diese Audienz bei der Kuenstlerin, um die Gelegenheit, die auch beim Sprechen so liebliche Stimme der Saengerin zu hoeren und ihre anmutige Erscheinung zu sehen. "Ich bin in Verzweiflung," sagte sie, "unser Edmund ist heute gar nicht in Stimmung, und es wird mir so bang vor dem Abend. Denken Sie nur, wenn das Kind sich weigern sollte, zu spielen, wenn es versagen wuerde in dem Augenblick, wo alle auf ihn blicken? Er war noch nie so verstimmt, sein Fraeulein ist selbst ganz nervoes von der Anstrengung, ihn aufzuheitern. Nun moechte ich Sie bitten, dass Sie mir ein paar muntere Kinder verschaffen, Knaben oder Maedchen, die mit ihm spielen und ihn zerstreuen, bis es Zeit wird, ihn anzukleiden. Bitte, bitte, sorgen Sie mir dafuer, nicht wahr, und so bald wie moeglich. Auch etwas Spielzeug wird zu bekommen sein, aber vor allem lustige Kameraden!" "Ich werde dafuer sorgen, gnaedige Frau," versicherte Herr Meier, und verliess das Zimmer. Die Wuensche der Gaeste mussten befriedigt werden, das stand ein fuer allemale fest bei dem Besitzer des Zentralhotels. Also auch dieser Wunsch. "Wo bringe ich schnell muntere Kinder her?" fragte er sich und dachte an seinen Sohn Rudolf. In solchen Faellen hatte dieser ihm oft Rat gewusst, er kannte so viele Menschen. Ja, manchmal war Rudolf doch tatsaechlich nuetzlich gewesen. Bei diesem Gedankengang sah Herr Meier wieder den Musiklehrer vor sich, und nun kam ihm in Erinnerung: Dieser Mann sollte ja Kinder haben in jedem Alter und munter, lebhaft, temperamentvoll mussten die Kinder _dieses_ Mannes sicherlich sein. Er ging zum Portier: "Schicken Sie sofort eine Droschke zu Musiklehrer Pfaeffling in die Fruehlingsstrasse. Lassen Sie ausrichten, der kleine Kuenstler habe Langeweile und ich liesse Herrn Pfaeffling freundlich bitten, mir sofort zwei oder drei seiner Kinder, Knaben oder Maedchen, zur Unterhaltung des Jungen zu schicken. Auch Spielzeug dazu, aber rasch!" So fuhr denn mitten am Nachmittag ein Wagen in der Fruehlingsstrasse vor, und der Kutscher richtete aus: "Herr Meier vom Zentralhotel lasse bitten um zwei bis drei Stueck Kinder, Buben oder Maedel, das sei egal, sie sollten dem kleinen Kuenstler die Zeit vertreiben, weil er gar so zuwider sei." Diese Einladung erregte Heiterkeit bei den Eltern Pfaeffling, und sie waren gleich bereit, die Bitte zu erfuellen. Wer passte am besten dazu? Marianne war nicht zu Hause, Karl schon zu erwachsen, so konnten nur Wilhelm und Otto, Frieder und Elschen in Betracht kommen. Otto erklaerte, er geniere sich. Wilhelm konnte das nicht begreifen. "Wie kann man sich genieren, wenn man mit einem kleinen Buben spielen soll? Dem wollte ich Purzelbaeume vormachen und Spass mit ihm treiben, dass er kreuzfidel wuerde!" "Gut," sagte Herr Pfaeffling, "wenn es dir so leicht erscheint, wirst du es auch zustande bringen. Und Frieder?" "Der ist zu still," sagte die Mutter, "eher wuerde ich zu Elschen raten. Wo ist sie denn? Ein Kuenstlerkind hat vielleicht Freude an dem niedlichen Gestaeltchen." "Meinst du?" sagte Herr Pfaeffling zweifelnd, "ist sie nicht zu schuechtern? Wir wollen sie fragen." Sie suchten nach dem Kind. Elschen stand allein im kalten Schlafzimmer, hatte in ihr eigenes Bett die Puppe gelegt, und als nun die Eltern und Brueder unvermutet herein kamen, hob sie abwehrend die Hand und sagte bittend: "Leise, leise, mein Kind ist krank!" Sie war herzig anzusehen. Frau Pfaeffling beugte sich zu ihr und sagte: "Ein wirkliches, lebendiges Kind verlangt jetzt nach dir, Elschen. Der kleine Violinspieler, von dem wir dir erzaehlt haben, ist so traurig, weil er kein Kind in der Stadt kennt. Willst du zu ihm und mit ihm spielen?" "Freilich," sagte Elschen mitleidig, "mein Kind schlaeft jetzt, da kann ich schon fort." Schnell waren die beiden Geschwister gerichtet, auch einiges Spielzeug herbeigesucht und nun fuhren sie in der geschlossenen Droschke durch die ganze Stadt, voll Freude ueber das unverhoffte Vergnuegen. Der Hotelbesitzer trat selbst herzu, als der Wagen vorfuhr, etwas bange, ob entsprechendes herauskommen wuerde. Er oeffnete den Schlag. Der Anblick von Elschens lieblichem kleinem Persoenchen erfreute ihn. Behutsam hob er sie aus dem Wagen, stellte sie auf die Freitreppe und sagte sich: "Das entspricht, wird sicherlich Beifall finden." Inzwischen war Wilhelm mit Behendigkeit aus der Droschke gesprungen, hatte das Spielzeug zusammen gerafft und war schon unter der grossen Haustuere. Laechelnd sah ihn Herr Meier an. "Ganz wie sein Vater, langbeinig, hager und flink," dachte er und sagte befriedigt: "Nun kommt mir, Kinder, ich will euch selbst einfuehren. Edmund heisst der Kleine. Er ist ein wenig muede von der Reise, aber wenn ihr mit ihm spielt, wird er schon lustig. Vom Konzert und von Musik muesst ihr nicht mit ihm reden, das mag er nicht, er will nur spielen, er ist ganz wie andere Kinder auch." Oben am Zimmer angekommen, klopften sie an und horchten auf das "Herein", statt dessen hoerten sie die Stimme eines Fraeuleins. "Aber Edmund, wer wird denn die Fensterscheiben ablecken?" "Was soll ich denn sonst tun?" hoerte man eine weinerliche Kinderstimme entgegnen. Da lachte Wilhelm und sagte zu seinem Begleiter: "Der muss freilich arg Langeweile haben! Ich will lieber gleich mit einem Purzelbaum herein kommen." Herr Meier wusste nicht recht, ob er das gut heissen sollte, aber er hatte inzwischen noch einmal angeklopft, das "herein" war erfolgt und durch die geoeffnete Tuere kam Wilhelm auf dem Kopf herein und einen Purzelbaum nach dem andern schlagend, auf weichen Teppichen, die dazu sehr einladend waren, bis zu dem Kleinen am Fenster, der nun laut auflachte und sagte: "Wie macht man denn das?" Das Fraeulein atmete erleichtert auf bei dieser willkommenen Abloesung in ihrer Aufgabe, das Kind zu unterhalten. Die Saengerin, die aus dem nebenan liegenden Zimmer unter die Tuere getreten war, laechelte freundlich und dankbar Herrn Meier zu, der sich sofort befriedigt entfernte, und kam Elschen entgegen, die auf sie zuging. Das Kind hatte ein Gefuehl dafuer, dass die Art, wie ihr Bruder sich einfuehrte, ungewoehnlich und vielleicht nicht passend war, und in der muetterlichen Art, die sie von ihrer aelteren Schwester ueberkommen hatte, sagte sie zu der jungen Frau: "Wilhelm kommt gewoehnlich nicht mit Purzelbaeumen herein, bloss heute, weil er lustig sein will." "Ein suesses Kind," sagte die junge Mutter zu dem Fraeulein. "nun ist Edmund versorgt und wir koennen ein wenig ausruhen. Lassen Sie die Kinder nur ganz gewaehren, solange sie nicht gar zu wild werden." Das Fraeulein schien dieser Aufforderung sehr gern nachzukommen, zog sich mit einem Buch zurueck und die Kinder blieben sich selbst ueberlassen. Die Freundschaft war bald geschlossen. Der kleine Kuenstler hatte etwas sehr Gewinnendes in seinem Wesen und ein anmutiges Aeusseres. Weiche, blonde Locken umgaben das feine Gesicht, alles an ihm war schoen und wohlgepflegt. Das ansprechendste waren seine grossen, tiefblauen Augen, die mit ihrem traeumerischen Ausdruck ahnen liessen, dass diese Kinderseele mehr als andere empfand. Waehrend er mit den Kindern spielte, sah auch er kindlich-froehlich aus, sobald er aber still war, lag ein ungewoehnlicher Ernst und eine Fruehreife in seinem Gesicht, die ihn viel aelter erscheinen liessen. Eine gute Weile belustigte er sich an Wilhelms Spaessen und ergoetzte sich mit diesem, waehrend Elschen zusah. Nun wandte er sich an sie. "Mit dir moechte ich gerne tanzen," sagte er, "kannst du tanzen?" "Ja," sagte die Kleine zuversichtlich. "Was willst du tanzen?" "Was du willst," antwortete sie freundlich, zum Erstaunen ihres Bruders, der von der Tanzkunst seiner Schwester bisher noch nichts gewusst hatte. "Also Walzer," entschied der kleine Kavalier und wollte sein Daemchen zum Tanz fuehren. "Warte ein wenig," sagte Elschen, "Wilhelm muss mir das erst vormachen." Dieser hatte zwar noch nie getanzt, aber ihm machte das keine Bedenken, fuer so kleine Taenzer traute er sich dennoch zu, den Tanzmeister zu machen. "Bei Walzer zaehlt man drei," sagte er zur Schwester, "ich will dir einen Walzer vorpfeifen." Und er fing an, die Melodie zu pfeifen, den Takt dazu zu schlagen und sich im Kreis zu drehen. Das Fraeulein, im Hintergrund, verbarg hinter ihrem Buch das Lachen, das sie bei diesem Tanzunterricht schuettelte. Edmund fuhr die Tanzlust in die Fuesse, er ergriff seine kleine Taenzerin. Sie waere ja keine Pfaeffling gewesen, wenn sie den Rhythmus nicht erfasst haette; niedlich tanzte das kleine Paar hinter dem pfeifenden, mit den Fingern schnalzenden und sich drehenden Wilhelm einher. Das Fraeulein rief unbemerkt die Mutter des Kleinen herbei, auch der Vater trat unter die Tuere, sie sahen belustigt zu. "Eine solche Nummer sollten wir in unserem Programm heute Abend einschalten," sagte er scherzend zu seiner Frau, "das gaebe einen Jubel! Wem gehoeren denn diese Kinder?" fragte er das Fraeulein. Sie wusste es nicht. "Der langbeinige, bewegliche Kerl ist zu drollig und das Maedchen ist die Anmut selbst. Musikalisch sind sie offenbar alle beide." Zwei Stunden waren den Kindern schnell verstrichen, nun mahnte das Fraeulein, dass es Zeit fuer Edmund sei, sein Abendessen einzunehmen und sich umkleiden zu lassen fuer das Konzert. Als er das hoerte, verschwand alle Froehlichkeit aus seinem Gesicht, er erklaerte, dass er nichts essen moege, sich nicht umkleiden und seine neuen Freunde nicht missen wolle. Die vernuenftigen Vorstellungen des Fraeuleins, die zaertlichen Worte der Mutter hatten nur Traenen zur Folge. Wilhelm versuchte seinen Einfluss auf den kleinen Kameraden. "Du musst doch vorspielen," sagte er, "viele Hunderte von Menschen hier freuen sich schon so lange auf das Konzert!" "Geht ihr auch hin?" fragte der Kleine und ehe er noch Antwort hatte, sagte er eifrig zu seiner Mutter: "Die Beiden sollen zu mir in das Kuenstlerzimmer kommen, und den Abend bei mir bleiben, es ist immer so langweilig, waehrend du singst und Papa spielt." Aber Wilhelm ging auf diesen Vorschlag nicht ein. "Wir koennen nicht kommen," sagte er. "Elschen liegt um diese Zeit schon im Bett und ich habe jetzt den ganzen Nachmittag nichts gearbeitet und habe viele Aufgaben fuer morgen." Da flossen bei dem Kleinen wieder die Traenen, er drueckte sein Koepfchen an die Mutter und schluchzte: "Wenn er nicht kommt, will ich auch nicht spielen, mir ist gar nicht gut." Es sah auch tatsaechlich ein wenig elend aus, das kleine Buebchen. Seine Mutter rief den Vater zu Hilfe. "Sieh doch nur," sagte sie, "wie Edmund verweint und jaemmerlich aussieht! Was hat er nur? Er ist doch sonst so verstaendig, aber heute will er nicht spielen. Ich werde Qualen durchmachen, heute abend." Der Vater stampfte ungeduldig mit dem Fuss. Edmund ergriff Wilhelms Hand und hielt sie krampfhaft fest, um ihn nicht gehen zu lassen. Die beiden Eltern besprachen sich eifrig miteinander, aber die Kinder verstanden nichts davon, das Gespraech wurde in italienischer Sprache gefuehrt. Endlich wandte sich der Vater an Wilhelm: "Wir waeren sehr froh," sagte er, "wenn du zu unserem Kleinen in das Kuenstlerzimmer kommen und den Abend bei ihm bleiben wolltest. Du muesstest eben deine Aufgaben einmal bei Nacht machen. Ein frischer Junge, wie du bist, kann das doch wohl tun? Wir verlangen auch diese Gefaelligkeit nicht umsonst, wir bieten dir dagegen ein Freibillet zu unserem Konzert an, das du gewiss jetzt noch leicht an irgend jemand in deiner Bekanntschaft verkaufen kannst." Bei dem Wort "Freibillet" hatte Wilhelms Gesicht hell aufgeleuchtet. Ein Billet, fuer den Vater natuerlich, welch ein herrlicher Gedanke! "Ja," rief er, "ja, ja, fuer ein Freibillet, wenn ich es meinem Vater geben darf, will ich gern zu Edmund kommen und gern die ganze Nacht durch arbeiten!" Und als er bemerkte, wie nun der Kleine ploetzlich vom Weinen zum Lachen ueberging, sagte er zu diesem: "Koenntest du nur dabei sein, wenn ich meinem Vater die Karte bringe und sehen, wie er sich freut! Mein Vater ist wohl so gross wie die Tuere da, und wenn er einen Freudensprung macht, dann kommt er fast bis an unsere Decke. Weisst du so!" und Wilhelm fing an, Spruenge zu machen, dass der kleine Kamerad laut lachte und seine Mutter leise zu dem Fraeulein sagte: "Nun fuehren Sie ihn rasch zum Umkleiden, so lange er noch vergnuegt ist," und dem Kinde redete sie guetig zu: "Wenn du nun artig bist, Edmund, so kommt heute abend Wilhelm zu dir." Darauf hin folgte der Knabe willig dem Fraeulein und sein Vater wandte sich an Wilhelm. "Das Konzert ist in der Musikschule; neben dem Saal ist das Zimmer, in dem wir uns aufhalten, so lange wir nicht spielen, du darfst nur nach dem Kuenstlerzimmer fragen." "O, ich weiss es gut," sagte Wilhelm, "neben dem Garderobezimmer liegt es." Der Kuenstler wunderte sich. "Du bist ja zu allem zu brauchen," sagte er, "woher weisst du das Zimmer?" "Mein Vater ist Lehrer an der Musikschule, ich habe ihn schon oft dort abgeholt." "Ah, Musiklehrer, und hat dennoch kein Billet genommen fuer unser Konzert?" "Nein," sagte Wilhelm, "aber kein Mensch in der ganzen Stadt kann sich mehr darueber freuen, als mein Vater!" Auch Elschen stimmte zu mit einem froehlichen "ja, ja!" und dabei schluepfte sie, so schnell sie konnte, in ihren Mantel und beiden Kindern war die Ungeduld, heimzukommen, an allen Gliedern anzumerken. Die Karte wurde ihnen denn auch wirklich eingehaendigt und nachdem Wilhelm fest versprochen hatte, sich rechtzeitig im Kuenstlerzimmer einzufinden und Edmund zu unterhalten, ohne ihn aufzuregen, ihn zu belustigen, ohne Laerm zu machen, wurden die Kinder entlassen. Wilhelm fasste die kleine Schwester bei der Hand; "Jetzt nur schnell, schnell, Elschen, wenn nur der Vater ganz gewiss zu Hause ist, es ist schon sechs Uhr, um halb acht Uhr geht das Konzert an!" So rasch eilten sie am Portier vorueber, dass dieser sie kaum mehr erreichte, obwohl er aus seinem Zimmer ihnen nacheilte auf die Freitreppe vor dem Hotel. "Halt," rief er, "wartet doch, Kinder, ihr duerft wieder heim fahren." Wilhelm wollte nicht. "Nein, nein," sagte er, "wir springen schnell und kommen viel frueher heim, als wenn wir auf eine Droschke warten." Aber die Hand des grossen, stattlichen Portiers lag fest auf der Schulter des Knaben und hielt ihn zurueck. "Herr Meier hat Auftrag gegeben, dass eine Droschke geholt werden soll, es ist fuer dies kleine Maedchen ein weiter Weg und draussen ist's kalt und dunkel; aber wenn du so Eile hast, so kannst du ja selbst flink zum Droschkenplatz springen und einen Wagen holen." Wie ein Pfeil war Wilhelm davon; seiner Schwester wurde im Portierzimmer ein Sessel zurecht gerueckt. Da sass sie neben zwei riesigen Reisekoffern, und betrachtete die glaenzenden Metallbeschlaege. "Das sind grosse Koffer, nicht?" sagte der Portier zu ihr, "die reisen bis nach Russland." "Dann gehoeren sie dem General," sagte Elschen, "der in der naechsten Woche nach Berlin reist." "Weisst du davon? Du hast ganz recht, das heisst, er reist schon morgen." "Nein, die Reise ist um ein paar Tage verschoben." Der Portier sah erstaunt auf die Kleine. "Das waere das neueste, wer hat denn das gesagt?" "Die zwei jungen Russen, wie sie heute vormittag bei Mama waren." "Heute vormittag? Nun, dann ist's doch nicht wahr, denn der General selbst hat heute nach dem Diner zu mir gesagt, sie reisen morgen vormittag. Horch, nun kommt schon dein Bruder mit der Droschke." Wilhelm haette mehr Lust gehabt, seine eigenen flinken Beine in Bewegung zu setzen als die eines mueden Droschkengauls, Elschen hingegen war sehr einverstanden mit der Fahrt und fand sich schnell darein, dass der Wagenschlag fuer sie aufgerissen wurde wie fuer ein kleines Daemchen und sie selbst sorgsam hinaufgehoben, damit sie auf dem schmalen Tritt nicht ausgleite. Nun fuhren sie durch die schoen beleuchteten Strassen, dann durch die stillen Gassen der Vorstadt und endlich bogen sie in die Fruehlingsstrasse ein. "Wenn der Vater nicht daheim ist, muessen alle auslaufen und ihn suchen," sagte Wilhelm, "Karl und Otto, Marianne und Frieder, vielleicht hat auch Walburg Zeit, der Vater muss das Billet zu rechter Zeit bekommen!" In der Fruehlingsstrasse war abends kein grosser Wagenverkehr, und Frau Pfaeffling, die bei den Kindern am Tisch sass, horchte auf und sagte: "Sie kommen!" Herr Pfaeffling, der im Musikzimmer ein wenig unruhig hin und her wandelte, seine Musikzeitung lesen wollte und dabei immer durch den Gedanken gestoert wurde, wie viel schoener es waere, heute abend Musik, Musik erster Klasse, zu hoeren, als ueber Musik zu lesen, Herr Pfaeffling hoerte auch das Geraeusch des Wagens: "Das koennen die Kinder sein, ob _sie_ wenigstens etwas gehoert haben in der Kuenstlerfamilie, singen, Klavier oder Violine?" Das musste er doch gleich fragen, also: die Treppe hinunter. Im untern Stock sagte Frau Hartwig zu ihrem Mann: "Es haelt eine Droschke. Du wirst sehen, das ist mein Bruder, um die Zeit kommt ein Zug an." Sie ging hinaus in den Vorplatz. Herr Pfaeffling stand inzwischen schon am Wagenschlag, machte ihn auf und wollte fragen, aber so flink er war, diesmal kam er nicht zu Wort vor den eifrigen Ausrufen seiner Kinder: "Wie gut, dass du zu Hause bist, Vater, wir haben dir ja ein Billet, ein Konzertbillet, da, sieh nur, geschenkt vom Kuenstler selbst!" Und wenn nun auch Herr Pfaeffling nicht den Freudensprung machte, den der kleine Edmund von ihm erwartet haette, enttaeuscht waere dieser doch nicht gewesen, denn dieser froehliche Ausruf der Ueberraschung, dieses stuermische Stufenueberspringen, um moeglichst schnell die Treppe hinauf zu kommen und dieser warme Ruf "Caecilie!" der durch die ganze Wohnung klang, war auch ergoetzlich und herzerfreuend. Wilhelm folgte dem Vater in gleicher Hast, der kleinen Else blieb es diesmal ueberlassen zuzusehen, wie sie allein aus dem Wagenschlag herauskam. Frau Hartwig, die ordentlich ausgewichen war, um nicht ueberrannt zu werden, wollte eben die Haustuere zumachen, als sie die Kleine, mit dem Spielzeug beladen, nachkommen sah. "Da hat es wieder so pressiert," sagte sie vor sich hin, "dass sich keines die Zeit genommen hat, auf das Kind zu warten," und sie reichte ihm die Hand und schloss fuer sie die Haustuere, waehrend oben schon die Tritte der Hinauseilenden verhallten. Elschen fand es ganz natuerlich, dass man sich nicht um sie gekuemmert hatte, auf ihrem Gesichtchen lag noch der Abglanz der Freude, der Vater hatte ja sein Billet. Freundlich gruesste sie die Hausfrau und sagte, auf der Treppe zurueckblickend: "Jetzt weiss ich es, Hausfrau, wie du das machen musst, damit kein Gepolter ist und die Treppe geschont wird, du musst nur dicke, dicke Teppiche legen; so ist es im Zentralhotel und es sieht auch viel schoener aus als das Holz da!" "Wirklich?" sagte Frau Hartwig, "dann bringe du mir nur bald die dicken Teppiche, damit ich sie legen kann." Bei Pfaefflings war grosse Bewegung, die Freude ueber das Konzertbillet hatte sich allen mitgeteilt, die Fragen und Antworten ueber die Erlebnisse im Zentralhotel ueberstuerzten sich, zugleich wurden die Vorbereitungen fuer das Abendessen beschleunigt, damit Herr Pfaeffling und Wilhelm rechtzeitig zum Beginn des Konzertes kommen konnten. Frau Pfaeffling hoerte mit besonderer Teilnahme und auch mit Besorgnis von dem kleinen Violinspieler. "Wenn das Kind sich unwohl fuehlt," sagte sie zu Wilhelm, "so wirst du es auch nicht stundenlang mit Spaessen bei guter Laune erhalten koennen!" Aber Wilhelm war guter Zuversicht und war zu vergnuegt ueber die Freikarte, als dass er von dem heutigen Abend irgend etwas anderes als Erfreuliches haette erwarten koennen. Er strahlte mit dem ganzen Gesicht und sah nur immer zu seinem Vater hinueber, der ebenso strahlte, waehrend sie beide das rasch erschienene Abendessen verzehrten und sich dann unter allgemeiner Teilnahme und Hilfsbereitschaft der Familie fuer das Konzert richteten. "Wenn der Kleine aufgeregt wird oder nicht mehr spielen will," sagte Frau Pfaeffling zu Wilhelm, "so lass ihn sich zu dir setzen und erzaehle ihm allerlei, etwa von Frieders Harmonika und Geige oder von unserem Weihnachtsfest; es wird besser sein, als wenn du ihn immer zum Lachen bringen willst. Weisst du, wenn man unwohl ist, mag man gar nicht lachen, aber ueber dem Erzaehlen vergessen die Kinder ihre kleinen Leiden." Da mischte sich Elschen ein: "Er ist ja gar nicht krank, er hat ja mit mir getanzt." "Freilich, und gelacht," sagte Wilhelm, "und unartig ist er auch, weiter ist gar nichts los mit ihm." So gingen Vater und Sohn froehlich und guter Dinge miteinander nach der Musikschule und trennten sich, Herr Pfaeffling, um seinen Platz in dem schon dicht gefuellten Saal aufzusuchen, Wilhelm, um seines Vaters Billet nachtraeglich zu verdienen. Er fand das Kuenstlerzimmer ziemlich besetzt, verschiedene Herrn begruessten hier die Kuenstlerfamilie, erwiesen der gefeierten Saengerin allerlei Aufmerksamkeiten und umschmeichelten den Kleinen. Dieser stand in schneeweissem Anzug da und lehnte das Lockenkoepfchen an seine Mutter, die in ihrem duftigen Seidenkleid reizend anzusehen war. "Sieh, da kommt dein kleiner Freund," sagte Edmunds Vater, der Wilhelms bescheidenes Eintreten bemerkt hatte. "Aber er macht ja keine Purzelbaeume," entgegnete Edmund, ohne seine Mutter zu verlassen. "Das waere hier wohl auch nicht gut moeglich," sagte der Vater. Im Hintergrund des kleinen Zimmers stand ein Tischchen, neben demselben hielt sich das Fraeulein auf, das Wilhelm schon im Hotel kennen gelernt hatte. Zu ihr ging er hin und sagte: "Ich habe einen kleinen Kreisel fuer Edmund mitgebracht, soll ich ihn auf dem Tischchen tanzen lassen?" "Spaeter, wenn wir allein sind und Edmund schwierig wird," sagte das Fraeulein, "jetzt hat er noch seine Mama." Ein paar Augenblicke spaeter kam geschaeftig und ohne anzuklopfen ein Herr herein. "Ist es Zeit, Herr Weismann?" frug ihn der Kuenstler. "Ja, wenn ich bitten darf." Die anwesenden Herrn verliessen nun rasch das Kuenstlerzimmer, um sich an ihre Plaetze im Saal zu begeben, das Fraeulein strich noch die Falten am Kleide der Saengerin glatt, der Vater loeste mit einer gewissen Strenge die Hand des Kindes aus der der Mutter und sagte: "Du gehst hierhin, zu Wilhelm," die Mutter drueckte rasch noch einen Kuss auf die Stirn des Kleinen, der sie betruebt, aber doch ohne Widerspruch losliess. Dann oeffnete Weismann eine Seitentuere, von der aus ein paar Stufen nach dem erhoehten Teil des Saals fuehrten, auf dem nun das Kuenstlerpaar auftreten sollte. Wilhelm konnte von dem tieferliegenden Kuenstlerzimmer aus nicht hinaufsehen, aber er hoerte das maechtige Beifallklatschen, mit dem das junge Paar empfangen wurde, dann schloss Weismann hinter ihnen die Tuere und von den wunderbaren Toenen, die nun im Saal die Menschenmenge entzueckten, drangen nur einzelne Klaenge herunter in das Nebenzimmer. Weismann trat zu dem Kleinen heran: "Die dritte Nummer des Programms hat unser kleiner Kuenstler," sagte er, und auf die bereit gelegte Violine deutend, fragte er: "Ist dein Instrument schoen im Stande?" Edmund antwortete nicht. "Ich denke wohl," sagte statt seiner das Fraeulein, "sein Vater hat vorhin darnach gesehen." "Hast du dir auch den Platz auf dem Podium gut gemerkt, an dem du stehen sollst, wenn du spielst?" fragte der Herr, "du weisst doch noch, nicht ganz dicht am Fluegel?" Es erfolgte wieder keine Antwort. "Aber Edmund, wie bist du heute so unartig," sagte das Fraeulein, "wenn dich Papa so saehe!" Da liess der Kleine den Kopf haengen und fing au zu weinen. Erschrocken zog ihn das Fraeulein an sich. "Sei nur zufrieden, Kind," troestete sie, "du darfst doch nicht weinen? Wer wird dir Beifall klatschen, wenn du mit verweinten Augen kommst!" Sie trocknete ihm die Traenen, Weismann hielt es fuer klueger, sich zurueck zu ziehen, Wilhelm liess den Kreisel tanzen; halb widerwillig sah Edmund zu, dann versuchte er selbst die Kunst, die seinen geschickten Fingerchen bald gelang. Er vertiefte sich in das Spiel. Ploetzlich horchte er auf. Ein Beifallssturm droehnte aus dem Saal. "Nun ist Mama fertig," sagte er und sah nach der Tuere. "Nein, sie muss noch einmal wiederholen," fuegte er nach einer Weile gespannten Horchens hinzu und kehrte wieder an sein Spiel zurueck. "Bei mir ist das auch manchmal so, ich mag nicht gern wiederholen, aber man muss." "Aber bei dir wird doch nicht so rasend geklatscht?" fragte Wilhelm, "so etwas habe ich noch gar nicht gehoert." "O ja, einmal ist bei mir am allermeisten Beifall gewesen, du wirst es nachher schon hoeren," sagte Edmund, war aber schon wieder bei dem Kreisel, und als nun die Saengerin, bis zu den Stufen von ihrem Gemahl geleitet, und dann von Weismann empfangen, wieder in das Kuenstlerzimmer zurueckkam, rief er ihr froehlich entgegen: "Sieh Mama, was ich kann?" Die Mutter beugte sich zu ihm und sagte: "Gottlob, dass er vergnuegt ist!" und ein dankbarer Blick fiel auf Wilhelm. Im Saal erklang der Konzertfluegel. "Nach Papa kommst du an die Reihe," sagte die junge Mutter und sich an das Fraeulein wendend, fuegte sie leise hinzu: "Wie mir immer angst ist, wenn das Kind auftritt, kann ich gar nicht sagen! Frueher war es mir bange, wenn ich vorsingen musste, aber seitdem das Kind oeffentlich spielt, hat diese grosse Angst jede andere vertrieben. Wir haetten es nie anfangen sollen." Troestend sprach das junge Maedchen der Mutter zu: "So sagen Sie vor jedem Konzert und nachher, wenn alle Welt begeistert ist von dem Kleinen, sind Sie doch gluecklich und stolz, mehr als ueber Ihre eigenen Erfolge. Er ist nun schon fuenfmal aufgetreten und hat seine Sache immer gut gemacht." "Aber heute wird es anders werden," fluesterte die Mutter, "hat er nicht auch truebe Augen? Edmund, gib mir deine Haende. Sie sind heiss, fuehlen Sie, Fraeulein!" "Vom Kreiseln," sagte sie, "er sollte vielleicht die Haende jetzt ruhen lassen." "Ja, ja, Wilhelm, bitte, fange ein anderes Spiel an! Die Haende duerfen nicht muede sein vor dem Violinspiel." Es war doch nicht leicht, immer wieder eine Beschaeftigung zu wissen. Eine gelernte Kindergaertnerin war unser Wilhelm denn doch nicht! Aber ihm war, als verloere sein Vater das Recht auf den Konzertbesuch von dem Augenblick an, wo er aufhoeren wuerde, den Jungen zu unterhalten. Also _mussten_ ihm Gedanken kommen, Einfaelle, um die Zeit zu vertreiben, und sie kamen auch, und als der Klaviervirtuose, mit einem Lorbeerkranz in der Hand, unter lebhaftem Beifall den Saal verlassen hatte, fand er Edmund bei guter Laune und bereit, ihm mit der Violine zu folgen. "Nun wirst du hoeren, ob sie mir ebenso klatschen wie Papa und Mama," sagte er munter zu Wilhelm. Er schien gar nicht aufgeregt, um so mehr war es seine Mutter. Sie fluesterte Wilhelm zu: "Sieh ein wenig durch den Tuerspalt, wie er seine Sache macht!" Wilhelm folgte leise die Stufen hinauf den beiden Kuenstlern, sah, wie der Kleine, der mit freundlichem Beifall begruesst worden war, in kindlicher Weise den Gruss erwiderte und, von seinem Vater auf dem Klavier begleitet, das Spiel begann. Wilhelm wurde durch den kleinen Violinspieler an Frieder erinnert und deshalb kam ihm diese Leistung nicht so wunderbar vor wie den Zuhoerern im Saal. Mit denselben traeumerischen Augen wie Edmund, ganz in seine Musik versenkt, hatte Frieder immer seine Harmonika gespielt und strich er seine Geige. Freilich war Frieder erst ein Anfaenger auf diesem Instrument und dieser Kleine war ein Meister. Das Publikum lauschte in atemloser Stille; die Violine war ja klein und der Spieler hatte nicht den kraeftigen Strich eines Mannes. Aber reine, zarte, tief empfundene Toene wusste er zu wecken und eine staunenswerte Gewandtheit zeigten die kleinen Haende. Unter den Zuhoererinnen war manche zu Traenen geruehrt, und als der letzte Ton sanft verklungen war, rauschte ein Beifallssturm durch den Saal, Blumen flogen, und eine junge Dame trat auf das Podium, um dem kleinen Kuenstler ein Fuellhorn zu ueberreichen, das auf sein kindliches Alter berechnet war, denn waehrend es nur mit Rosen gefuellt schien, waren unter den Blumen Bonbons verborgen. Weismann kam dem Kleinen zur Hilfe, die Schaetze zu sammeln. Man hoerte die helle Kinderstimme ein schlichtes, freundliches "Danke!" rufen. In das Kuenstlerzimmer drangen einige Bekannte ein, den Eltern zu gratulieren, und es kam so, wie das junge Maedchen voraus gesagt hatte: die Mutter war ueber die Leistung ihres Kindes und seinen Erfolg gluecklicher, als ueber den eigenen; auch war es ihr nun leichter um das Herz, Edmund hatte ja nur noch einmal vorzuspielen, freilich ein schwieriges und laengeres Musikstueck und ganz ohne Begleitung, aber sie war nun wieder guter Zuversicht und angeregt durch die begeisterten Schilderungen einiger Freunde, die in das Kuenstlerzimmer eindrangen und von dem bereits errungenen Erfolg berichteten. Froehlich und siegesgewiss trat das Kuenstlerpaar auf's neue auf, Edmund blieb wieder allein zurueck bei dem Fraeulein und dem treuen Kameraden. Aber so bald es still um ihn wurde, verfiel er wieder in seine weinerliche Stimmung und war nicht mehr heraus zu reissen, Wilhelm mochte sich buchstaeblich auf den Kopf stellen, es war alles umsonst: Da dachte er an seiner Mutter Rat, setzte sich neben den Kleinen und fing an, ihm zu erzaehlen. Der lehnte sich an das Fraeulein, und es dauerte gar nicht lange, so fielen ihm die Augen zu und er schlief ein. Sie liessen ihn ruhen, aber gegen den Schluss des Konzertabends, waehrend sein Vater allein spielte und schon am Ende des Stueckes war, auf das Edmunds Auftreten folgen sollte, musste er doch geweckt werden. Die Mutter tat es mit schwerem Herzen und unter zaertlichen Liebkosungen. Es kam ihr grausam vor, und wieder versicherte sie, es sei das letzte Mal, dass sie das Kind vorspielen lasse. Sie bemuehten sich zu dritt um das Kind, boten ihm Erfrischungen an und hatten ihn, bis sein Vater erschien, wohl aus dem Schlaf gebracht, aber mit allen guten Worten nicht zu bestimmen vermocht, dass er noch einmal vorspiele. Draussen, im Saal war nichts als Wonne und Begeisterung und ungeduldige Erwartung des kleinen Kuenstlers, auf dessen Wiedererscheinen die grosse Menge sich mehr freute als ueber die grossartigen Kompositionen, die der Vater ihr soeben vorgetragen hatte. Innen, im Kuenstlerzimmer, herrschte Niedergeschlagenheit, Sorge und Kampf. "Lass nun einmal die zaertlichen Worte," sagte der Kuenstler zu seiner Frau, "sie helfen nichts mehr, wie du siehst; lass mich allein mit Edmund reden." Er fuehrte das Kind beiseite, und sah ihm fest und streng in die Augen. "Du bist heute abend krank, Edmund," sagte er, "und moechtest lieber zu Bette gehen als vorspielen. Ich war auch schon einmal krank und habe doch dabei ein ganzes, langes Konzert allein gegeben, und du musst nur ein einziges Stueck spielen. Fest habe ich mich hingestellt und gedacht: Die vielen Menschen haben die teuern Karten gekauft, und ich habe ihnen dafuer Musik versprochen und muss mein Versprechen halten. Du musst das deinige auch halten, dann erst darfst du dich zu Bette legen. Aber eines will ich fuer dich tun, wenn du mir versprichst, dass du dich tapfer haeltst, ich will dir erlauben, dass du anstatt des schwierigen Mendelssohn die leichte kleine Romanze von Beethoven spielst, die du so gut kannst. Ich will es den Zuhoerern sagen; wenn du das Stueck recht schoen vortraegst, sind sie damit auch zufrieden. Nun komm, in einer Viertelstunde ist es ueberstanden. Sieh die Menschen freundlich an, dann verzeihen sie es dir, dass du so ein kurzes Stueck spielst." Und er nahm das Kind fest an der Hand, machte der Mutter, die sich von ihm verabschieden wollte, ein abwehrendes Zeichen, gab dem Kleinen die Violine, die er folgsam nahm und fuehrte ihn die Stufen hinauf. "Vater," fragte leise der Kleine, "haben vorhin bei dir die Bretter, der Boden, auf dem man steht, auch so geschwankt? Ich habe gemeint, ich falle um." "Die Bretter sind jetzt alle festgenagelt," sagte ruhig und bestimmt der Vater. Sie hatten schon den Saal erreicht und traten miteinander vor. Als das Klatschen sich gelegt hatte und Edmund eben zum Spiel ansetzte, wandte sich der Vater an das Publikum: "Ich bitte es dem zarten Alter des Kuenstlers zugute zu halten, dass er sein Programm nicht einhaelt. Er moechte Ihnen lieber eine Romanze von Beethoven als das Konzert von Mendelssohn vorspielen." Ein freundliches Klatschen bezeugte die Zustimmung, die wenigsten der Anwesenden wussten, dass ihnen damit die Freude verkuerzt wurde. "Nun mach es um so besser," fluesterte der Vater noch seinem Kind zu und stellte sich so, dass sie einander im Auge behielten. Ihm war es, als muesste er unablaessig durch seinen Blick die Selbstbeherrschung des Kleinen aufrechterhalten. "Wie er das Kind anschaut," dachten manche der Zuhoerer, aber die meisten hatten keinen Blick fuer den Vater, sie waren wieder hingerissen von dem Knaben und seinem einschmeichelnden Spiel. Es ging vorueber. Dem Vater war die Viertelstunde wie eine Ewigkeit erschienen, und diesmal kamen Beide wie traeumend zurueck zu der Mutter, die den Kleinen in zaertlichen Armen empfing. "Fahren Sie gleich mit dem Jungen heim und bringen Sie ihn zu Bett," sagte der Vater zu dem Fraeulein, "Wilhelm begleitet Sie hinueber zum Droschkenplatz, nicht wahr?" Am Schluss des Konzerts sammelten sich viele der begeisterten Zuhoerer vor dem Kuenstlerzimmer, sie hofften, auch das Kuenstlerkind noch einmal zu sehen. Umsonst. Es lag schon in dem Bett, das Herr Meier vom Zentralhotel sorgsam hatte erwaermen lassen. Am naechsten Tag kam in den Zeitungen eine begeisterte Schilderung des Konzerts, und am uebernaechsten folgte eine Notiz: der kleine Geigenspieler sei an den Masern erkrankt. Acht Tage spaeter lag auch seine kleine Taenzerin Elschen masernkrank darnieder, und wenn Frau Pfaeffling an ihrem Bettchen sass, dachte sie manchmal mit Teilnahme an das kleine Menschenkind, das schon oeffentlich auftreten musste, ehe es noch die Kinderkrankheiten durchgemacht hatte. Ueber diesen Erlebnissen war der kalte Januar zu Ende gegangen. 11. Kapitel Geld- und Geigennot. Seit dem Konzert waren mehrere Tage verstrichen. Herr Pfaeffling hatte taeglich und mit wachsender Ungeduld auf den verheissenen Abschiedsgruss des russischen Generals gewartet, dem das Honorar fuer die Stunden beigelegt sein sollte, aber es kam nichts. So musste die russische Familie doch wohl ihre Abreise verschoben haben, ja, vielleicht dachte sie daran, den Winter noch hier zu bleiben und die Musikstunden wieder aufzunehmen. Immerhin konnte auch ein Brief verloren worden sein. Herr Pfaeffling wollte sich endlich Gewissheit verschaffen und suchte Herrn Meier im Zentralhotel auf. Er erfuhr von diesem, dass der General mit Familie gleich am Morgen nach dem Konzert abgereist sei, zunaechst nach Berlin, wo er eine Woche verweilen wolle. Herr Pfaeffling zoegerte einen Augenblick, von dem ausgebliebenen Honorar zu sprechen, aber der Geschaeftsmann erriet sofort, worum es sich handelte und sagte: "Der General hat vor seiner Abreise alle geschaeftlichen Angelegenheiten aufs puenktlichste geregelt und grossmuetig jede Dienstleistung bezahlt. Er ist durch und durch ein Ehrenmann, so werden auch sie ihn kennen gelernt haben." "Ja, aber wie erklaeren Sie sich das: er hat mir beim Abschied gesagt, seine Soehne wuerden mich noch besuchen und hat dabei angedeutet, dass sie das Honorar ueberbringen wuerden. Sie sind auch gekommen, aber ohne Honorar, und sagten, die Abreise sei verschoben worden, die Eltern wuerden deshalb noch schriftlich ihren Dank machen. Glauben Sie, dass es von Berlin aus geschehen werde?" "Nein, nein, nein," erwiderte lebhaft Herr Meier. "Man reist nicht ab, ohne vorher seinen Verbindlichkeiten nachzukommen, da liegt etwas anderes vor. Von einer Verschiebung der Reise war auch gar nie die Rede, das haben die Soehne ganz aus der Luft gegriffen. Ich fuerchte, das Geld ist in den Haenden der jungen Herrn haengen geblieben, das geht aus allem hervor, was Sie mir erzaehlen. Sie sind etwas leichtsinnig, die Soehne, und werden vom Vater fast gar zu knapp und streng gehalten. Es scheint mir ganz klar, was sie dachten: Sie wollten sich noch etwas reichlich mit Taschengeld versehen, bevor sie der Berliner Anstalt uebergeben wurden, und rechneten darauf, dass Sie, in der Meinung, die Abreise sei verschoben, sich erst um Ihr Geld melden wuerden, wenn die Eltern schon ueber der russischen Grenze waeren. Es ist gut, dass Sie nicht noch ein paar Tage gezoegert haben, diese Woche ist die Familie noch beisammen in Berlin. Ich habe die Adresse des Hotels und ich will sie Ihnen auch mitteilen, Herr Pfaeffling. Wenn ich Ihnen raten darf, schreiben Sie unverzueglich. Sie brauchen ja durchaus keinen Verdacht gegen die jungen Herrn auszusprechen, es genuegt, wenn Sie den Hergang erzaehlen, der General ergaenzt sich das uebrige und so wie ich ihn kenne, wird er Ihnen sofort das Geld schicken. Es war dann ein Versehen und alles ist gut." In voller Entruestung erzaehlte unser Musiklehrer daheim von dem offenbaren Betrug seiner jungen Schueler. "Es ist ein Glueck," sagte er dann, "dass mein Brief die Eltern noch in Berlin erreichen kann. Ich schreibe gleich. Wir brauchen unser Geld, brauchen es zu Besserem und Noetigerem als diese leichtsinnigen Burschen." Aber nach geraumer Weile kehrte Herr Pfaeffling in ganz veraenderter Stimmung, langsam und nachdenklich zu seiner Frau zurueck. "Caecilie," sagte er, "was meinst du zu der Sache? Meine Feder straeubt sich ordentlich gegen das, was sie schreiben soll. Was hilft es, wenn ich auch nicht den geringsten Verdacht ausspreche, meine Mitteilung bringt doch dem General die Nachricht von der verbrecherischen Handlung seiner Soehne. Dass er ihnen so etwas nie zugetraut haette, sieht man ja, er haette ihnen sonst das Geld nicht uebergeben. Nun soll er das erfahren muessen, unmittelbar vor dem Abschied. Er wird seinen Kindern die ehrlose Handlung nicht verzeihen, er wird sie nie vergessen koennen. Sich so von seinen Kindern trennen muessen, das ist ein namenloser Schmerz fuer Eltern. Soll ich ihnen das Leid antun, um uns die hundert Mark zu retten, was sagst du, Caecilie?" "Wenn ich auch 'ja' sagte, so glaube ich doch nicht, dass du es ueber dich bringst," entgegnete Frau Pfaeffling. "Und du? Wuerdest du es ueber dich bringen? Wuerdest du schreiben, trotz all dem Leid, was daraus entstehen muss?" "Ich wuerde vielleicht denken, frueher oder spaeter werden die Eltern doch erfahren, wie ihre Soehne sind, und fuer die Jungen selbst waere es heilsam, wenn der Betrug nicht ohne Strafe fuer sie hinginge. Ueberdies ist ja immerhin die Moeglichkeit, dass wir einen falschen Verdacht haben und das Geld vergessen oder verloren wurde, obwohl ich mir dann die unwahre Aussage der Soehne ueber die verschobene Abreise nicht erklaeren koennte. Die hundert Mark sind uns auch gar so noetig." "Also du wuerdest schreiben, Caecilie?" Sie besann sich einen Augenblick und sagte dann: "Ich weiss nicht, ich wuerde meinen Mann fragen." Darauf hin ging Herr Pfaeffling noch eine Weile ueberlegend auf und ab. Die Augen seiner grossen Kinder folgten ihm mit Spannung. Sie waren alle empoert ueber den Betrug, der an ihrem Vater begangen war, hatten alle den Wunsch, der Vater moechte schreiben. Aber sie wagten nicht, darein zu reden. Nun machte der Vater halt, blieb vor der Mutter stehen und sagte bestimmt: "Hundert Mark lassen sich verschmerzen, nicht aber die Schande der Kinder. Wir wollen das kleinere Uebel auf uns nehmen. Du machst ja auch sonst Ernst mit dem Wort: Den Naechsten lieben wie dich selbst." So blieb der Brief an den russischen General ungeschrieben. Aber ein anderer Brief wurde in dieser Nacht abgefasst. In ihrem kalten Schlafzimmer bei schwachem Kerzenlicht hockten Karl, Wilhelm und Otto beisammen und schrieben an die Soehne des Generals. Ihrer Entruestung ueber die schnoede Handlungsweise gaben sie in kraeftigen Worten Ausdruck, den Edelmut des Vaters, der aus Ruecksicht auf den General diesem die Schandtat nicht verraten wollte, priesen sie in begeisterten Worten, schilderten dann die vielen Entbehrungen, die die Eltern sich auflegen mussten, wenn eine so grosse Summe wegfiel, und wandten sich am Schluss mit volltoenenden Worten an das Ehrgefuehl der jungen Leute mit der Aufforderung, das Geld zurueckzuerstatten. Otto musste mit seiner schoenen, schulgemaessen Handschrift den Brief ins Reine schreiben und dann setzten alle drei ihre Unterschrift darunter. Sie adressierten an Feodor, den aelteren der beiden Brueder, die Berliner Adresse hatten sie gelesen, es fehlte nichts mehr an dem Brief, morgen auf dem Weg zur Schule konnte er in den Schalter geworfen werden. Mit grosser innerer Befriedigung legten sie sich nun in ihre Betten; auf diesen Ausruf hin musste das Geld zurueckkommen, an dem Erfolg war gar nicht zu zweifeln, und welche Ueberraschung, welche Freude musste das geben! Es ist aber merkwuerdig, wie die Dinge bei nuechternem Tageslicht so ganz anders erscheinen als in der Abendbeleuchtung. Als die Brueder am naechsten Morgen auf dem Schulweg waren, warf Karl die Frage auf: "Warum lassen wir eigentlich den Vater unsern Brief nicht vorher lesen?" Wilhelm und Otto wussten Gruende genug. "Weil sonst keine Ueberraschung mehr dabei ist; weil die Eltern so aengstlich sind und keinen Verdacht aeussern wollen, waehrend doch alles so klar wie der Tag ist; weil der Vater die schoensten Saetze ueber seinen Edelmut streichen wuerde; weil dann wahrscheinlich aus dem ganzen Einfall nichts wuerde; nein, wenn man wollte, dass der Brief abging, so musste man ihn heimlich abschicken, nicht lange vorher fragen." Aber das Heimliche, das eben war Karl zuwider. Am ersten Schalter warf er den Brief nicht ein, es kamen ja noch mehrere auf dem Schulweg. Aber die Brueder drangen in ihn: "Jede Ueberraschung muss heimlich gemacht werden, sonst ist's ja keine; du bist immer so bedenklich und aengstlich, was kann denn der Brief schaden? Gar nichts, im schlimmsten Fall nuetzt er nichts, aber schaden kann er nichts, das musst du selbst sagen." Karl wusste auch nicht, was er schaden sollte, und dennoch wollte er durchaus auch beim zweiten Schalter den Brief nicht herausgeben. "Die Eltern sind immer so sehr gegen alles Heimliche," sagte er, "und es ist wahr, dass schon oft etwas schlimm ausgegangen ist, was wir heimlich getan haben. Ihr habt gut reden: wenn die Sache schief geht, heisst es doch: Karl, du bist der Aelteste, du haettest es nicht erlauben sollen." Allmaehlich brachte er mit seinem Bedenken Otto auf seine Seite, nur Wilhelm blieb dabei dass sie ganz uebertrieben aengstlich seien, und machte bei dem dritten und letzten Schalter einen Versuch, Karl den Brief zu entreissen. Es gelang aber nicht, und da nun Schulkameraden sich anschlossen, musste die Schlussberatung auf den Heimweg verschoben werden. Das Ende derselben war: sie wollten der Mutter von dem Brief erzaehlen, wie wenn dieser schon abgeschickt waere. Hatte sie dann nur Freude darueber, dann konnte man ihn ruhig einwerfen, hatte sie Bedenken, so konnte man ihn vorzeigen. So wurde Frau Pfaeffling zugefluestert, sie moechte nach Tisch einen Augenblick in das Bubenzimmer kommen. Dort fand sie ihre drei Grossen, die ihr nun ziemlich erregt und meist gleichzeitig von dem Brief erzaehlten, den sie gestern noch bei Nacht geschrieben, an den jungen Feodor adressiert und heute morgen auf dem Schulweg mitgenommen haetten. Die kraeftigen Ausdruecke der Verachtung gegen die Handlungsweise der jungen Russen und die Beschwoerung, das Geld zurueckzuerstatten, wurden fast woertlich angefuehrt. Im ersten Augenblick hoerte Frau Pfaeffling mit Interesse zu, aber dann veraenderte sich ploetzlich ihr Ausdruck, sie sah angstvoll, ja fast entsetzt auf die drei Jungen und wurde ganz blass. Sie erschraken ueber diese Wirkung und verstummten. "Kinder, was habt ihr getan," rief die Mutter schmerzlich, "wenn ihr auch an Feodor adressiert habt, die Briefe bekommen doch die Eltern in die Hand, die Soehne sind wohl gar nicht mehr bei ihnen im Hotel, sondern in der Erziehungsanstalt und das koennt ihr glauben, der General uebergibt keinen Brief mit fremder Handschrift an seine Soehne, ohne ihn zu lesen. Nun erfaehrt er durch euch auf die schroffste Weise eben das, was der Vater vor ihm verbergen wollte. Es ist unverantwortlich, euch so einzumischen in das, was euch nichts angeht!" Die Kinder hatten der Mutter, als sie ihren Schrecken sahen, schon ins Wort fallen, sie beruhigen wollen, aber Frau Pfaeffling war nicht begierig, Entschuldigungen zu hoeren, und anderes glaubte sie nicht erwarten zu koennen. Da drueckte ihr Karl den Brief in die Hand und rief: "Fort ist der Brief noch nicht, Mutter, da hast du ihn, erschrick doch nicht so!" "Gott Lob und Dank," rief Frau Pfaeffling, "habt ihr nicht gesagt, er sei schon abgesandt? O Kinder, wie bin ich so froh! Es waere mir schrecklich gewesen fuer den Vater, fuer den General und auch fuer euch, denn wir haetten nie mehr etwas in eurer Gegenwart besprochen, haetten alles Vertrauen in euch verloren, wenn ihr euch heimlich in solche Dinge mischt!" Sie standen beschaemt, denn wie waren sie doch so nahe daran gewesen, das Heimliche zu vollbringen! "Spaeter, wenn ich Zeit habe, will ich den Brief lesen," sagte Frau Pfaeffling, "ich kann mir ja denken, dass ihr empoert seid ueber die jungen Leute, aber was nur ein Verdacht ist, darf man nicht aussprechen, wie wenn es Gewissheit waere. Wisst ihr nicht, dass oft schon die kluegsten Richter einen Menschen verurteilt haben, weil der schwerste Verdacht gegen ihn vorlag, und spaeter stellte sich doch heraus, dass er unschuldig war? Man kann da gar nicht vorsichtig genug sein." Herr Pfaeffling bekam den Brief zu lesen. Er wurde nachdenklich darueber. "So, wie die Kinder gerne geschrieben haetten," sagte er zu seiner Frau, "so kann man freilich nicht schreiben. Aber der Gedanke, sich an die Soehne zu wenden, ist vielleicht nicht schlecht. Bisher waren sie noch unter der steten Aufsicht der Eltern, ich wuesste nicht, wie sie in dieser Zeit das unterschlagene Geld haette verausgaben sollen. Ich muesste an sie schreiben, sobald der General und seine Frau abgereist sind. Der Abschied wird den jungen Leuten gewiss einen tiefen Eindruck machen, der General wird ernste Worte mit ihnen reden. Wenn sie in dieser Stimmung einen Brief von mir erhalten und sehen, wie ich ihre Eltern gerne schonen moechte, ist es nicht unmoeglich, dass sie ihr Unrecht wieder gut machen. Sie moegen ja schwach sein und leicht einer Versuchung unterliegen, aber sie sind auch weichen Gemuets und zum Guten zu bestimmen, ich will wenigstens den Versuch machen." Frau Pfaeffling sass in dieser Zeit viel am Bett der kleinen Masernkranken. Ihr Mann musste das Krankenzimmer meiden um seiner Schueler willen. Aber wie eine Erscheinung stand er eines Tages ploetzlich vor ihr, warf ihr eine Handvoll Geld in den Schoss, rief vergnuegt: "Das Russengeld" und war in demselben Augenblick schon wieder verschwunden. Seine drei grossen Jungen rief er zu sich, las ihnen den reuevollen Brief der jungen Leute vor und gab in seiner Freude jedem der Drei ein kleines Geldstueck, weil sie ihn durch ihren Brief auf einen guten Gedanken gebracht hatten. Aber Wilhelm wollte es nicht annehmen. War er es doch gewesen, der darauf beharrt hatte, den Brief, ohne vorher zu fragen, einzuwerfen. "Vater," sagte er, "du weisst nicht so genau, wie die Sache zugegangen ist. Ich bin schon froh, dass nur kein Unheil entstanden ist aus unserm Brief, eine Belohnung will ich lieber nicht nehmen, die hat nur Karl verdient, gib sie nur ihm." Noch am selben Abend erhielt der Ohrenarzt sein Geld, mit einer Entschuldigung ueber die Verzoegerung und der aufrichtigen Bemerkung, dass es Herrn Pfaeffling nicht frueher moeglich gewesen sei, die Summe zusammenzubringen. Der Arzt sass schon mit seiner Gemahlin beim Abendessen. "Ist denn der Pfaeffling nicht der Direktor der Musikschule, der neulich einen Ball gegeben hat?" "Bewahre, du bringst auch alles durcheinander," sagte die Gattin, die sich nicht durch Liebenswuerdigkeit auszeichnete. "Der Pfaeffling ist ja bloss Musiklehrer. Es ist doch der, von dem man einmal erzaehlt hat, dass er seine zehn Kinder ausschickt, um Wohnungen zu suchen, weil niemand die grosse Familie aufnehmen wollte." "O tausend!" rief der Doktor, "wenn ich das gewusst haette, dem haette ich keine so gesalzene Rechnung geschickt!" "Du verwechselst auch alle Menschen!" "Die Menschen nicht, bloss die Namen; der Direktor heisst ganz aehnlich." "Gar nicht aehnlich." "Nicht? Ich meine doch. Wie heisst er eigentlich?" "Mir faellt der Name gerade nicht ein, aber aehnlich ist er gar nicht." "Doch!" "Nein!" Nachdem sie noch eine Weile ueber die Aehnlichkeit eines Namens gestritten hatten, den sie beide nicht wussten, schob der Arzt das Geld ein mit einem bedauernden: "Aendern laesst sich da nichts mehr." Elschens Krankheit war gnaedig voruebergegangen. Sie war wieder ausser Bett, hatte aber noch Hausarrest und viel Langeweile. So freute sie sich ueber den heutigen Lichtmessfeiertag, an dem die Geschwister schulfrei waren. Am Nachmittag machte sie sich an Frieder heran, der geigend in der Kueche stand, und bat schmeichelnd, dass er nun endlich aufhoere und mit ihr spiele. Er nickte nur und spielte weiter. Sie wartete geduldig. Endlich mahnte ihn Walburg: "Frieder, hoer auf, du hast schon zu lang gespielt. Frieder, der Vater wird zanken." Da gab er endlich nach, und Elschen folgte ihm froehlich in das Musikzimmer, wo die Violine ihren Platz hatte. Als Frieder aber sah, dass der Vater gar nicht zu Hause war, nahm er schnell die Violine wieder zur Hand und spielte. "Du Boeser!" rief die kleine Schwester und Traenen der Enttaeuschung traten ihr in die Augen. Als aber nach einer Weile draussen die Klingel ertoente, sah man ihr schon wieder die Angst fuer den Bruder an: "Der Vater kommt!" rief sie und sah gespannt nach der Tuere. Aber ehe diese aufging, war Frieder mit seiner Violine durch die andere Tuere hinausgegangen und nun fluechtete er sich in das Bubenzimmer und spielte und spielte. Da holte sich Elschen den Bruder Karl zur Hilfe. "Frieder," sagte er, "ich rate dir, dass du jetzt augenblicklich aufhoerst, du hast gewiss schon drei Stunden gespielt!" Da machte der leidenschaftliche Geiger ein finsteres Gesicht, wie es noch niemand an dem guten, kleinen Kerl gesehen hatte, und sagte trutzig zu Karl: "Ich kann jetzt nicht aufhoeren, ich spiele bis ich fertig bin." In diesem Augenblick kam Frau Pfaeffling herein, da stuerzte sich Elschen weinend auf sie zu und rief: "Alle sagen ihm, er soll aufhoeren und er tut's doch nicht, vielleicht hoert er gar nie mehr auf, sieh ihn nur an!" Aber durch diesen verzweifelnden Ausruf der Kleinen und vielleicht noch mehr durch den Anblick der Mutter kam Frieder zu sich, liess die Geige sinken, legte den Bogen aus der Hand und senkte schuldbewusst den Kopf. "Hast du gewusst, dass es ueber die Zeit ist und hast dennoch weitergespielt?" fragte Frau Pfaeffling. "Das haette ich nicht von dir gedacht, Frieder, wenn du ueber deiner Violine allen Gehorsam vergisst, dann ist's wohl besser, das Geigenspiel hoert ganz auf. Bleib hier, ich will hoeren, was der Vater meint." Frau Pfaeffling ging hinaus, Frieder blieb wie angewurzelt stehen. Die Geschwister sammelten sich allmaehlich um ihn, sie berieten, was geschehen wuerde, drangen in ihn, er solle gleich um Verzeihung bitten, und als nun die Eltern miteinander kamen, war eine schwuele Stimmung im Zimmer. Frieder wagte kaum aufzusehen, aber trotzig schien er nicht, denn er sagte deutlich: "Es ist mir leid." "Das muss dir freilich leid sein, Frieder!" sagte der Vater. "Wenn du bloss im Eifer vergessen haettest, dass du ueber die Zeit spielst, dann koennte ich dir das leicht verzeihen, aber wenn du erinnert wirst, dass du aufhoeren solltest und magst nicht folgen, wenn du mit aller Absicht tust, was ich dir schon oft streng verboten habe, dann ist's aus mit dem Geigenspiel. Was meinst du, wenn ihr Kinder alle nicht folgen wolltet, wenn jeder taete, was ihm gut duenkt? Das waere gerade, wie wenn bei dem Orchester keiner auf den Dirigenten saehe, sondern jeder spielte, wann und was er wollte. Nein, Frieder, meine Kinder muessen folgen, mit deinem Violinspiel ist's vorbei, ich will nicht sagen fuer immer, aber fuer Jahr und Tag. Gib sie her!" Frieder, der die Violine leicht in der Hand gehalten hatte, drueckte sie nun ploetzlich an sich, verschraenkte beide Arme darueber und wich einen Schritt vom Vater zurueck. Sie waren alle ueber diesen Widerstand so bestuerzt, dass es fast einstimmig ueber aller Lippen kam: "Aber Frieder!" Herr Pfaeffling sah mit masslosem Erstaunen den Kleinen an, der immer der gutmuetigste von allen gewesen war und der jetzt tat, was noch keines gewagt hatte, sich ihm widersetzte. Einen Moment besann er sich, und dann, ohne nur dem zurueckweichenden nachzugehen, streckte er rasch seine langen Arme aus, hob den kleinen Burschen samt seiner Violine hoch in die Luft und rief, indem er ihn so schwebend hielt: "Mit Gewalt kommst du gegen mich nicht auf, merkst du das?" und ernst fuegte er hinzu, als er ihn wieder auf den Boden setzte: "Nun gib du mir gutwillig deine Violine, Frieder!" Aber die Arme des Kindes loesten sich nicht. Von allen Seiten, laut und leise, wurde ihm von den Geschwistern zugeredet: "Gib sie her!" und als Frau Pfaeffling sah, wie er das Instrument leidenschaftlich an sich presste, fragte sie schmerzlich: "Frieder, ist dir deine Violine lieber als Vater und Mutter?" Der Kleine beharrte in seiner Stellung. "So behalte du deine Violine," rief nun lebhaft der Vater, "hier hast du auch den Bogen dazu, du kannst spielen, solang du magst. Aber unser Kind bist du erst wieder, wenn du sie uns gibst," und indem er die Tuere zum Vorplatz weit aufmachte, rief er laut und drohend: "Geh hinaus, du fremdes Kind!" Da verliess Frieder das Zimmer. Draussen stand er regungslos in einer Ecke des Vorplatzes, innen schluchzten die Schwestern, ergriffen waren alle von dem Vorfall. Herr Pfaeffling ging erregt hin und her und dann hinaus in den Vorplatz, wo er Walburg mit so lauter Stimme, dass es bis ins Zimmer drang, zurief: "Das Kind da soll gehalten werden wie ein armes Bettelkind. Es darf hier aussen im Vorplatz bleiben, es kann da auch essen und man kann ihm nachts ein Kissen hinlegen zum Schlafen. Geben Sie ihm den Kuechenschemel, dass es sich setzen kann. Es dauert mich, weil es keinen Vater und keine Mutter mehr hat." Hierauf ging er hinueber in sein Zimmer. Frau Pfaeffling zog Elschen an sich, die sich nicht zu fassen vermochte. "Sei jetzt still, Kind," sagte sie, "Frieder wird bald einsehen, dass er folgen muss. Wir lassen ihn jetzt ganz allein, dass er sich besinnen kann. Er wird dem Vater die Violine bringen, dann ist alles wieder gut." Als die Zeit des Nachtessens kam, deckten die Schwestern auch fuer Frieder. Sie rechneten alle, dass er kommen wuerde. Herr Pfaeffling, der zum Essen gerufen war, ging zoegernd, langsam an Frieder vorbei, der als ein jammervolles Haeufchen auf dem Schemel sass und die Gelegenheit, die ihm der Vater geben wollte, voruebergehen liess. Er kam nicht zu Tisch. "Tragt ihm zu essen hinaus, soviel er sonst bekommt," sagte Herr Pfaeffling, "der Hunger soll ihn nichts zu uns treiben, die Liebe soll es tun und das Gewissen." So ass der Kleine aussen im Vorplatz und so oft die Zimmertuere aufging, kamen ihm Traenen, denn er sah die Seinen um die Lampe am Tisch sitzen und sein Platz war leer. Aber er hatte ja seine Violine, nach dem Essen wollte er spielen, immerzu spielen. Im Zimmer horchten sie ploetzlich auf. "Er spielt!" fluesterte eines der Kinder. Von draussen erklang ein leiser Geigenton. Sie lauschten alle. Drei Striche--dann verstummte die Musik. Die drei Toene hatten Frieder wehgetan, er wusste nicht warum. Der kleine Geiger hatte frueher noch nie mit traurigem Herzen nach seinem Instrument gegriffen, darum hatte er auch keine Ahnung davon, wie schmerzlich die Musik das Menschenherz bewegen kann. Nach einer Weile begann er noch einmal zu spielen, aber wieder brach er mitten darin ab. Denen, die ihm zuhoerten, ging es nahe, vor allem den Schwestern. "Die Marianne moechte hinaus zu Frieder," sagte die Mutter. Herr Pfaeffling verwehrte es nicht. Sie fanden ihn auf dem Schemel kauernd, wie er die Geige auf seinen Knieen liegend mit schmerzlichem Blick ansah. Sie setzten sich zu ihm und fluesterten mit ihm. Eine Weile spaeter, als Herr Pfaeffling in seinem Musikzimmer war, kam ein sonderbarer Zug zu ihm herein: Voran kam Frieder und trug mit beiden Haenden etwas, das eingehuellt war in Mariannens grossen, schwarzgrauen Schal. Es war fast wie ein kleiner Sarg anzusehen; ernst genug sah auch der kleine Traeger aus, die Schwestern folgten als Trauergeleite. "Da drinnen ist die Violine," sagte Frieder zu seinem Vater, der fragend auf die merkwuerdige Umhuellung sah. Da nahm ihm Herr Pfaeffling rasch den Pack ab, legte ihn beiseite, ergriff seinen kleinen Jungen, zog ihn an sich und sagte in warmem Ton: "Nun ist alles gut, Frieder, und du bist wieder unser Kind!" Und Frieder weinte in des Vaters Armen seinen Schmerz aus. Spaeter erst vertrauten die Schwestern dem Vater an: "Solang Frieder seine Violine gesehen hat, war es ihm zu schwer, sie herzugeben, erst wie wir sie zugedeckt haben und ganz eingewickelt, hat er sie nimmer mit so traurigen Augen angesehen!" Als Frieder laengst schlief, sprachen seine Eltern noch ueber ihn. "Wie kann man nur so leidenschaftliche Liebe fuer die Musik haben," sagte Frau Pfaeffling, "mir ist das ganz unverstaendlich." "Von dir hat er es wohl auch nicht," entgegnete Herr Pfaeffling und fuegte nachdenklich hinzu: "Ganz ohne Musik kann ich ihn nicht lassen, das waere, wie wenn ich einem Hungrigen die Speise versagen wollte. Ich denke, am besten ist, ich lehre ihn Klavierspielen. Danach hat er bis jetzt kein Verlangen und wird es leichter mit Massen treiben." "Ja, und lernen muss er es doch, denn daran wird man kaum zweifeln koennen, dass er einmal ein Musiker wird." Unser Musiklehrer sagte schwermuetig: "Es wird wohl so kommen." 12. Kapitel Ein Haus ohne Mutter. So ganz allmaehlich und unmerklich war es gekommen, dass von Frau Pfaefflings Reise zur Grossmutter gesprochen wurde als von einer ausgemachten Sache, obwohl niemand haette sagen koennen, an welchem Tag sie die Ansicht aufgegeben hatte, dass die Reise ganz unmoeglich sei. Nur "auf alle Faelle" entschloss sie sich zum Einkauf eines Kleiderstoffs, und als die Schneiderin das Kleid anfertigte, hoerte man Frau Pfaeffling sagen: "Nicht zu lang, damit es noetigenfalls auch als Reisekleid praktisch ist." "Auf alle Faelle" nahm sie eines Tages das Kursbuch zur Hand, um zu sehen, wie sich die Reise praktisch machen liesse, und was sie gesehen, trug sie "auf alle Faelle" in ihr Notizbuch ein. Wer wird aber nicht reisen, wenn das Reisekleid fertig im Schrank haengt und die besten Zugverbindungen herausgefunden sind? So war es denn wirklich soweit gekommen, dass sich Frau Pfaeffling anfangs Februar fuer einen bestimmten Tag bei ihrer Mutter ansagte. Darauf erfolgte eine Karte, die mit herzlichem Willkommruf begann und mit der Anfrage schloss, ob Frau Pfaeffling nicht mit leichterem Herzen reisen wuerde, wenn sie ihr Elschen mitnaehme? Das Kind zahle ja nur den halben Fahrpreis. Diese Karte, die Herr Pfaeffling im Zimmer vorlas, brachte grosse Aufregung in die Kinderschar, und ungefragt gaben sie alle ihre Gefuehle und Meinungen kund, bis der Vater die Tuere weit aufmachte und den ganzen aufgeregten Schwarm hinausscheuchte. "Du haettest es gar nicht vor den Kindern vorlesen sollen, ehe wir entschlossen sind," sagte Frau Pfaeffling. "Freilich, aber ich kann dich auch nicht bei jeder Gelegenheit zu mir herueberrufen, und wo du bist, sind immer ein paar Kinder." "Ja, ja," erwiderte Frau Pfaeffling laechelnd, "und warten, bis sie in der Schule sind oder bis am Abend, warten kann man nicht, wenn man Pfaeffling heisst!" Sie berieten zusammen, waren sehr bald entschlossen und riefen die Kinder zurueck. Frau Pfaeffling sah den Blick der Kleinen gespannt auf sich gerichtet. Sie zog das Kind an sich. "Es kann nicht sein, Elschen," sagte sie, "und ich will dir auch erklaeren warum. Bei einer so weiten Reise ist auch der _halbe_ Fahrpreis schon teuer und selbst, wenn ihn die gute Grossmutter fuer dich zahlen wollte, koennte ich dich doch nicht mitnehmen, denn wer sollte denn daheim die Tuere aufmachen, wenn es klingelt, waehrend alle in der Schule sind? Walburg hoert das ja nicht und sie versteht nicht, was die Leute sagen, die kommen. Du musst unsere Pfoertnerin sein, solange ich fort bin; wenn du nicht daheim waerest, koennte ich gar nicht reisen." Das kleine Juengferchen war verstaendig, es sah ein, dass es zurueckbleiben musste. Der Traum hatte nur kurz gedauert und war undeutlich gewesen, denn was wusste Elschen von fremden Laendern und Menschen, von Reiselust und Erlebnissen? Fuer sie war die Heimat noch die Welt, die Neues und Merkwuerdiges genug brachte. So kam es zur Verwunderung der grossen Geschwister nicht einmal zu ein paar Traenen bei der kleinen Schwester, die doch heute nach Tisch geweint hatte, weil sie nicht mit hinunter gedurft hatte auf die Balken in dem nassen Hof! Der letzte Tag vor der Abreise war gekommen, Frau Pfaeffling war es schwer ums Herz. Gut, dass Tag und Stunde laengst festgesetzt waren, sonst haette sie ihren Koffer wohl wieder ausgepackt. Aber sie wusste, wie sehnlich sie erwartet wurde, es gab kein Zurueck mehr, es musste jetzt sein. Geschaeftig ging sie heute, alles voraus bedenkend, hin und her im Haus. Aber ueberall, wo sie auch war, in Kueche, Keller und Kammern, folgte ihr Frieder. Er stoerte sie nicht, wenn sie raeumte, ueberlegte oder anordnete, er verlangte nichts, als bei ihr zu sein, nahe, so nahe wie moeglich. Sie spuerte sein Heimweh. Es war ein langes, stummes Abschiednehmen. Einmal kam es auch zur Aussprache, in einem Augenblick, wo sie oben, in der Bodenkammer, allein mit ihm war. "Mutter, gelt, du glaubst das nimmer, was du neulich gesagt hast?" "Was denn, Kind?" Es wollte nicht ueber seine Lippen. "Was, mein Kind, komm, sage es mir!" "Dass ich die Violine lieber habe als dich und den Vater." "Nein, Herzkind, das glaube ich schon lange nimmer, du hast ja dem Vater deine Violine gegeben. Ich weiss gut, wie lieb du uns hast. Darum tut dir ja auch der Abschied weh. Aber es muss doch auch einmal sein, dass ich zu meinem eigenen Muetterlein wieder gehe, eben weil man seine Mutter so lieb hat, das verstehst du ja. Und denke nur, das Freudenfest, wenn wir wieder zusammen kommen! Wie wird das koestlich werden!" So troestete die Mutter den Kleinen und troestete sich selbst zugleich. Und dann nahm sie die Gelegenheit wahr und sprach mit Karl allein ein Wort: "Nimm dich ein wenig um Frieder an, er ist immer noch traurig wegen seiner Violine, darum faellt ihm auch der Abschied besonders schwer." "Ja, er geigt oft ohne Violine ganz in der Stille, Mutter, hast du es schon gesehen? Er stellt sich so hin, wie wenn er seine Geige haette, neigt den Kopf nach links, biegt den Arm und streicht mit dem rechten, wie wenn er den Bogen fuehrte, und dann hoert er die Melodien, das sieht man ihm gut an. Da tut er mir oft leid." "Ja, mir auch. Aber morgen, wenn ich fort bin, will ihm der Vater die erste Klavierstunde geben, darueber wird er die Violine vergessen. Und wenn nun der Schnee vollends geschmolzen ist und ihr wieder am Kasernenhof turnen koennt, dann nimm nur auch Frieder dazu und mache ihm Lust. Und noch etwas: ich meine, deine Mathematikstunden mit Wilhelm werden nimmer regelmaessig eingehalten." "O doch, Mutter." "Oder sie sind so kurz, dass man nicht viel davon bemerkt?" "Das kann sein, auf die Uhr schauen wir gewoehnlich nicht." "Ich glaube, eure Stunde hat manchmal nur fuenfzehn Minuten; das ist aber nicht genug, ihr muesst eure Zeit einhalten; denke nur, wenn Wilhelm wieder eine so schlechte Note bekaeme!" "Die bekommt er nicht noch einmal, Mutter, du kannst dich darauf verlassen!" Bald nachher rief Frau Pfaeffling Wilhelm und Otto zu sich hinunter in die Holzkammer. "Ihr habt ja gar keinen Vorrat gespaltenes Holz mehr," sagte sie, "daran duerft ihr es nicht fehlen lassen, solange ich fort bin. Walburg muss in dieser Zeit alle meine Arbeit tun, sie kann nicht auch fuer Holz und Kohlen sorgen." Und nun ging's an die Maedchen. "Marianne, ihr muesst Walburg soviel wie moeglich alle Gaenge abnehmen, solange ich fort bin." "Ja, ja, Mutter, das tun wir doch immer!" "Manchmal sagt ihr doch: wir haben zuviel Aufgaben, oder: wir haben die Stiefel schon ausgezogen. Ihr muesst lieber die Stiefel dreimal aus- und anziehen, als es darauf ankommen lassen, dass Walburg mitten am Vormittag vom Kochen fortspringen muss." So ging der letzte Tag mit Vorsorgen und Ermahnungen aller Art hin und am Morgen der Abreise, schon im Reisekleid, nahm Frau Pfaeffling noch einmal Nadel und Fingerhut zur Hand, um einen eben entdeckten Schaden an einem Kinderkleid auszubessern. Sie sorgte noch auf dem Weg zur Bahn, ja aus dem Wagenfenster kamen noch hausmuetterliche Ermahnungen, bis endlich der Zug durch eine kaum hoerbare erste Bewegung zur fertigen Tatsache machte, dass Frau Pfaeffling verreist war. Sie konnte ihre Gedanken nicht gleich losmachen, die gingen noch eine Weile im alten Geleise. Dann kam die Einsicht, dass all dies Denken ihr selbst nur das Herz schwer machen und den Zurueckgebliebenen nichts nuetzen konnte. Zugleich verschwanden auch die letzten Haeuser und Anlagen der Stadt, freie, noch mit Schnee bedeckte Aecker und Felder tauchten auf, eine stille, einfoermige Natur. Da machte sie es sich bequem in dem Wagen, lehnte sich behaglich zurueck, ergab sich darein, dass sie nicht sorgen und nichts leisten konnte, und empfand eine wohltuende Ruhe, ein Gefuehl der Erholung, waehrend sie der Staette ihrer Taetigkeit mit gewaltiger Eile immer weiter entfuehrt wurde. Manches Dorf war schon an Frau Pfaeffling voruebergesaust, bis ihr Mann mit den Kindern nur wieder in die Fruehlingsstrasse zurueckgekehrt war. Sie machten sich an ihre Arbeit wie sonst und alles ging seinen geregelten Gang. Nur Elschen lief an diesem Vormittag mit Traenen durch die stillen Zimmer, die andern empfanden die Luecke erst so recht bei dem Mittagessen. Es verlief auffallend still. Eigentlich war ja Frau Pfaeffling keine sehr gespraechige Frau, ihr Mann und ihre Kinder waren lebhaftere Naturen; heute haette man das Gegenteil glauben koennen, eine so schweigsame Mahlzeit hatte es noch selten an diesem Tisch gegeben. Freilich war der Vater auch von der ihm ungewohnten Beschaeftigung hingenommen, das Essen auszuteilen. Er merkte jetzt erst, wieviel das zu tun machte, und es dauerte gar nicht lange, so fuehrte er den Brauch ein, dass Karl fuer Wilhelm die Suppe ausschoepfen musste, Wilhelm fuer Otto und so nacheinander herunter, immer das aeltere unter den Geschwistern dem juengern. Anfangs machte es den Kindern Spass, aber es ging nicht immer so friedlich und so saeuberlich zu wie bei der Mutter, und Walburg wunderte sich, dass sie bald eine noch fast gefuellte, bald eine ganz leere Suppenschuessel abzutragen hatte; da war gar kein regelmaessiger Verbrauch mehr wie bisher. Ganz kurios erschienen Herrn Pfaeffling und Karl die spaeten Abendstunden, wo sie allein beisammen sassen. Sie waren sich so nahe gerueckt und wussten doch nicht viel miteinander anzufangen, so glich das Zimmer oft einem Lesesaal, in dem die Vorschrift befolgt wird: Man bittet, nicht zu sprechen. Das wurde aber besser nach den ersten Tagen. Es kamen ja auch Briefe von der Mutter, und diese bildeten ein gemeinsames Interesse zwischen Vater und Sohn. Die Briefe brachten gute Nachrichten. Es war ein beglueckendes Wiedersehen zwischen Mutter, Tochter und Geschwistern, wenn auch nicht ganz ohne Wehmut. Was war es fuer ein gealtertes, pflegebeduerftiges Grossmuetterlein, das da im Lehnstuhl sass, nicht mehr imstande, ohne Hilfe von einem Zimmer in das andere zu gehen! Und wiederum, wo war Frau Pfaefflings Jugendbluete geblieben? Welch deutliche Spuren hatte die Muehsal des Lebens auf ihren feinen Zuegen eingegraben! Aber dieser erste wehmuetige Eindruck verwischte sich bald. Schon nach einigen Stunden hatten sie sich an die Veraenderung gewoehnt und fanden wieder die geliebten, vertrauten Zuege heraus. Es war auch kein Grund zu trauriger Empfindung da, denn die _alte_ Frau hatte keine Schmerzen zu leiden, sie genoss dankbar ein friedliches Alter unter der treuen Pflege der unverheirateten Tochter, die bei ihr und fuer sie lebte. Und die _junge_ Frau, wenn man Frau Pfaeffling noch so nennen wollte, sprach mit solcher Liebe von ihrem grossen Familienkreis und schien so gereift durch reiche Lebenserfahrung, dass es allen deutlich zum Bewusstsein kam, das Leben habe ihr mit all seiner Muehe und Arbeit Koestliches gebracht. Am wenigsten veraendert hatte sich Frau Pfaefflings Schwester, Mathilde, die noch ebenso frisch und kraeftig erschien, wie vor Jahren. Sie fuehrte die Schwester in das freundliche, sonnig gelegene und wohldurchwaermte Gastzimmer, zog sie an sich, kuesste sie herzlich und sagte: "Caecilie, nun soll dir's gut gehen! Du wirst sehen, wie ich dich pflege!" "Ich bin ja gar nicht krank, Mathilde." "Nein, das ist ja eben das Gute, dass du nur ueberanstrengt bist. Nichts tue ich lieber als solche abgearbeitete Menschenkinder zur Ruhe bringen und herausfuettern. Es ist eine wahre Lust, zu sehen, wie rasch das anschlaegt, da kann man viel erreichen in vier Wochen." Frau Pfaeffling wurde nachdenklich. "Mathilde," sagte sie, "kannst du das nicht in _drei_ Wochen erreichen?" "Warum? Nein, das ist zu kurz, du hast doch vier Wochen Urlaub?" "Ja, mein Mann und die Kinder denken auch gar nicht anders, als dass ich vier Wochen wegbleibe, aber ich selbst habe mir im stillen von Anfang an vorgenommen, nach drei Wochen zurueckzukommen, und habe gehofft, dass du mich darin unterstuetzest, denn sieh, es ist zu lange, einen solchen Haushalt, Mann, sieben Kinder und ein fast taubes Maedchen zu verlassen. Es kommt so oft etwas vor bei uns!" "Was soll denn vorkommen? Was fuerchtest du?" "Das kann ich dir nicht sagen, ich weiss es ja selbst nicht vorher, aber es ist so. Bald schreiben die Kinder einen Brief, der unangenehme Folgen haben koennte, bald hoert einer nicht auf zu musizieren, wenn er einmal anfaengt, und selbst, wenn nichts Besonderes vorkaeme, das Alltaegliche bringt schon Schwierigkeiten genug: Elschen muss vormittags immer allein die Tuere aufmachen und Bescheid geben, das ist unheimlich in einer grossen Stadt. Und wenn du immer noch nicht ueberzeugt bist, Mathilde, dann will ich dir noch etwas sagen: Ich meine, wenn mein Mann einundzwanzigmal mit Karl abends allein am Tisch gesessen ist, so ist das wirklich genug und es waere an der Zeit, dass ich wieder kaeme!" "So sollen wir dich ziehen lassen, ehe nur dein Urlaub abgelaufen ist?" "Ich habe mir das so nett ausgedacht und freue mich darauf, Mathilde, wenn ich etwa nach zwei Wochen heimschreibe, dass ich schon in der naechsten Woche komme. Du kennst ja meinen Mann, er ist noch gerade so lebhaft wie frueher und die meisten unserer Kinder haben sein Temperament. Da gibt es nun bei solch einer Nachricht immer gleich einen Jubel, das solltest du nur einmal mit ansehen und hoeren koennen!" Frau Pfaeffling sah im Geist ihre froehliche Schar, und ein glueckliches Leuchten ging ueber ihr Gesicht. In diesem Augenblick sah sie ganz jugendlich, gar nicht pflegebeduerftig aus. Als die Schwestern das Gastzimmer verliessen, hatten sie sich auf drei Wochen geeinigt. Die ersten Tage vergingen in stillem, gluecklichem Beisammensein. Es war fuer Frau Pfaeffling eine Wonne, so ganz ohne haeusliche Sorgen bei der Mutter sitzen zu duerfen und zu erzaehlen. Teilnahme und volles Verstaendnis war da zu finden fuer alles, was ihr Leben erfuellte, und doch stand die Mutter selbst schon fast _ueber_ dem Leben. Einen weiten Weg hatte sie in achtzig Jahren zurueckgelegt und nun, nahe dem Ziel, ueberblickte sie das Ganze wie aus der Ferne. Da sieht sich manches anders an, als wenn man mitten darinsteht. Von der Hoehe herab erkennt man, was Irrwege sind oder richtige Wege, und wer hoeren wollte, der konnte hier manch guten Rat fuer den eigenen Lebensweg bekommen. Frau Pfaeffling war von denen, die hoeren wollten. In die zweite Woche ihres Aufenthalts fiel der achtzigste Geburtstag. Zu diesem Familienfest fand sich unter andern Gaesten auch Frau Pfaefflings einziger Bruder ein mit seiner Frau und einer fuenfzehnjaehrigen Tochter, einem lieblichen, fein erzogenen Maedchen. Diesen Bruder, der Professor an einer norddeutschen Universitaet war, hatte Frau Pfaeffling auch seit vielen Jahren nimmer gesehen, aber aus der Ferne hatte eines an des andern Schicksal und Entwicklung stets Anteil genommen, und so war es beiden eine besondere Freude, sich einmal wieder ins Auge zu sehen. "Wir muessen auch ein Stuendchen herausfinden, um allein miteinander zu plaudern," sagte der Bruder waehrend des festlichen Mittagsmahls zu seiner Schwester. Und als nach Tisch, waehrend die Geburtstaegerin ruhte, eine Schlittenfahrt unternommen wurde, sassen Bruder und Schwester in einem kleinen Schlitten allein. Hier, im noerdlichen Deutschland, lag in diesem Februar noch ueberall Schnee, die Bahn war glatt, die Kaelte nicht streng, die Fahrt eine Lust. Frau Pfaeffling sah nach dem Schlitten zurueck, in dem mit andern Gaesten ihre junge Nichte sass. "Wie reizend ist sie," sagte Frau Pfaeffling, "und so wohlerzogen. Wenn du meine Kinder daneben sehen wuerdest, kaemen sie dir ein wenig ungehobelt vor." "Zum Abhobeln hast du wohl keine Zeit, meine Frau hat es leichter als du, sie gibt sich auch viel Muehe mit der Erziehung." "Ja, bei sieben geht es immer nur so aus dem groebsten, und man wird damit oft kaum fertig." "Unsere drei haben trotzdem auch ihre Fehler. Sie streiten viel miteinander, wie ist das bei euch?" "Es kommt auch vor, aber meistens sind sie doch vergnuegt miteinander. Sie haben ihres Vaters frohe Natur und sind leicht zu erziehen, nur sollte man sich eben mehr mit dem einzelnen abgeben koennen." "Hat man fuer die deinigen zu wenig Zeit, so fuer die unserigen zu viel. Ich fuerchte, dass sie gar zu sorgfaeltig beachtet werden. Jederzeit ist das Fraeulein zu ihrer Verfuegung, ausserdem haben wir noch zwei Dienstmaedchen, und mit unserem Jungen werden sie oft alle drei nicht fertig." So besprachen die Geschwister in alter Vertraulichkeit miteinander die haeuslichen Verhaeltnisse, und dann wollte Frau Pfaeffling Naeheres hoeren ueber einen Reiseplan, den ihr Bruder schon bei Tisch erwaehnt hatte. Er beabsichtigte in den Osterferien eine Reise nach Italien zu machen, dabei durch Sueddeutschland zu kommen und die Familie Pfaeffling zu besuchen. An diesen Plan schloss sich noch ein weiterer an, den der Professor nach dieser Schlittenfahrt fasste und zunaechst mit seiner Frau allein besprach. Wenn auf der einen Seite viele Kinder waren, auf der anderen wenig, auf der einen Seite Zeit, Bedienung und Geld knapp, auf der andern alles reichlich, warum sollte man nicht einen Ausgleich versuchen? Bruder und Schwaegerin machten den Vorschlag, einen der jungen Pfaefflinge auf Jahr und Tag zu sich zu nehmen. Die Sache wurde ueberlegt, und es sprach viel fuer den Plan. Frau Pfaeffling wollte mit ihrem Mann darueber sprechen, und wenn er einverstanden waere, sollte der Bruder auf der Osterreise sich selbst umsehen und waehlen, welches der Kinder am besten zu den seinigen passen wuerde. Das Auserlesene sollte er dann auf der Heimreise gleich mit sich nehmen. Mit dieser Aussicht auf ein baldiges Wiedersehen reiste der Bruder mit seiner Familie wieder ab, und in der Umgebung der achtzigjaehrigen Mutter wurde es still wie vorher. Frau Pfaeffling erhielt treulich Berichte von den Ihrigen, aber sie erfuhr doch nicht alles, was daheim vor sich ging. Ihr Mann hatte die Losung ausgegeben: "Nur was erfreulich ist, wird brieflich berichtet, sonst ist der Mutter der Aufenthalt verdorben, alles andere wird erst muendlich erzaehlt." So gingen denn Nachrichten ab ueber gelungene Mathematikarbeiten und neue Klavierschueler, ueber einen Maskenzug und Fastnachtskrapfen, ueber Frieders regelmaessiges Klavierspiel und ueber der Hausfrau freundliche Teilnahme, aber worin sich zum Beispiel diese Teilnahme Frau Hartwigs gezeigt hatte, das und manches andere blieb verschwiegen. Mit der Hausfrau hatte sich das so verhalten: Eines Mittags, als Herr Pfaeffling von der Musikschule heimkam, sprach ihn Frau Hartwig an: "Haben Sie heute nacht nichts gehoert, Herr Pfaeffling, nicht ein Stoehnen oder dergleichen?" "Nein," sagte Herr Pfaeffling, "ich habe gar nichts Auffallendes gehoert." "Aber es muss doch aus Ihrer Wohnung gekommen sein. Nun ist es schon die zweite Nacht, dass ich daran aufgewacht bin. Kann es sein, dass eines der Kinder so Heimweh hat, dass es bei Nacht laut weint? Aus einem der Schlafzimmer kommt der schmerzliche Ton. Irgend etwas ist nicht in Ordnung, ich habe schon die Kinder danach gefragt, aber nichts erfahren koennen." "Das will ich bald herausbringen," sagte Herr Pfaeffling und ging hinauf. Er fragte zunaechst nicht, sah sich aber bei Tisch aufmerksam die Tafelrunde an. Frische, froehliche Gesichter waren es, die nichts verrieten von naechtlichem Kummer. Oder doch? Ja, eines sah allerdings blass und ueberwacht aus, ernst und fast wie von Schmerz verzogen. Das war Anne. Ihr musste etwas fehlen. Er beobachtete sie eine Weile und machte sich Vorwuerfe, dass er das bisher uebersehen hatte. Wenn die Mutter dagewesen waere, die haette es bemerkt, auch ohne der Hausfrau Mitteilung. Nach Tisch, als sich die Kinder zerstreut hatten, hielt er die Schwestern zurueck. "Ist dir's nicht gut, Anne?" fragte er. "O doch!" erwiderte sie rasch und wurde ueber und ueber rot. "Du meinst wohl, in dem Punkt duerfe man luegen," entgegnete Herr Pfaeffling, "weil ich lieber hoere, dass du wohl bist. Aber ich moechte doch auch darueber gern die Wahrheit hoeren." Da senkte sie schon mit Traenen in den Augen den Kopf, und Herr Pfaeffling wusste, woran er war. "Warum hast du denn geweint heute nacht?" fragte er, "wenn die Mutter nicht da ist, muesst ihr mir euren Kummer anvertrauen." Das geschah nun auch und er erfuhr, dass Anne wieder an Ohrenschmerzen litt. Diese waren bei Nacht heftig geworden. Marie hatte ihr ein Mittel eingetraeufelt, das noch vom vergangenen Jahr dastand, und Umschlaege gemacht, aber das hatte alles nichts geholfen und erst gegen Morgen waren die Schwestern eingeschlafen. So war es schon zwei Naechte gewesen. Sie hatten es dem Vater verschweigen wollen, denn Anne mochte nicht zum Ohrenarzt geschickt werden, sie fuerchtete die Behandlung, fuerchtete auch die grosse Neujahrsrechnung. Am Nachmittag sassen aber doch die zwei Schwestern im Wartezimmer des Arztes. Der Vater hatte der Verzagten Mut gemacht und den Schwestern vorgehalten, dass Anne so schwerhoerig wie Walburg werden koennte, wenn etwas versaeumt wuerde. Der Arzt erkannte das Zwillingspaar gleich wieder. Die zwei Unzertrennlichen ruehrten ihn. Die gesunde Schwester sah gerade so aengstlich aus wie die kranke, sie zuckte wie diese beim Schmerz, und doch kam sie immer als treue Begleiterin. Diesmal konnte er beide troesten. "Es ist nichts Schlimmes," sagte er, "das gibt keine so boese Geschichte wie voriges Jahr. Aber das alte Mittel schuettet weg, das macht die Sache nur schlimmer. Ich gebe euch ein anderes. Wenn eure Mutter verreist ist, so kommt lieber alle Tage zu mir, ich will es selbst eintraeufeln. Und sagt nur eurem Vater einen Gruss, und das gehe noch auf die Rechnung vom vorigen Jahr, das ist Nachbehandlung, die gehoert dazu." Darueber wurden die Schwestern so vergnuegt, dass sie anfingen, mit dem gefuerchteten Arzt ganz vertraulich zu plaudern. So erfuhr er denn auch, dass Anne nicht so taub werden wollte wie Walburg. "Hoert die denn gar nichts mehr?" fragte er. "Uns versteht sie schon noch, wenn wir ihr etwas recht laut ins Ohr sagen, aber es wird alle Jahre schlimmer." "Geht sie nie zum Arzt?" Davon hatten die Schwestern nicht reden hoeren, aber sie wussten ganz gewiss, dass man ihr nicht helfen konnte. "Manchmal kann man so ein Uebel doch zum Stillstand bringen," sagte der Arzt, "schickt sie mir nur einmal her, ich will danach sehen und sagt daheim, das gehe auch noch in die alte Rechnung." Die Schwestern konnten gar nicht schnell genug heimkommen, so freuten sie sich, den guten Bescheid dem Vater mitzuteilen. Unverdrossen riefen sie es auch Walburg ins Ohr, bis diese endlich verstand, dass es sich um sie handelte, und ihren Auftrag erteilte: "Sagt nur dem Arzt, wenn euere Mutter zurueckkommt, werde ich so frei sein." Das naechtliche Stoehnen war bald nimmer zu hoeren. Die letzte Woche von Frau Pfaefflings Abwesenheit war angebrochen, zum gestrigen Sonntag hatte sie die froehliche Botschaft gesandt, dass sie volle acht Tage frueher heimkommen wuerde, als verabredet war. In dieser Zeit wurde nie, wie sonst manchmal, vergessen, das Blaettchen vom Kalender rechtzeitig abzureissen. Sie sollte nur schnell vergehen, diese letzte Februarwoche, zugleich die letzte Woche ohne die Mutter. "Immer ist das Blatt schon weg, wenn ich zum Fruehstueck komme," sagte einmal Karl, "das ist doch bisher mein Geschaeft gewesen, wer tut es denn so zeitig? Der Kalender gehoert eigentlich mir." "Ich," sagte Frieder, "ich habe es manchmal getan." "Du bist doch gar nicht vor mir zum Fruehstueck gekommen?" Es wurde noch weiter nachgeforscht, und da stellte es sich heraus, dass Frieder immer schon abends den Kalenderzettel abzog und mit ins Bett nahm. "Du meinst wohl, es kommt dann schneller der 1. Maerz und die Mutter mit ihm?" sagte Karl und wehrte dem kleinen Bruder nicht, dem war ja immer anzumerken, dass er Heimweh hatte. Aber an diesem Montag morgen ging er vergnuegt seinen Schulweg mit den Geschwistern, die Heimkehr der Mutter war ja ploetzlich so nahegerueckt. Nur Elschen wurde heute die Zeit besonders lang, so allein mit Walburg; ja im Augenblick war sie sogar ganz allein, denn am Samstag hatten die jungen Kohlentraeger und Holzlieferanten nicht genuegend fuer Vorrat gesorgt und Walburg musste hinuntergehen, sich selbst welches zu holen. Waehrend dieser Zeit wurde geklingelt und Elschen lief herzu, um aufzumachen. Ein Herr fragte nach Herrn Pfaeffling, dann nach dessen Frau und nach den Geschwistern. Als er hoerte, dass sie alle fort seien, bedauerte er das sehr und fragte, ob er wohl ein kleines Briefchen an Herrn Pfaeffling schreiben koenne, er sei ein guter Bekannter von ihm, und er wolle schriftlich ausmachen, wann er ihn wieder aussuchen wuerde. Elschen fuehrte den Herrn freundlich in des Vaters Zimmer an den Schreibtisch, wo das Tintenzeug stand. "Es ist gut, liebes Kind," sagte der Herr, "du kannst nun hinausgehen, dass ich ungestoert schreiben kann, den Brief fuer deinen Vater lasse ich hier liegen." Elschen verliess das Zimmer. Nach einer ganz kurzen Weile kam der Herr wieder heraus. "Sind Sie schon fertig?" fragte die Kleine verwundert. Aber sie bekam keine Antwort, der Herr schien grosse Eile zu haben, ging rasch die Treppe hinunter und hielt sich auch gar nicht bei Walburg auf, die eben heraufkam. "Wer war da?" fragte diese. "Bloss ein Herr, der den Vater sprechen wollte," rief ihr Elschen ins Ohr; weiteres von diesem Besuch zu erzaehlen war dem kleinen Persoenchen zu unbequem, Walburg verstand doch immer nicht recht. Aber beim Mittagessen fiel ihr die Sache wieder ein und sie erzaehlte sie dem Vater. Dem kam es verdaechtig vor. "Wo ist denn der Brief?" fragte er. Ja, wo war der Brief? Nirgends war einer zu finden! Und wo war denn--ja, wo war denn das Geld, das in der kleinen Schublade jahraus, jahrein seinen Platz hatte? Sie standen zu acht herum, der Vater mit allen sieben, mit entsetzten Blicken stierten sie alle in den leeren Raum. Oft schon war er duenn besetzt gewesen, aber so oede hatte es noch nie in dieser Schublade ausgesehen, in die hinein, aus der heraus das kam, was die Familie Pfaeffling am Leben erhielt. Ein Dieb, ein Betrueger, ein schaendlicher Mensch hatte sich eingeschlichen, hatte alles Geld genommen, nichts zurueckgelassen, keinen Pfennig fuers taegliche Brot! Walburg wurde hereingeholt und ueber den "Herrn" ausgefragt. Man brauchte ihr gar nichts ins Ohr zu rufen, die offenstehende leere Schublade, die bestuerzten Gesichter sprachen auch fuer sie deutlich genug; sie wurde kreideweiss im Gesicht und fragte bloss: "Gestohlen?" Und nun flogen Vorwuerfe hin und her. "Du bist die rechte Pfoertnerin, fuehrst den Dieb selbst an den Schreibtisch!" warfen die Brueder der kleinen Schwester vor. "Es war ja gar kein Dieb, es war ein freundlicher Herr," rief sie weinend. Marie nahm sie in Schutz. "Sie kann nichts dafuer, aber ihr, weil ihr kein Holz getragen habt, wegen euch hat Walburg hinunter gemusst!" "Haette ich den Schluessel abgezogen, o, haette ich ihn doch nicht stecken lassen!" rief Herr Pfaeffling immer wieder. Die sich keinen Vorwurf zu machen hatten, waren am ruhigsten; Frieder wagte zuerst ein Trostwort: "Die Mutter wird schon Geld haben, wir wollen ihr schreiben," aber der Gedanke an die Mutter schien diesmal niemand zu beruhigen, es war so traurig, zu denken, dass man sie mit solch einer Botschaft empfangen sollte! Karl und Marie hatten leise miteinander gerechnet: "Vater," sagten sie jetzt, "wir alle zusammen haben doch noch genug fuer eine Woche, und am 1. Maerz kommt wieder dein Gehalt. Wir sparen recht." "Ja, ja," sagte Herr Pfaeffling, "verhungern muessen wir nicht, ich habe auch noch etwas im Beutel, aber alles, was fuer die Miete und fuer die Steuer zurueckgelegt war, ist weg, und wenn ich meinen Schluessel abgezogen haette, waere vielleicht alles noch da!" Er rannte aufgeregt hin und wieder, bis ihn ein Wort Walburgs stillstehen machte, das Wort: Polizei. Es war ja eine Moeglichkeit, dass der Dieb ausfindig gemacht werden und ihm das Geld wieder abgenommen werden konnte. Ja, sofort Anzeige auf der Polizei, das war das einzig richtige. Elschen sollte mit, um den Eindringling zu beschreiben. Nur schnell, nur schnell, schon waren viele Stunden verloren! Kaum wollte sich der Vater gedulden, bis die Kleine gerichtet war. Sie setzten sie rasch auf den Stuhl, vor ihr knieten die Schwestern, jede knoepfte ihr einen Stiefel an, Walburg brachte Mantel und Haeubchen, die Brueder wollten ihr die Handschuhe anziehen, machten es verkehrt, erklaerten dann Handschuhe fuer ganz uebertrieben und die Kleine sprang ohne solche dem Vater nach, der schon an der Treppe stand und nun mit so langen Schritten die Fruehlingsstrasse hinunterging, dass das Kind an seiner Hand immer halb springend neben ihm hertrippeln musste. Von der Polizei brachten sie guenstigen Bescheid zurueck. Ein junger Musiker, der angeblich Arbeit suchte, war am Tag vorher auf Bettel betroffen worden und mochte wohl der Missetaeter sein. Man hoffte, ihn aufzufinden. Es war gut, dass am gestrigen Sonntag ein Brief an Frau Pfaeffling abgegangen war, denn heute und in den folgenden Tagen haette niemand schreiben moegen. So aber kam es, dass sie gerade, waehrend ihre Lieben in grosser Truebsal waren, einen dicken Brief von ihrem Mann erhielt, aus dem ihr eine ganze Anzahl Briefblaettchen entgegen flatterten, alle voll Jubel ueber das unerwartet nahe Wiedersehen. Jedes der Kinder hatte seine Freude selbst aussprechen wollen. Nicht die leiseste Ahnung sagte Frau Pfaeffling, dass die Stimmung daheim inzwischen vollkommen umgeschlagen war. Herr Pfaeffling ging gleich am naechsten Morgen auf die Polizei, um sich zu erkundigen. Er erfuhr, dass bisher vergeblich nach dem jungen Musiker gefahndet worden war. Als er aber am Nachmittag nochmals kam und ebenso am naechsten Tag in fruehester Morgenstunde auf der Polizei erschien, wurde ihm bedeutet, dass er sich nicht mehr bemuehen moechte, es wuerde ihm Nachricht zukommen. Darueber verstrich die halbe Woche und der Gedanke, dass man die Mutter mit einer so unangenehmen Botschaft empfangen sollte, liess gar nicht die rechte Freude des Wiedersehens aufkommen. Herr Pfaeffling war unschluessig, ob er die Nachricht nicht doch vorher schriftlich mitteilen sollte, zoegerte aber noch immer in der Hoffnung auf Festnahme des Diebes und fand endlich, als er sich zum Schreiben entschloss, dass der Termin doch schon verpasst sei und der Brief erst nach der Abreise seiner Frau ankommen wuerde. So blieb denn nichts uebrig, als der Heimkehrenden schonend die Hiobspost mitzuteilen. Fuer Frau Pfaeffling war die Abschiedsstunde gekommen. "Ich wundere mich," sagte sie zu Mutter und Schwester, "dass ich nicht noch einen letzten Gruss von daheim bekommen habe. Es wird doch alles in Ordnung sein?" "Alles ist nie in Ordnung, wenn die Hausfrau fort war," sagte die Mutter, "auch dann nicht, wenn die daheim es meinen. Lass dir nur das Wiedersehen nicht verderben, wenn du nun siehst, dass manches in Unordnung geraten ist waehrend deiner Abwesenheit. Unser Zusammensein hier war so schoen, das ist doch auch eines Opfers wert." "Ja," sagte die Schwester, "du hast ja selbst gesagt, dass jeden Tag irgend etwas Ungeschicktes vorkommt bei deinen Kindern, auch wenn du daheim bist. Einundzwanzig Tage warst du fort, also so lang du nicht mehr als einundzwanzig Dummheiten entdeckst, darfst du dich gar nicht beklagen, darfst nicht behaupten, dass dein Wegsein daran schuld ist, und nicht gleich erklaeren: ich reise nie mehr." Frau Pfaeffling lag freilich in dieser Abschiedsstunde der Gedanke sehr fern, nie mehr reisen zu wollen, nie mehr hieher zu kommen. Sie riss sich mit schwerem Herzen los von dem geliebten Muetterlein, von der Schwester, die sie so treulich gepflegt hatte, und das Wort "auf Wiedersehen" war ihr letzter Gruss aus dem abfahrenden Zug, als sie die weite Heimreise antrat. Noch immer war es draussen in der Natur kahl und winterlich, die drei Wochen waren anscheinend spurlos voruebergegangen, noch war nirgends ein Keimen und Sprossen, eine Fruehlingsandeutung zu bemerken. Und doch schien ihr die Zeit so weit zurueck zu liegen, seitdem sie hieher gereist war! Jetzt war ihr Herz noch vom Abschiedsweh bewegt, und doch ruehrte sich schon und draengte gewaltig in den Vordergrund die Freude auf das Wiedersehen mit Mann und Kindern. Wohl dem, der so von Lieben zu Lieben kommt, der ungern entlassen und mit Wonne empfangen wird. Wer kann sich reicher fuehlen als so eine Frau, die von daheim nach daheim reist? Den Kindern hatte der Schrecken wegen des abhanden gekommenen Geldes doch nicht lange die Freude auf das Heimkommen der Mutter verderben koennen. Die Kleinen hatten das fatale Ereignis ohnedies von Montag bis Samstag schon halb vergessen. Die Grossen dachten ja wohl noch daran, aber doch mit dem unbestimmten Gefuehl, dass die Mutter um so mehr her gehoere, je schwieriger die Lage im Haus war. Herr Pfaeffling sah auch nicht aus wie einer, der sich nicht freut, als er am Samstagmittag, gleich von der Musikschule aus an den Bahnhof eilte. Er kam dort fast eine Viertelstunde zu fruehe an, lief in ungeduldiger Erwartung der Kinder, die von der Schule aus kommen sollten, vor dem Bahnhofgebaeude hin und her und winkte mit seinen langen Armen, als er in der Ferne zuerst Wilhelm, dann Karl und Otto auftauchen sah. Er hatte angeordnet, dass nicht alle Kinder die Mutter am Bahnhof begruessen sollten. "Sie ist den Tumult nicht mehr gewoehnt," sagte er, "und soll nicht gleich so ueberfallen werden. Marianne kann uns bis an den Marktplatz entgegenkommen, Frieder bis an die Ecke der Fruehlingsstrasse und Elschen soll die Mutter an der Treppe empfangen, denn etwas Liebes muss auch noch zu Hause sein." So war es denn festgesetzt worden, dass bloss die drei Grossen mit dem Vater an die Bahn kommen sollten, aber bis zum Zug selbst durften auch sie nicht vordringen, das wahrte sich Herr Pfaeffling als alleiniges Vorrecht. Sie standen alle drei spaehend hinter dem eisernen Gitter, waehrend der Zug einfuhr, entdeckten die Mutter schon, als sie noch aus dem Wagenfenster forschend nach ihren Lieben aussah, und bemerkten, wie sich dann ploetzlich ihre Zuege verklaerten, als sie den Vater erblickte, der, dem Schaffner zuvorkommend, die Tuere ausriss und mit froher Begruessung seiner Frau aus dem Wagen half. Mitten im Menschengewuehl und Gedraenge gab es ein glueckliches Wiedersehen und Willkommenheissen und der kleine Trupp schob sich durch die Menge hinaus auf den Bahnhofsplatz. Schwester Mathilde haette zufrieden sein koennen mit ihrem Erfolg, denn die Verwunderung ueber der Mutter frisches, rundliches Aussehen kam zu einstimmigem Ausdruck und haette noch nicht so schnell ein Ende gefunden, wenn nicht Frau Pfaefflings aengstlich klingende Frage dazwischen gekommen waere, ob die Kinder alle und auch Walburg gesund seien. Als sie die Versicherung erhielt, dass sich alle frisch und wohl befaenden wie bei ihrer Abreise, da kam aus erleichtertem Herzen ein dankbares: Gottlob! "Ich habe schon gefuerchtet, da keine Karte kam, es moechte eines von euch krank sein," sagte sie. "Nein, das war nicht der Grund, warum ich nimmer geschrieben habe," entgegnete Herr Pfaeffling und seine Antwort lautete ein wenig bedrueckt. Sie bemerkte es. "Alles andere, was etwa vorgekommen ist, bekuemmert mich gar nicht," sagte sie und drueckte gluecklich die Hand ihres Mannes. Das freute ihn. "Hoert nur, Kinder," sagte er lachend, "die Mutter ist ordentlich leichtsinnig geworden auf der Reise." So kamen sie, froehlich plaudernd, bis zum Marktplatz, wo ganz brav, der Verabredung gemaess, die zwei Schwestern gewartet hatten und jetzt der ueberraschten Mutter jubelnd in die Arme flogen. Nun nahmen diese beiden der Mutter Haende in Beschlag, bis sie an der Ecke der Fruehlingsstrasse von einem andern verdraengt wurden. Dort hatte Frieder gewartet und ausgeschaut, schon eine gute Weile. Aber in dem Augenblick, als die Familie um die Ecke bog, sah er doch gerade in anderer Richtung. "Frieder!" rief ihn die Mutter an. Da wandte er sich. "Mutter, o Mutter!" rief er, drueckte sich an sie und schluchzte. Sie kuesste ihn zaertlich und sagte ihm freundlich: "Warum weinst du denn, mein kleines Dummerle, wir sind ja jetzt wieder beisammen!" "O, du bist so lang, so furchtbar lang fort geblieben!" sagte er, aber die Traenen versiegten schon, verklaert sah er mit noch nassen Augen zu ihr auf, ging dicht neben ihr her und liess ihre Hand nicht los, bis sie, im Hausflur angekommen, wieder beide Arme frei haben musste, um darin die Juengste aufzufangen, die ihr in lauter Freude entgegensprang und schon auf der Treppe mit froehlichem Plappermaeulchen erzaehlte, dass soeben zum Empfang eine Torte geschickt worden sei von Fraeulein Vernagelding, und dass Frau Hartwig einen grossen, grossen Kaffeekuchen gebacken habe. Unter ihrer Kuechentuere stand Walburg und sah noch ernster aus als sonst. Sie hatte die ganze Woche bei Tag und Nacht den Verlust nicht vergessen koennen, an dem nach ihrer Ueberzeugung nur sie allein schuld war. Was konnte man von Kindern erwarten? Auf sie hatte sich Frau Pfaeffling verlassen, ihr hatte sie das Haus uebergeben, und wenn sie nicht die Kleine allein im Stockwerk gelassen haette, so waere kein Unglueck geschehen. Walburg hatte nicht an die Moeglichkeit gedacht, dass Frau Pfaeffling auf dem langen Weg von der Bahn bis zum Haus noch nichts von dem Ereignis erfahren haette. Sie erwartete, dass Frau Pfaefflings erstes Wort ein Vorwurf sein wuerde. Den wollte sie hinnehmen, aber ein anderes Wort fuerchtete sie zu hoeren, das sie schon einmal schwer getroffen hatte, das Wort: "ich will lieber eine, die hoert!" Darum stand sie so starr und stumm, dass Frau Pfaeffling fast an ihr erschrak, als sie nun an der Kuechentuere vorueber kam. Einen Augenblick durchzuckte sie der Gedanke: es ist _doch_ etwas Schlimmes vorgefallen, aber im naechsten Moment sagte sie zu sich selbst: nein, du hast es nur vergessen, wie gross, wie ernst, wie stumm sie ist, und sie reichte dem Maedchen mit herzlichem Gruss die Hand. Walburg hoerte den Gruss nicht, aber den Haendedruck, den freundlichen Blick deutete sie sich als Verzeihung; es wurde ihr leicht ums Herz, die Dankbarkeit loeste ihr die Zunge und ihr Gegengruss schloss mit den Worten: "einen Lohn nehme ich nicht fuer das Vierteljahr." Das waren freilich unverstaendliche Worte fuer Frau Pfaeffling, aber ehe sie noch nach Erklaerung fragen konnte, wurde sie von den Kindern angerufen: "Dein Koffer kommt, wohin soll er gestellt werden?" Sie liess ihn in das Schlafzimmer bringen und nahm aus ihrem Taeschchen ein Geldstueck fuer den Dienstmann. Frieder, der neben ihr stand, sah begierig in den offenen Geldbeutel. "Die Mutter hat noch viel Geld," rief er freudig den Geschwistern zu. "Seit wann fragt denn mein Frieder nach Geld?" sagte Frau Pfaeffling und bemerkte, als sie aufsah, dass die Grossen ihm ein Zeichen machten, still zu sein. Einen Augenblick blieb sie nachdenklich, dann war es ihr klar: am Geld fehlte es. Man hatte zu viel verbraucht in ihrer Abwesenheit, und Walburg machte sich darueber Vorwuerfe. Aber viel konnte das in drei Wochen nicht ausgemacht haben, dadurch sollte kein Schatten auf das Wiedersehen fallen. "Ja, ich habe noch Geld," sagte sie heiter zu den Kindern, "aber nun kommt nur, der Vater wartet ja schon, und der Tisch ist so schoen gedeckt, Walburg hat gewiss etwas Gutes gekocht." Nun standen sie alle um den grossen Esstisch. "Heute betet die Mutter wieder," sagte der Vater, "wir wollen hoeren, was ihr erstes Tischgebet ist." "Ich habe mich schon unterwegs auf diese Stunde gefreut," sagte Frau Pfaeffling und sie sprach mit innerer Bewegung: "Von Dank bewegt, o Gott, wir heute Hier vor dir stehen! Du schenkest uns die schoenste Freude, Das Wiedersehen. Nun gehn wir wieder eng verbunden Durch Lust und Leid, In guten und in boesen Stunden Gib uns Geleit!" Zur Feier des Tages hatte Walburg nach Tisch fuer die Eltern Kaffee machen muessen, im Musikzimmer hatten die Kinder ein Tischchen dazu gedeckt. "Sollen wir den Kaffee gleich bringen?" fragte Marie. "Ja," sagte die Mutter. "Nein, erst wenn ich rufe," fiel Herr Pfaeffling ein und schickte die Kinder hinaus. "Zuerst kommt etwas anderes," sagte er nun zu seiner Frau, "zuerst kommt meine Beichte," und er fuehrte sie an den Schreibtisch und zog die kleine leere Schublade auf, deckte auch das leere Kaesschen auf, in dem sonst das Ersparte lag. Dieser Stand der Dinge war schlimmer, als Frau Pfaeffling gefuerchtet hatte. "Ich habe schon geahnt, dass mit dem Geld etwas nicht in Richtigkeit ist," sagte sie, "aber dass _gar_ nichts mehr da ist, haette ich doch nicht fuer moeglich gehalten, wie _kann_ man denn nur so viel verbrauchen, das braechte ich ja gar nicht zustande!" "Verbrauchen? Nein, verbraucht ist das Geld nicht, wir haben redlich gespart; gestohlen ist es, gestohlen!" Herr Pfaeffling erzaehlte den Hergang und auch, dass er gestern die Nachricht erhalten habe, der Dieb sei wegen mehrerer Schwindeleien festgenommen, aber das Geld habe er verspielt. Es war keine Hoffnung mehr, es zurueck zu erhalten. Aber unentbehrlich war es und musste auf irgend eine Weise wieder hereingebracht werden. Eine lange Beratung folgte zwischen den beiden Gatten. Der Schluss derselben war, dass Herr Pfaeffling lebhaft rief: "Ja, so kann es gelingen, das ist ein guter Plan!" Und froehlich klang sein Ruf hinaus: "Jetzt, Kinder, den Kaffee!" 13. Kapitel Ein fremdes Element. Der gute Plan, den die Eltern ausgesonnen hatten, sollte am naechsten Tag auch den Kindern mitgeteilt werden. "Marianne wird keine Freude daran haben," meinte Frau Pfaeffling. "Nein," entgegnete Herr Pfaeffling, "aber man muss ihnen die Sache nur gleich im rechten Licht darstellen." Er rief die Kinder alle zusammen. "Hoert einmal," sagte er, "wir haben ein Mittel ausfindig gemacht, durch das sich der Geldverlust wieder hereinbringen laesst. Zwei von euch koennen uns allen helfen. Wer sind wohl die zwei Gluecklichen? Ratet einmal!" Sie sahen sich fragend an "Wenn es gerade zwei sind, wird es Marianne sein," schlug Karl vor. "Richtig geraten. Aber wie?" "Wenn sie nicht immer so schoene Kleider und seidene Zopfbaender tragen," meinte Wilhelm. Die Zwillinge musterten sich gegenseitig, und auch die Blicke aller anderen ruhten auf ihnen. Die beiden Maedchen standen da in ihren vertragenen schottischen Kleidern, mit grauen Schuerzen, und ihre blonden Zoepfe waren mit schmalen blauen Baendchen gebunden. "Da werden wir keine grossen Summen heraus sparen koennen," meinte Herr Pfaeffling, "eher koenntet ihr Buben in der Kleidung etwas sparen, wenn ihr eure Anzuege besser schonen wuerdet. Nein, das ist's nicht, wir wissen etwas anderes." "Etwas," setzte Frau Pfaeffling hinzu, "das jeden Monat 20 Mark und noch mehr einbringt." Nun waren sie alle aufs aeusserste gespannt. "Ihr erratet es nicht, ich will es euch sagen," und Herr Pfaeffling wandte sich an die Maedchen: "Ihr Beiden zieht in die Bodenkammer hinauf, dann koennen wir euer Zimmer an einen Zimmerherrn vermieten und schweres Geld dafuer einnehmen. Ist das nicht ein feiner Plan? Das muss euch doch freuen? Die Mutter will alles Geruempel aus der Kammer herausraeumen und eure Betten hineinstellen und im uebrigen duerft ihr alles ganz nach eurem Belieben einrichten; in eurem Reich da oben redet euch niemand darein; aus den alten Kisten koennt ihr Tische machen und Stuehle und was ihr nur wollt." Die Zwillinge hatten zuerst ein wenig bedenkliche Gesichter gemacht, aber zusehends hellten sich diese auf; jetzt nickten sie einander zu und betaetigten: "Ja, es wird sein!" Gleich darauf erbaten sie sich den Kammerschluessel, der sollte in Zukunft auch ihr Eigentum sein und nun sprangen sie die Treppe hinauf in grosser Begleitung. Auch der Vater ging mit, sie aber waren doch die Hauptpersonen. Sie schlossen ihr kuenftiges Revier auf. Es war ein kleines Kaemmerchen mit schraegen Waenden und einem Dachfenster. "Kalt ist's da oben," meinte einer der Brueder. "Aber im Sommer ist's immer ganz warm, das weiss ich noch vom vorigen Jahr," entgegnete Marie. "Da hast du recht," bestaetigte laechelnd der Vater, "und seht nur durch das Fenster, wenn man den Kopf weit hinausstreckt, so hat man die schoenste Aussicht vom ganzen Haus. Und so gut vermacht ist die Kammer, nirgends kann Schnee oder Regen durch; wisst ihr noch, wie Frau von Falkenhausen in ihrer Lebensgeschichte erzaehlt, dass ihr in Afrika der Regen in ihr Haeuschen gedrungen ist, und die Betten wie in einem Teich standen? Und wie eine dicke Schlange durch ein Loch am Fenster herein gekrochen ist? Wie waere sie gluecklich gewesen ueber ein so gutverwahrtes Kaemmerlein! Ja, Kinder, da habt ihr es schon besser." Als sie herunter kamen, waren alle ganz von den guten Eigenschaften der Kammer erfuellt. Es galt nun einen Zimmerherrn zu suchen und sich der Hausleute Erlaubnis zu sichern. Frau Pfaeffling besprach die Sache mit der Hausfrau und diese wiederum mit ihrem Mann. Da stiess die Sache auf Widerstand. Herr Hartwig wollte nichts davon wissen, durchaus nichts. Er meinte, es sei schon reichlich genug, wenn zehn Leute den obern Stock bewohnten und Zimmerherrn seien ihm ganz zuwider. Er habe nie welche gehabt und geduldet. Frau Hartwig legte viel gute Worte ein fuer die Familie Pfaeffling und schilderte ganz ideale Zimmerherrn, aber ihr Mann blieb bei seinem entschiedenen "nein" und sie konnte nicht anders als dieses Frau Pfaeffling mitteilen. "Es tut mir so leid," sagte sie, "aber ich kann nichts machen; mein Mann sagt ja selten 'nein', aber wenn er es einmal gesagt hat, dann bleibt er dabei. Er meint, wenn ein Mann 'nein' gesagt hat, duerfe er nachher nicht mehr 'ja' sagen, sogar wenn er's moechte." Dieser Bescheid war eine grosse Enttaeuschung fuer die Familie. Herr Pfaeffling konnte wieder einmal den Hausherrn nicht begreifen. "Wenn ich sehe, dass jemand nicht auskommt, lasse ich ihn doch lieber sechs Zimmerherrn nehmen, als in Geldnot stecken," rief er, indem er lebhaft den Tisch umkreiste. "Nicht mehr 'ja' sagen duerfen, weil man vorher 'nein' gesagt hat? Soll sich darin die Maennlichkeit zeigen? Dann waere jedes eigensinnige Kind 'maennlich'. Glaubt das nicht, ihr Buben," sagte er, vor Karl stehen bleibend, "ich will euch sagen, was maennlich ist: Nicht nachgeben, wenn es gegen besseres Wissen und Gewissen geht; aber _nachgeben_, sobald man einsieht, dass man falsch oder unrecht geurteilt hat." Als zwei Tage ueber die Sache hingegangen waren, ohne dass mit den Hausleuten weiter darueber gesprochen worden waere, traf Frau Pfaeffling zufaellig oder vielleicht absichtlich mit Herrn Hartwig im Hausflur zusammen. "Es war uns so leid," sagte sie zu ihm, "dass wir keinen Zimmerherrn nehmen durften, denn wir sind durch den Diebstahl ein wenig in die Enge geraten. Aber da Sie einmal 'nein' gesagt haben, moechte ich Sie nicht plagen, und es ist ja wahr, dass manche Zimmerherrn spaet in der Nacht heimkommen, Laerm machen und dergleichen. So muessen wir uns eben jetzt entschliessen, eine aeltere Dame als Zimmermieterin aufzunehmen, da fallen ja alle diese Schattenseiten weg. Es ist nur fuer uns unbequemer und auch schwerer zu finden als ein Zimmerherr. Wenn Sie uns ein wenig behilflich sein moechten, eine passende Hausgenossin zu finden, waeren wir Ihnen recht dankbar. Meinen Sie, wir sollen es in die Zeitung setzen?" "Ja," sagte Herr Hartwig, "das wird am schnellsten zum Ziel fuehren." Sie besprachen noch ein wenig die naeheren Bedingungen und ohne recht zu wissen wie, war Herr Hartwig dazu gekommen, sich selbst um eine elfte Hausbewohnerin fuer den obern Stock zu bemuehen. Das seitherige Zimmer der beiden Maedchen wurde huebsch hergerichtet und sie bezogen ihre Bodenkammer. Ein Inserat in der Zeitung erschien, und nun kamen wieder einmal Tage, in denen sich die Kinder darum stritten, wer die Tuere aufmachen durfte, um etwaigen Liebhaberinnen das Zimmer zu zeigen. Allzuviele erschienen nicht und Frau Pfaeffling musste erfahren, dass die Fruehlingsstrasse "keine Lage" sei. Ihr selbst war auch nicht jede von den wenigen, die sich meldeten, erwuenscht; sie wollte nur das Zimmer vermieten, nicht eine Kostgaengerin an ihrem einfachen Mittagstisch haben, kein fremdes Element in den vertrauten Familienkreis aufnehmen. Aber als auf wiederholte Ankuendigung die Rechte sich nicht finden wollte, wurde Frau Pfaeffling kleinmuetig und sagte zu ihrem Mann: "Mir scheint, wir muessen froh sein, wenn ueberhaupt irgend jemand das Zimmer mietet, ich muss mich entschliessen, auch die Kost zu geben. Aber niemand begnuegt sich heutzutage mit so einfachem Mittagstisch, wie wir ihn haben." "So machst du eben immer besondere Leckerbissen fuer solch eine anspruchsvolle Dame und deckst fuer sie in ihrem eigenen Zimmer, dann stoert sie uns nicht," lautete Herrn Pfaefflings Rat. Drei Tage spaeter bezog Fraeulein Bergmann das Zimmer. Pfaefflings durften sich gluecklich schaetzen ueber diese Mieterin. Sie war eine fein gebildete Dame, etwa Mitte der Vierziger. Erzieherin war sie gewesen, meist im Ausland, hatte vorzuegliche Stellen innegehabt und so viel zurueckgelegt, dass sie sich jetzt, nach etwa fuenfundzwanzig Jahren fleissiger Arbeit, zur Ruhe setzen und von ihrer Rente leben konnte. Sie war gesund und frisch und wollte nun ihre Freiheit geniessen, sich Privatstudien und Liebhabereien widmen, zu denen ihr das Leben bis jetzt wenig Musse gelassen hatte. Was andere Mieter abschreckte, der Kinderreichtum der Familie Pfaeffling, das war fuer sie ein Anziehungspunkt, denn in der Wohnung, die sie zuerst nach dem Austritt aus ihrer letzten Stelle bezogen hatte, war es ihr zu einsam gewesen. Sie hatte es nur kurze Zeit dort ausgehalten und suchte jetzt eine Familie, in der sie mehr Anschluss faende. Mit schwerem Herzen machte ihr Frau Pfaeffling das Zugestaendnis, dass sie am Mittagstisch der Familie teilnehmen duerfe. "Ich konnte es ihr nicht verweigern," sagte sie zu ihrem Mann und fuegte seufzend hinzu: "Urspruenglich wollten wir freilich einen Herrn, der den ganzen Tag fort waere und nun haben wir eine Dame, die den ganzen Tag da ist, aber ich glaube, dass sie keine unangenehme Hausgenossin sein wird." Nach den ersten gemeinsamen Mahlzeiten war die ganze Familie fuer Fraeulein Bergmann eingenommen. Sie war viel in der Welt herumgekommen, wusste in anregender Weise davon zu erzaehlen und interessierte sich doch auch fuer den Familienkreis, in den sie nun eingetreten war. Deutlich war zu bemerken, dass sie sich von Frau Pfaefflings sinnigem Wesen angezogen fuehlte, dass sie Verstaendnis hatte fuer des Hausherrn originelle Lebhaftigkeit und Anerkennung fuer der Kinder Bescheidenheit. Freilich waren auch alle sieben voll Zuvorkommenheit gegen die neue Hausgenossin. Hatte diese doch das Zimmer gemietet trotz der vielen Kinder, und trotzdem die Fruehlingsstrasse "keine Lage" war. Ueberdies floessten ihnen die feinen Umgangsformen und das sichere Auftreten der ehemaligen Erzieherin Achtung ein. So ging anfangs alles aufs beste und waere auch wohl so weiter gegangen, wenn Fraeulein Bergmann nicht das Wort "ehemalig" vergessen haette. Aber es dauerte gar nicht lange, so gewann es den Anschein, als ob sie die Erzieherin der Kinder waere; sie ermahnte und tadelte sie, fragte nach den Schularbeiten, rief die Schwestern zu sich in ihr Zimmer und liess sie unter ihrer Anleitung die Aufgaben machen. Die Maedchen, um deren Arbeiten sich bisher niemand bekuemmert hatte, fanden das vorteilhaft und kamen gerne, auch Frau Pfaeffling war anfangs dankbar dafuer, aber die neue Einrichtung passte doch nicht zum Ganzen. So waren auch eines Nachmittags die beiden Schwestern schon geraume Zeit in Fraeulein Bergmanns Zimmer, als Elschen bescheiden anklopfte. "Marianne soll herueber kommen," richtete sie aus, "es gibt Ausgaenge zu machen." Die Maedchen standen augenblicklich auf, aber Fraeulein Bergmann hielt sie zurueck: "Das eilt doch nicht so," sagte sie, "die Schularbeit geht allem vor, das habe ich allen meinen Zoeglingen eingepraegt. Die Ausgaenge koennten doch auch von dem Dienstmaedchen gemacht werden." "Walburg hat keine Zeit," entgegnete Elschen altklug, "und sie hoert auch nicht genug fuer manche Besorgungen." "Dies taube Maedchen ist in jeder Hinsicht eine ungenuegende Hilfe," sagte Fraeulein Bergmann. "Nun geh nur, Elschen, und bitte deine Mama, sie moechte den Schwestern noch ein halb Stuendchen Zeit goennen." Es dauerte aber noch eine ganze Stunde, bis die Kinder herueberkamen. "Ihr braucht laenger zu den Aufgaben, als wenn ihr allein arbeitet," sagte Frau Pfaeffling aergerlich, "woher kommt denn das?" "Weil Fraeulein Bergmann immer zuerst das alte wiederholt und das neue voraus erklaert. Sie sagt, so koennten wir bald alle Mitschuelerinnen ueberfluegeln, und in der Schule wuerde jedermann staunen ueber unsere Fortschritte." "Das kann sein," entgegnete Frau Pfaeffling, "aber dann haette ich gar keine Hilfe von euch und das geht nicht an, auch ist die Schule zum lernen da und nicht zum prahlen. Nun eilt euch nur, dass ihr nicht in die Dunkelheit kommt mit den Ausgaengen." Sie kamen aber doch erst heim, als es finster war. "Finden Sie das passend?" fragte Fraeulein Bergmann die Mutter, "sollten Sie nicht das Dienstmaedchen schicken?" "Walburg kann nicht alles besorgen." "Nun ja, mit dieser Walburg kann es nicht mehr lange gut tun, wenn sie vollends ganz taub ist, muss sie doch fort." Diese Worte hoerte auch Frieder, und sie gingen ihm zu Herzen. Er suchte Walburg in der Kueche auf und wollte sie sich daraufhin ansehen, ob sie wohl bald ganz taub wuerde? Sie bemerkte seinen forschenden, teilnehmenden Blick. "Willst du mir was?" fragte sie und beugte sich zu ihm. Er zog ihren Kopf ganz zu sich und sagte ihr ins Ohr: "Ich mag Fraeulein Bergmann nicht, magst du sie?" Walburg antwortete ausweichend: "Man muss froh sein, dass man sie hat." Ja, man war froh, dass man sie hatte, und nahm geduldig manche Einmischung hin. Da und dort zeigte sich bald eine kleine Veraenderung im Pfaeffling'schen Haushalt. So am Mittagstisch. Dieser war bisher immer mit einem hellen Wachstuch bedeckt worden. "Ich habe noch ueberall, wo ich war, weisse Tischtuecher getroffen," bemerkte Fraeulein Bergmann. "Vielleicht waren Sie noch nie in einem so einfachen und kinderreichen Haus," entgegnete Frau Pfaeffling, "wir muessen jede unnoetige Arbeit vermeiden und die grossen Tischtuecher machen viel Arbeit in der Waesche." "Aber das Essen mundet besser auf solchen." "Dann will ich ein Tischtuch ausbreiten, es soll Ihnen gut schmecken an unserem Tisch." Kurz darauf beanstandete Fraeulein Bergmann, dass die Tuere zum Nebenzimmer regelmaessig offen stand. "Wir koennen dadurch beide Zimmer mit _einem_ Ofen heizen," erklaerte Frau Pfaeffling. "Aber dann sollten Sie die Tuere aushaengen und eine Portiere anbringen, das wuerde sich sehr fein machen." "Ja gewiss, aber ich habe keine Portiere und auf solche Einkaeufe kann ich mich nicht einlassen. Sie muessen bedenken, dass Sie nun nicht mehr bei reichen Leuten leben, sondern bei solchen, die recht dankbar sind, wenn es nur immer zum taeglichen Brot reicht." "Sie haben recht, ich merke jetzt selbst erst, wie ich verwoehnt bin, und ich habe mich schon oft gewundert, dass Sie so heitern Sinnes auf vieles verzichten, woran Sie gewiss zu Hause gewoehnt waren. Ich weiss, dass Sie aus fein gebildeter Familie stammen." "Vielleicht kann ich mich gerade deshalb leicht in andere Verhaeltnisse schicken. Die aeussere Einfachheit macht mir wirklich nichts aus, mein Glueck ruht auf ganz anderem Grund, Portieren und dergleichen haben damit gar nichts zu tun." Ein paar Tage spaeter brachte Fraeulein Bergmann als Geschenk den Stoff zu einer Portiere, auch den Tapezierer hatte sie bestellt. Die Tueroeffnung wurde nun elegant verkleidet und sah in der Tat huebsch aus, die Kinder standen voll Bewunderung. Aber der schoene Stoff passte nicht so recht zum Ganzen, Fraeulein Bergmann selbst war die erste, die das bemerkte. "Es sehen nun allerdings die Moebelbezuege verblichen aus," sagte sie, "aber ueber kurz oder lang muessten diese doch erneuert werden." Herr Pfaeffling war sehr ueberrascht, als er zum erstenmal durch die Portiere schritt. Sie streifte dem grossen Mann das Haar. Er sah sie missliebig an. "Es ist ein Geschenk von Fraeulein Bergmann," sagte Frau Pfaeffling, "du solltest ihr auch ein Wort des Dankes sagen, wenn sie zu Tisch kommt." "Auch noch danken?" entgegnete Herr Pfaeffling, "ich habe ja gar keinen Sinn fuer so etwas, es faengt nur den Staub auf und stimmt auch nicht zu unserer uebrigen Einfachheit. Fraeulein Bergmann mag sich Portieren in ihr Zimmer haengen so viel sie will, aber unsere Zimmer muessen ihr schoen genug sein, so wie sie sind." Bei Tisch sass er gerade der Portiere gegenueber; sie kam ihm wie etwas Zudringliches, Fremdes vor. Er wollte aber die Hoeflichkeit wahren und sich nichts anmerken lassen. Da kam noch ein kleiner Aerger zum ersten hinzu. Walburg hatte eben die Suppe abgetragen und drei Teller gewechselt. Die Kinder bekamen immer nur _einen_ Teller. "Finden Sie nicht, dass es gegen den Schoenheitssinn verstoesst, wenn die Kinder alles auf einem und demselben Teller essen?" wandte sich Fraeulein Bergmann fragend an Frau Pfaeffling. "Es geschieht eben, um Arbeit zu sparen," antwortete sie, "sieben Teller mehr aufzudecken, abzuwaschen und aufzuraeumen ist schon ein Geschaeft." "So viel koennte diese Walburg wohl noch leisten," entgegnen das Fraeulein, "das ist doch solch eine Kleinigkeit." Da fiel ihr Herr Pfaeffling ungeduldig in die Rede: "Aber ich bitte Sie, geehrtes Fraeulein, meine Frau als Hausfrau muss doch am besten wissen, was in unsere Haushaltung passt oder nicht, und wenn Sie bei uns sind, muessen Sie mit unserer Art vorlieb nehmen." "Gewiss, das tue ich ja auch, es ist mir nur wegen der Kinder leid, zu sehen, wie der Schoenheitssinn so ganz vernachlaessigt wird. Aber ich werde gewiss nicht mehr darein reden, kein Wort mehr." "Ja, darum moechte ich Sie recht freundlich bitten," sagte Herr Pfaeffling, "und uebrigens ist an meiner Frau und ihrem Tun alles ordentlich, schoen und rein und ich moechte durchaus nicht, dass sie sich noch mehr Arbeit macht, und wenn meine Kinder ihr nachschlagen, wird man sie ueberall gern sehen." "Aber bitte, wer bestreitet denn das?" sagte das Fraeulein und fuegte gekraenkt hinzu: "Ich schweige ja schon!" Der Schluss der Mahlzeit verlief in unbehaglicher Stille, und sobald das Essen vorueber war, zog sich Fraeulein Bergmann zurueck. "Sie ist beleidigt," fluesterte bekuemmert eines der Maedchen dem andern zu. "Das ist nur ihre eigene Schuld," behaupteten die Brueder, "warum mischt sie sich ein!" "Aber es ist doch wahr, dass Teller schnell abgewaschen sind!" "Nein, es ist nicht wahr. Ihr glaubt alles, was Fraeulein Bergmann sagt und haltet gar nicht zur Mutter!" Dieser Vorwurf kraenkte die Schwestern tief, sie weinten beide. Herr Pfaeffling bemerkte es: "Sie macht uns auch noch die Kinder uneins," sagte er zu seiner Frau. Die beruhigte ihn: "Fraeulein Bergmann wird sich jetzt schon besser in acht nehmen, wenigstens in deiner Gegenwart, und mir ist ihr Dareinreden nicht so unangenehm, man macht doch seine Sache nicht vollkommen und da ist es gar nicht uebel, einmal zu erfahren, wie andere darueber urteilen. Sie hat auch viel mehr von der Welt gesehen als ich." Mit Frau Pfaeffling verstand sich Fraeulein Bergmann am besten. Die beiden Frauen standen eines Morgens vor dem Buecherschrank, Fraeulein Bergmann machte von der Erlaubnis Gebrauch, sich ein Buch auszuwaehlen. "Es ist merkwuerdig," sagte sie, "wie langsam der Tag vergeht, wenn man keinen eigentlichen Beruf hat! Seit Jahren habe ich mich gefreut auf diese Zeit der Freiheit, habe mich in meinen Stellen gesehnt, so recht nach Herzenslust lesen, zeichnen, studieren zu koennen, und nun, seitdem ich Musse dazu habe, so viel ich nur will, hat es seinen Reiz verloren." Frau Pfaeffling sagte nach einigem Besinnen: "Ob es Sie wohl befriedigen wuerde, wenn Sie sich an gemeinnuetziger Arbeit beteiligten? Es gibt hier manche wirklich nuetzliche Vereine." "Nein, nein," wehrte Fraeulein Bergmann lebhaft ab, "dazu passe ich gar nicht. Ich werde mich schon allmaehlich zurecht finden in meiner veraenderten Lebenslage. Haben Sie ein wenig Geduld mit mir, ich fuehle selbst, dass ich unausstehlich bin." Frau Pfaeffling uebte Geduld, aber manchmal hatte sie den Eindruck, dass Fraeulein Bergmann im Vertrauen auf diese Nachsicht sich immer mehr Kritik und Einmischung gestattete. Es war kein schoener Monat, dieser Maerz! Draussen in der Natur wollte sich kein Fruehlingslueftchen regen, ein kalter Ostwind hielt alles zurueck und brachte Erkaeltungen mancherlei Art in die Familie. Nach Fraeulein Bergmanns Ansicht waren all diese kleinen Uebelbefinden selbst verschuldet, sie behauptete, solches bei ihren Zoeglingen durch sorgfaeltige Aufsicht immer verhuetet zu haben. "Heute steht Fruehlingsanfang im Kalender," sagte Karl am 21. Maerz, "weisst du noch, Vater, heute vor einem Jahr bist du mit uns allen sieben ausgezogen, Veilchen zu suchen und Palmkaetzchen heim zu bringen. Aber dieses Jahr ist es so kalt." "Ja, voriges Jahr war es viel schoener," darin stimmten alle ueberein, schoener war es draussen gewesen, schoener auch im friedlich geschlossenen Familienkreis. Sie sassen wieder einmal an dem weiss gedeckten Mittagstisch, nachdem Herr Pfaeffling sich die Fransen der Portiere hatte durch die Haare streichen lassen, und seine Frau ein Tischgebet gesprochen hatte. "Wie wunderlich," begann Fraeulein Bergmann, "dass Sie nicht ein feststehendes Tischgebet haben! Das ist mir noch in keinem Haus vorgekommen. Das heutige hat kein gutes Versmass. Wie vielerlei haben Sie eigentlich?" "Eine ganze Sammlung," sagte Frau Pfaeffling. "Ich denke, dass man leichter mit dem Herzen und den Gedanken bei dem Tischgebet ist, wenn es nicht jeden Tag das gleiche ist, und mir tut es immer leid, wenn ein Gebet gedankenlos gesprochen wird." "Ach, das koennen Sie doch nicht aendern. Ich bin nicht fuer solche Neuerungen. Das Tischgebet ist eben eine Form, weiter nichts." Nun war es mit Herrn Pfaefflings Geduld schon wieder zu Ende. "Aber meiner Frau liegt daran, in diese Form einen Inhalt zu giessen," sagte er lebhaft, "und wenn Sie lieber die leere Form haben, so brauchen Sie ja auf den Inhalt nicht zu horchen." "Aber, lieber Mann," sagte Frau Pfaeffling und legte beschwichtigend ihre Hand auf seine trommelnde, "Fraeulein Bergmann hat das gar nicht schlimm gemeint!" "Dann meine ich es auch nicht schlimm," sagte Herr Pfaeffling beguetigend. Im Weiteren verlief die Mahlzeit friedlich, wenn auch einsilbig. Aber nach Tisch rief Herr Pfaeffling seine Frau zu sich in das Musikzimmer. "Das ist ein unleidlicher Zustand," begann er, "dieses Frauenzimmer ist die verkoerperte Dissonanz und stoert jegliche Harmonie im Hause. So etwas kann ich nicht vertragen. Tu mir's zuliebe und mache der Sache ein Ende. Wir finden wohl auch wieder eine andere Mieterin." "Aber nach so kurzer Zeit ihr schon die Tuere weisen, das tut mir doch leid fuer sie, wie soll ich denn das machen?" "Ganz wie du willst, du bringst das schon zustande, ohne sie zu kraenken. Aber je eher, je lieber, nicht wahr? Kannst du nicht gleich hinueber und mit ihr reden? Vielleicht ginge sie dann schon morgen!" "Nein, so ploetzlich laesst sich das doch nicht machen, bis zum 1. April musst du dich schon noch gedulden!" sagte Frau Pfaeffling, und waehrend sie ihrer Arbeit nachging, ueberlegte sie, wie sie die Kuendigung schonend begruenden koennte. Fraeulein Bergmann tat ihr leid, aber die Ruecksicht auf ihren Mann, auf Harmonie und Frieden im Hause musste doch vorgehen. Noch am selben Nachmittag kam ihr ein Umstand zu Hilfe. Fraeulein Bergmann suchte sie auf und bat sie, in ihr Zimmer zu kommen. Auf dem Tisch lagen Papiere ausgebreitet. "Ich moechte Ihnen etwas zeigen," sagte das Fraeulein, "hier habe ich die Zeugnisse von meinen letzten Stellen hervorgesucht, moechten Sie diese nicht lesen? Ich muss Ihnen sagen, dass ich mich ordentlich schaeme ueber die Zurechtweisung, die ich heute mittag erfahren habe; so etwas ist mir nicht vorgekommen in den vielen Jahren, die ich in Stellung war. Aber ich fuehle ja selbst, dass ich unleidlich bin; was ist es denn nur? Ich war doch sonst nicht so, bitte, lesen Sie!" Fraeulein Bergmann hatte als stellvertretende Hausfrau und Mutter viele Jahre in ein und demselben Haus zugebracht und neben ihrer Tuechtigkeit war in den Zeugnissen ausdruecklich ihre Liebenswuerdigkeit, ihr Takt hervorgehoben. Indem Frau Pfaeffling dieses las und ueberdachte, kam ihr ploetzlich die Erklaerung dieses Widerspruches und der Gedanke, wie Fraeulein Bergmann wieder in das richtige Geleise zu bringen waere. "Ich glaube, Sie haben sich viel zu fruehe in den Ruhestand begeben, und das ist wohl der Grund fuer Ihre 'Unausstehlichkeit', wie Sie es nennen. Sie stehen im gleichen Alter wie mein Mann; wie kaeme es Ihnen vor, wenn er schon aufhoeren wollte, in seinem Beruf zu wirken? Er will erst noch sein Bestes leisten, und so stehen auch Sie noch in der vollen Kraft, und haben eine reiche Lebenserfahrung dazu. Sie koennten ein ganzes Hauswesen leiten, eine Schar Kinder erziehen, und wollen hier in einem Stuebchen hinter den Buechern sitzen! Das ertragen Sie einfach nicht und das wird wohl der Grund sein, warum Sie nun in unser Hauswesen unberufen eingreifen. Ihre besten Kraefte liegen brach! Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, so ist es der: Suchen Sie wieder eine Stelle, und zwar eine solche, die Sie vollauf in Anspruch nimmt!" Fraeulein Bergmann hatte nachdenklich zugehoert. "Ja," sagte sie jetzt, "so wird es wohl sein. Ich kann die Untaetigkeit nicht ertragen. Dass Sie mir noch solch eine Leistungsfaehigkeit zutrauen, das freut mich. Nur schaeme ich mich vor all meinen Bekannten, denen ich mit Stolz meinen Entschluss mitgeteilt habe, zu privatisieren. Es war mir damals eine verlockende Stelle als Hausdame angetragen, ich habe sie abgelehnt." "Ist sie wohl schon besetzt?" "Vielleicht nicht. Es hiess, der Eintritt koenne auch erst spaeter erfolgen." "Wollen Sie sich nicht darnach erkundigen?" "Nachdem ich die Stelle so stolz abgewiesen habe? Allerdings haette ich keine passendere finden koennen. Meinen Sie, ich soll schreiben?" "ueberlegen Sie es sich noch, lassen Sie eine Nacht darueber hingehen." Eine halbe Stunde spaeter hoerte man Fraeulein Bergmann mit eiligen, elastischen Schritten die Treppe hinuntergehen, nach der Post. "Ich bin Fraeulein Bergmann begegnet," sagte Wilhelm, der eben heimkam, "sie ist gesprungen wie ein Wiesel und hat mir ganz fidel zugenickt; warum sie wohl gerade heute so vergnuegt ist?" Mit der Stelle kam es nach einigem Hin- und Herschreiben in Richtigkeit. Schon zum 1. April sollte Fraeulein Bergmann sie antreten. Das letzte gemeinsame Mittagsmahl war vorueber, die Kinder freuten sich unten, im Freien, der langersehnten warmen Fruehlingsluft, Frau Pfaeffling war mit der Sorge um das Gepaeck der Reisenden beschaeftigt, diese sass allein noch mit Herrn Pfaeffling am Esstisch. "Wenn ich einmal alt und pflegebeduerftig bin," begann Fraeulein Bergmann, "dann frage ich wieder an, ob Sie mich aufnehmen moechten in Ihr Haus. Ich kenne niemand, dem ich mich in hilfloser Lage so gern anvertrauen moechte, als Ihrer lieben Frau und den seelenguten Zwillingsschwestern. Dann duerften Sie ja keine Angst mehr haben vor meiner kritischen Art." Herr Pfaeffling, der nach seiner Gewohnheit um den Tisch gewandelt war, machte jetzt Halt und sagte: "Die Kritik ist ja sehr viel wert, wenn sie nicht bloss aus schlechter Laune entspringt. Solange Sie _alles_ tadelten, wehrte ich mich dagegen, aber jetzt, wo wir in friedlicher Stimmung auseinandergehen, jetzt wuerde ich auf Ihr Urteil viel geben. Sie sagten neulich, es sei alles unschoen und unfein bei uns--" "Nein," fiel sie ihm ins Wort, "so sagte ich doch nicht und ueberdies wissen Sie wohl, dass alles nur aus einer gewissen Streitlust gesprochen war." "Aber etwas Wahres lag doch wohl Ihren Aeusserungen zugrunde. Moechten Sie mir nicht sagen, was Ihnen unschoen erscheint in unserem Hauswesen, unseren Gewohnheiten?" Fraeulein Bergmann ueberlegte. "Ich kann meine Behauptung wirklich nicht aufrecht erhalten," und mit einem gutmuetigen, aber doch ein wenig spoettischen Laecheln fuegte sie hinzu: "Unschoen ist eigentlich nur _eines_." "Und zwar?" "Darf ich es sagen? Nun denn: unschoen kommt mir vor, wenn Sie so wie jetzt eben im Laufschritt den Tisch umkreisen, an dem man sitzt." Herr Pfaeffling hielt betroffen mitten in seinem Lauf inne. "Ihr Wilhelm faengt das naemlich auch schon an," fuhr sie fort, "haben Sie es noch nicht bemerkt? Neulich lief er ganz in Ihrem Schritt hinter Ihnen, immer die gleiche Entfernung einhaltend, wahrscheinlich um einen Zusammenstoss zu vermeiden, da Sie oft mit einem ploetzlichen Ruck stehenbleiben. Es war sehr drollig anzusehen, nur wurde mir schwindelig dabei." "Das begreife ich!" sagte Herr Pfaeffling, "und wenn mir schliesslich alle Kinder folgen wuerden wie ein Kometenschweif, so ginge das zu weit. Ich werde es mir abgewoehnen, sofort und mit aller Energie. Wie man nur zu solchen uebeln Gewohnheiten kommt?" Er versank in Gedanken darueber--und nahm seinen Lauf um den Tisch wieder auf. Fraeulein Bergmann verliess laechelnd das Zimmer. Im Vorplatz uebergab Frau Pfaeffling den vollgepackten Handkoffer an Walburg. "Ist er nicht zu schwer?" fragte sie. "O nein," entgegnete Walburg in ungewoehnlich lebhaftem Ton, "ich trage ihn _gern_ fort." Hatte sie auch nie die unfreundlichen Aeusserungen gehoert, die Fraeulein Bergmann ueber sie tat, so hatte sie doch in ihr eine Feindin gewittert und war froh, dass diese so unerwartet schnell abzog. Warum, wusste sie nicht, fragte auch nicht darnach, es genuegte ihr, dass offenbar niemand ungluecklich darueber war, Marianne vielleicht ausgenommen, aber die wuerde sich bald troesten, und eine neue Mieterin konnte sich nach Ostern finden. Frau Pfaeffling begleitete die Reifende und Elschen durfte diesmal mit zur Bahn. Die kleine Reisegesellschaft war kaum zur Haustuere hinaus, als Herr Pfaeffling seine drei Grossen herbeirief: "Nun helft mir die Portiere abnehmen, dass man wieder Luft und Licht hat und frei durch die Tuere kann. Aber vorsichtig, die Mutter sagt, sie koenne den schoenen Stoff gut verwenden!" So standen sie bald zu viert auf Tisch und Stuehlen und hantierten lustig darauf los, als heftig geklingelt wurde und gleichzeitig durch das offene Fenster von der Strasse herauf Elschens Stimme ertoente, die nach den Bruedern rief. Otto sah durchs Fenster und fuhr blitzschnell wieder herein: "Fraeulein Bergmann hat ihren Schirm vergessen, sie kommt selbst herauf!" "Geht hinaus, lasst sie nicht herein," rief Herr Pfaeffling, "den schmerzlichen Anblick soll sie nicht erleben!" Draussen hoerte man auch schon ihre Stimme: "Ich muss den Schirm im Esszimmer abgestellt haben." Richtig, da stand er in der Ecke! Wilhelm erfasste ihn, blitzschnell rannte er durch die Tuere und konnte diese gerade noch hinter sich schliessen und Fraeulein Bergmann den Schirm hinreichen. Sie hatte nichts gesehen und eilte davon. "Wenn sie nun zu spaet zum Zug kommt und wieder umkehrt!" sagte Herr Pfaeffling ueberlegend und sah nach der Portiere, die, halb oben, halb unten, einen traurigen Anblick bot. "Wir haetten eigentlich warten koennen bis morgen." Nun blieb aber keine Wahl mehr, das Werk musste vollendet werden; bald sah alles im Haus Pfaeffling wieder aus wie vorher; Fraeulein Bergmann kam nicht wieder, das fremde Element war ausgeschieden, Frau Pfaeffling kehrte mit Elschen allein zurueck. "Sie laesst euch alle noch gruessen," berichtete sie, "ihr letztes Wort war: 'Vielleicht kann ich Ihnen auch einmal ein schoenes Tischgebet schicken!'" Herr Pfaeffling war in froehlicher Stimmung. "Kommt, Kinder," rief er, "wir singen einmal wieder zusammen, wie lange sind wir nimmer dazu gekommen." Er stimmte ein Fruehlingslied an, und dass es so besonders frisch und froehlich klang, das war Fraeulein Bergmann zu danken! 14. Kapitel Wir nehmen Abschied. Frau Pfaefflings Bruder wurde noch vor Beginn der Osterferien erwartet, und das leere Zimmer war fuer ihn als Gastzimmer gerichtet. Keines der Kinder ahnte etwas davon, dass der Onkel bei seinem Besuch sie kennen lernen und darnach beschliessen wolle, welches von ihnen er heimwaerts mit sich nehmen wuerde. Sie wussten nur, dass die Mutter ihren einzigen, innig geliebten Bruder erwartete, und freuten sich alle auf den seltenen Gast. Die drei Grossen hatten auch noch aus ihrer fruehesten Kindheit eine schoene Erinnerung daran, wie Onkel und Tante gekommen waren und durch schoene Geschenke ihre Herzen gewonnen hatten. Herr Pfaeffling billigte den Plan, der am achtzigsten Geburtstag gefasst worden war. Er kannte die Verwandten seiner Frau und schaetzte sie hoch, auch war es ihm klar, dass in dem Haushalt seines Schwagers dem einzelnen Kind mehr Aufmerksamkeit zuteil werden konnte als in der eigenen Familie. Doch wollte er den Aufenthalt nur fuer ein oder hoechstens zwei Jahre festsetzen, damit keines der Kinder dem Geist des Elternhauses entfremdet wuerde. Einstweilen war das Wintersemester zu Ende gegangen, und was waehrend desselben geleistet worden, sollte sich heute in den Osterzeugnissen zeigen. In einem der grossen Gaenge des Gymnasiums wartete Karl auf seinen Bruder Wilhelm, dessen Zeugnis war ihm diesmal so wichtig wie sein eigenes. Doch nur fuer die Mathematiknote interessierte er sich. Wenn diese nicht besser ausfiel als das letzte Mal, dann stund es schlimm um Wilhelm, schlimm auch um die Ferienfreude. Nachhilfestunden zu geben war nicht Karls Liebhaberei, der junge Lehrer und der Schueler haetten sie gleich gerne los gehabt. Darum strebten die Brueder gleich aufeinander zu, als die Klassentuere sich auftat und die Schueler herausdraengten. Ueber der andern Koepfe weg reichte Wilhelm schon von der Ferne Karl sein Zeugnis hin und dieser las: Mathematik III. Ueber diese Note, die wohl schon manchem Schuler Kummer bereitet hat, waren unsere beiden hochbefriedigt und beschlossen, rasch nach der Musikschule zu rennen, um den Vater noch zu erreichen und mit ihm heimzugehen. Das gelang ihnen auch. Als er die Jungen mit den bekannten blauen Heftchen auf sich zuspringen sah, wusste er schon, dass es Gutes bedeute. "Diesmal ist wohl keine Durchschnittsnote noetig?" fragte er und ueberblickte das Zeugnis, und war zufrieden. Aber eben nur zufrieden. Die Brueder waren enttaeuscht, nach ihrer Meinung haette der Vater viel vergnuegter sein muessen. "Hast du noch etwas Besseres erwartet, Vater?" fragten sie. "Nein, aber ich traue noch nicht recht. Nach drei kommt vier, da sind wir noch in gefaehrlicher Nachbarschaft. Ich weiss wohl, warum ihr so vergnuegt seid, ihr meint, die Nachhilfstunden seien nun ueberfluessig, aber ganz kann ich euch noch nicht davon entbinden, Wilhelm koennte sonst gleich wieder rueckfaellig werden. Sagen wir _einmal_ statt zweimal in der Woche." Sie machten lange Gesichter. "Und in den Osterferien gar keine, zum Lohn fuer den Erfolg," fuegte der Vater hinzu. Da heiterten sich die Gesichter auf. Wenn man nur wenigstens in den Ferien frei war, im Schuljahr wurde doch immer gelernt, da ging das mehr in einem hin. Und uebermorgen war ja der erste Ferientag! Sie waren schon wieder vergnuegt und kamen in gluecklicher Ferienstimmung nach Hause, wo die Schwestern begierig auf die Zeugnisse warteten und diesmal mit Lust saemtliche Heftchen auf des Vaters Tisch ausbreiteten. "Was wohl unsere Kleine einmal heim bringt?" sagte Karl, als ersah, wie Elschen ernsthaft die Zeugnisse betrachtete und sich bemuehte, die geheimnisvollen Ziffern zu deuten. "Ich bringe lauter Einser," antwortete sie zuversichtlich. Aber diesen Uebermut hatte sie zu bereuen. "So?" rief Otto, "so sage einmal, was a plus b ist? Das weisst du nicht einmal? Da bekommst du unbedingt einen Vierer." Von allen Seiten kamen nun solch verfaengliche Fragen und es wurden ihr lauter Vierer prophezeit, bis ihr angst und bang wurde, sie sich zu Frieder fluechtete und sagte: "Du gibst mir dann jeden Tag Mathematikstunden!" Die Noten der Schwestern waren gut ausgefallen. Drei Wochen lang hatten sie eine richtige Hauslehrerin gehabt, dadurch waren sie in guten Zug gekommen. Sie schrieben an Fraeulein Bergmann eine schoene Karte. Herr Pfaeffling unterschrieb die Zeugnisse, und als er das von Frieder in Haenden hatte und sah, dass es besser war als die frueheren, trat ihm wieder das Bild vor die Seele, wie der Kleine ihm die verhuellte Violine mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes uebergeben hatte. Er war seitdem ein gewissenhafter und geschickter Klavierspieler geworden, aber die Liebe, die er zu seiner Violine und auch zu der Harmonika gehabt hatte, die brachte er dem Klavier nicht entgegen, mit dem Herzen war er nicht dabei. Mit keinem Wort hatte das Kind je wieder die Violine erwaehnt. Ob sie ihm wohl noch immer ein schmerzliches Entbehren war? Der Vater haette es gerne gewusst, und als am Abend, nach der Klavierstunde, der kleine Spieler seine Musikhefte beiseite raeumte, redete er ihn darauf an. "Frieder, macht dir das Klavierspielen jetzt auch Freude? Tut es dir nicht mehr so leid, dass du deine Geige nimmer hast?" Ein tiefernstes Gesicht machte das Kind, als diese Wunde beruehrt wurde, dann antwortete er leise: "Ich moechte sie gar nicht mehr haben." "Warum nicht, Frieder? Komm, sage du mir das!" "Weil ich nicht aufhoeren kann, wenn ich angefangen habe, zu spielen." "Du _kannst_ nicht, Frieder? Du _willst_ nur nicht, weil es dir schwer faellt; aber siehst du nicht, dass wir alle aufhoeren, wenn wir muessen? Meinst du, ich moechte nicht lieber selbst weiter spielen, als Fraeulein Vernagelding Stunde geben, wenn sie jetzt kommt? Meinst du, die Mutter moechte, wenn sie nach Tisch in ihren schoenen Buechern liest, nicht lieber weiterlesen als schon nach einer halben Stunde wieder das Buch aus der Hand legen und die Struempfe stopfen? Und die grossen Brueder moechten nicht lieber auf den Balken turnen als ihre Aufgaben machen? Und die Schwalben unter unserem Dach moechten nicht lieber fuer sich selbst Futter auspicken als ausfliegen und ihre Jungen fuettern, wie es der liebe Gott angeordnet hat? Und der Frieder Pfaeffling will allein dastehen auf der Welt und sagen: 'Ich kann nicht aufhoeren'? Nein, der muesste sich ja schaemen vor den Tierlein, vor den Menschen, vor dem lieben Gott muesste er sich schaemen!" "Ich kann auch aufhoeren," sagte Frieder, "bei allem andern, nur beim Geigen nicht." "Da gibt es keine Ausnahmen, Frieder, wer einen festen Willen hat, kann mitten im Geigenstrich aufhoeren und das musst du auch lernen. Gib dir Muehe, und wenn du dann fuehlst, dass du einen festen Willen hast, so sage es mir, dann will ich dir jeden Sonntag fuer eine Stunde deine Geige geben." Da leuchtete es in Frieders Gesicht, und nach dem grossen Schrank deutend, der in der Ecke des Musikzimmers stand, sagte er mit zaertlichem Ton: "Da innen ist sie!" "Ja, da ist sie und wartet, ob ihr kleiner Freund bald einen festen Willen bekommt und sie erloest aus der Einsamkeit. Aber nun geh, Kind; Fraeulein Vernagelding ist im Vorplatz, ich hoere sie schon lange plaudern mit Marianne, ich weiss nicht, warum sie nicht herein kommt." Unser Musiklehrer oeffnete die Tuere nach dem Vorplatz, die drei plaudernden Maedchen fuhren auseinander, Fraeulein Vernagelding kam zur Stunde. Noch rosiger und laechelnder erschien sie als sonst, und hatte solch eine wichtige Neuigkeit unter vielem Erroeten mitzuteilen! Die Karten waren ja schon in der Druckerei, auf denen zu lesen stand, dass Fraeulein Vernagelding Braut war! Solch einen schoenen, jungen, reichen, blonden Bankier hatte sie zum Braeutigam! Aber unmusikalisch war er leider sehr, denn obwohl sie ihm vorgespielt hatte, war er doch der Meinung, sie solle nicht mehr Klavier spielen. "Graemen Sie sich darueber nicht," sagte Herr Pfaeffling zu seiner Schuelerin, "vielleicht ist er sogar sehr musikalisch." "Meinen Sie?" fragte Fraeulein Vernagelding, "das waere schoen! Und nicht wahr, wenn ich auch nicht mehr zur Stunde komme, bleiben wir doch gute Freunde und Ihre Fraeulein Toechter muessen zu meiner Hochzeit kommen. Das gibt zwei suesse Brautfraeulein!" "Meine Toechter?" fragte Herr Pfaeffling verwundert. "Sie meinen die Marianne? Das sind doch keine Brautfraeulein? Da muessen Sie mit meiner Frau sprechen."-- Der Tag war gekommen, an dem Frau Pfaefflings Bruder eintreffen sollte. Alle Haende hatten sich fleissig geruehrt, um fuer das Osterfest und zugleich fuer den Gast das Haus festlich zu bereiten. Die letzten Spuren des langen Winters waren mit den trueben Doppelfenstern, mit Kohleneimern und Ofenruss aus den Zimmern verschwunden, die Fruehlingssonne durfte die hintersten Winkel bestrahlen, Walburg brauchte die Pruefung nicht zu fuerchten, alles war blank und rein. Eine muehevolle Zeit war das gewesen, aber nun war sie gluecklich ueberstanden, Feststimmung breitete sich schon ueber das Haus und heute sollte der Gast ankommen. "Die Mutter sieht so aus wie am heiligen Abend vor der Bescherung," sagte Karl, als die beiden Eltern miteinander zum Bahnhof gingen. Ja, Frau Pfaeffling freute sich innig. War das Zusammensein mit dem Bruder in der alten Heimat schoen gewesen, so musste es doch noch viel beglueckender sein, ihn im eigenen Familienkreis zu haben. Die Kinder daheim berieten, wie sie den Onkel empfangen, ob sie ihm alle miteinander entgegenkommen sollten? Sie entschieden sich aber dagegen, er war nicht an so viele Kinder gewoehnt, sie wollten sich verteilen und nur allmaehlich erscheinen, damit es keinen Laerm und kein Gedraenge gaebe. Als es Zeit war, standen sie alle an den Fenstern des Wohnzimmers und sahen begierig die Strasse hinunter. Da tauchten schon die drei Gestalten auf, und jetzt waren sie deutlich zu erkennen. Der Onkel, fast einen Kopf kleiner als der Vater, ganz aehnlich der Mutter, nur nicht so schmal. Fein sah er aus im eleganten Reiseanzug und dass er eine voll gepackte Ledertasche in der Hand hatte, wurde von Elschen besonders hervorgehoben. Nun mussten auch die Kinder bemerkt worden sein, denn der Onkel winkte mit der Hand herauf, ja er schwenkte sogar den Hut als Gruss. Das machte einen gewinnenden Eindruck. "Wir springen doch entgegen, der ist gar nicht so!" sagte Wilhelm. "Nein, der ist nicht so," entschied der ganze Chor. Die sieben Kinderkoepfe verschwanden vom Fenster, und vierzehn Fuesse trabten die Treppe hinunter. "Die Treppe ist frisch geoelt," rief Marie, "geht an der Seite, dass sie in der Mitte schoen bleibt!" Nun kam die Begruessung. Man war sich unbekannt und doch nicht fremd. Die Kinder beruehrte es merkwuerdig, dass der Onkel der Mutter so aehnlich war, in den Zuegen, in der Stimme und der Aussprache. Zutraulich begruessten sie ihn, und auch er fand in ihnen lauter verwandte Gesichter, die einen seiner Schwester, die andern seinem Schwager aehnlich. "Nun gebt die Treppe frei, Kinder," draengte Herr Pfaeffling, "wir wollen den Onkel doch auch hinauf lassen." Sie machten Platz, und liessen den Gast voran gehen. Auf halber Treppe sah er zurueck nach dem jungen Gefolge. "Wie komisch sie alle an der Seite gehen," bemerkte er zu der Mutter. "Damit die Treppe in der Mitte geschont wird." "Ah so!" sagte der Professor und sah sichtlich belustigt zurueck. "Caecilie, nun kenne ich deine Kinder schon. Die heisst du ungehobelt?" Droben, im Wohnzimmer, war der Mittagstisch gedeckt. "Was fuer eine stattliche Tafel!" rief der Gast, und dann sah er erstaunt auf die ungewoehnlich grosse Gestalt Walburgs, die stumm die Suppe auftrug. "Ihr habt euch wohl eine besonders kraeftige Magd ausgesucht fuer eure grossen Schuesseln?" sagte er spassend zu den Kindern, "ist das die treue, stumme Dienerin? Wie schade um das Maedchen!" "Es wird aber nicht mehr schlimmer bei ihr, Onkel," versicherte Marie, "ich war mit ihr beim Arzt, er sagt, es kann sogar eher ein wenig besser werden." Sie sammelten sich um den Tisch. "Mutter," bat Wilhelm, "du hast einmal ein Tischgebet gewusst, das muesste heute gut passen und dem Onkel gefallen, es kommt etwas vom vielverheissenden Tisch vor, weisst du nicht, welches ich meine?" Frau Pfaeffling wusste es wohl und sprach es: In groesserem Kreise stehen wir heute Am Gutes verheissenden festlichen Tisch. Aber die richtige froehliche Stimmung Die musst auch heute Du, Herr, uns geben. Nahe dich freundlich jedem von uns. Drei Tage blieb der Onkel im Haus und beobachtete oft im stillen seine Neffen und Nichten. Er hatte ihnen ein Spiel mitgebracht, an dem sich alle beteiligen konnten. "Ich will es den Kindern lehren," sagte er, "die meinigen haben es auch, es ist ein Tischcroquet, ein nettes Spiel, bei dem es nur leider gar zu leicht Streit gibt unter den Spielern." Sie machten sich mit Eifer daran und trieben es taeglich fast mit Leidenschaft. Sie achteten dabei nicht auf den Onkel, der, hinter der Zeitung sitzend, seine Beobachtungen machte. "Wir muessen die zwei Parteien so einteilen, dass die guten und schlechten Spieler gleichmaessig verteilt sind," sagte Karl. "Nimm du Frieder auf deine Seite, Wilhelm, der ist am ungeschicktesten, und ich will Anne auf meine Partei nehmen, sonst koennen die nie gewinnen." So war es allen recht und das Spiel auf seinem Hoehepunkt, als Frau Pfaeffling hereinkam. "Kinder," sagte sie, "Walburg hat wieder kein Holz, lasst euch doch nicht immer mahnen." Schuldbewusst legten zwei der Spieler ihre Schlaeger aus der Hand und gingen hinaus. Der Onkel sah aufmerksam hinter seiner Zeitung hervor. Das Wort: "Lasst euch doch nicht mahnen" schien noch weiter zu wirken. "Hat jemand des Vaters Brief auf die Post getragen?" fragte Marie. Niemand meldete sich. "Das koenntest du besorgen, Frieder," sagte die Schwester, "Elschen geht mit dir." So entfernten sich auch diese Beiden. Die andern spielten weiter, Frau Pfaeffling setzte sich ein wenig zu ihrem Bruder. Sie sprachen halblaut zusammen. "Es ist ruehrend," sagte der Bruder, "wie sich diese Lateinschueler so selbstverstaendlich zum Holztragen verpflichtet fuehlen und ohne Widerspruch das Spiel aufgeben. Das taete meiner nie, wie hast du ihnen das beigebracht?" "Das bringen die einfachen Verhaeltnisse ganz von selbst mit sich. Die Kinder sehen, wie Walburg und ich uns plagen und doch nicht fertig werden, so helfen sie mit." "Mir, als dem Juristen, ist wirklich euer kleiner Staat interessant und ich sehe ordentlich, wie aus solcher Familie tuechtige Staatsbuerger hervorgehen. Wie die Starken sich da um die Schwachen annehmen, wie sie ihr eigenes Ich dem allgemeinen Ganzen unterordnen und welche Liebe und widerspruchslosen Gehorsam sie den Eltern als dem Staatsoberhaupt entgegenbringen, wohl in dem Gefuehl, dass sonst das ganze System in Unordnung geriete. Dazu kommt auch noch, dass dein Mann ein so leutseliger Herrscher ist und du bist sein verantwortlicher Minister. Das muss ich dir sagen, wenn ich nun eines eurer Kinder zu mir nehme, in ein so geordnetes Staatswesen kann ich es nicht versetzen." Die Kinder hatten nicht auf das leise gefuehrte Gespraech gehorcht; was kuemmerte sie, wenn vom Staat die Rede war? Aber die letzte Bemerkung des Onkels, die traf Maries Ohr, die erfasste sie. "Wenn ich eines eurer Kinder zu mir nehme," hatte er gesagt. Sie haette es offenbar nicht hoeren sollen, es war nur halblaut gesprochen. Zunaechst liess sie sich nichts anmerken, aber lange konnte sie diese Neuigkeit nicht bei sich behalten. Nach Tisch fanden sich die Geschwister alle unten am Balkenplatz zusammen. Dort konnte man sich aussprechen und Marie vertraute ihnen an, was sie gehoert hatte. Das ganze Trueppchen stand dicht zusammengedraengt und besprach in lebhafter Erregung die Moeglichkeit, fortzukommen. Verlockend war das Neue, lieb war das Alte. Wer ginge gern, wer ungern? Sie waren zweifelhaft. Wen wuerde der Onkel waehlen? Ein jedes meinte: "Sicherlich nicht gerade mich." Das war die Bescheidenheit. Aber einer, der doch auch nicht unbescheiden war, der Frieder, sagte: "Ganz gewiss will er _mich_ mitnehmen." Das war die Angst, denn Frieder wollte nicht fort, fuer ihn gab es da nichts Zweifelhaftes, er wollte daheim bleiben, er fuerchtete die fremde Welt. Und da er so bestimmt aussprach: mich will er mitnehmen, so glaubten ihm die Geschwister. Schon einmal war er das fremde Kind gewesen, vor die Tuere gewiesen mit der Violine. Von jeher war er ein wenig allein gestanden. Nun schauten ihn alle darauf hin an, dass er fort von ihnen sollte. Sie sahen das gute Gesichtchen, die seelenvollen Augen, die angsterfuellt von einem zum andern blickten, und da wurden sich alle bewusst, dass sie doch den Frieder nicht missen mochten. Karl war es, der aussprach, was alle empfanden: "Unser Dummerle geben wir nicht her!" Oben, am Fenster des Musikzimmers, stand der Professor im Gespraech mit Herrn Pfaeffling und seiner Frau. Nun trat er an das Fenster und sah hinunter, "Dort steht ja das ganze Trueppchen beisammen," sagte er, "eines dicht beim andern, keinen Stecken koennte man dazwischen schieben! Es ist koestlich anzusehen! Und wie sie eifrig sprechen!" "Ja," sagte Frau Pfaeffling, "irgend etwas muss sie sehr beschaeftigen." "Das haben eure Kinder doch vor andern voraus, dass jedes sechs treue Freunde mit fuers Leben bekommt, denn die einmal so warm beieinander im Nest gesessen waren, die fuehlen sich fuer immer zusammengehoerig. Dass ich nun aber die Hand ausstrecken soll und ein Voegelein aus diesem Nest herausnehmen, dazu kann ich mich immer schwerer entschliessen. Geben wir doch den Plan auf! Lassen wir das froehliche Voelklein beisammen, es kann nirgends besser gedeihen als daheim!" "Ich glaube, du siehst bei uns alles in zu guenstigem Licht, wir sind oft unbefriedigt und haben allen Grund dazu!" "Das mag sein, an Unvollkommenheiten fehlt es gewiss auch bei euch nicht. Aber den guten Grund fuehle ich heraus, auf dem alles im Haus aufgebaut ist, die Wahrhaftigkeit, die Religion, die bei euch Herzenssache ist." "Das hast du doch kaum in so kurzer Zeit beobachten koennen," meinte Frau Pfaeffling. "Aber doch habe ich diesen Eindruck gewonnen, so zum Beispiel von Wilhelm. Du kannst weit suchen, bis du wieder einen solch lustigen Lateinschueler findest, der um ein bestimmtes Tischgebet bittet, wie er neulich tat bei unserem ersten Mittagessen. Ich wollte, es waere bei meinen Kindern auch etwas von diesem Geist zu spueren! Kehren wir doch die Sache um! Ich schicke euch lieber meinen Jungen einmal. In euren einfachen Verhaeltnissen wuerde er ganz von selbst seine Ansprueche fallen lassen, er waere zufrieden und gluecklich mit euren Kindern." Es blieb bei dieser Verabredung. Draussen im Freien hatte sich inzwischen alles veraendert. Die Sonne war von schweren Wolken verdeckt worden, in echter Aprillaune wirbelten ploetzlich Schneeflocken herunter und die jungen Pfaefflinge fluechteten herauf. "Da kommen sie ja wieder alle miteinander," sagte der Onkel, "wisst ihr auch, Kinder, mit was fuer Gedanken ich hieher gekommen bin? Eines von euch wollte ich mir rauben, weil bei mir noch so schoen Platz waere fuer ein viertes, und eure Eltern haetten es dann leichter gehabt. Aber ich tue es nicht. Wollt ihr hoeren warum? Weil ihr es so schoen und so gut habt, dass ihr es nirgends auf der ganzen Welt besser haben koennet. Ihr lacht? Es ist mein Ernst." Nun glaubten sie es ihm. Der Onkel, der weitgereiste, musste es ja wissen. Elschen drueckte sich schmeichelnd an den Onkel. "Wen von uns haettest du denn mitgenommen?" fragte sie. "Musst du das wissen, kleine Neugier? Vielleicht den da," sagte er und deutete auf Frieder. Der nickte zustimmend. Er hatte es ja gewusst! Einige Tage spaeter war Frau Pfaefflings Bruder wieder abgereist. Sie stand mit wehmuetigem Gefuehl im Gastzimmer und war beschaeftigt, es wieder fuer eine fremde Mieterin zu richten, nach der man sich nun bald umsehen musste. In ihren Gedanken verloren, hoerte sie doch mit halbem Ohr einen Mann die Treppe heraufkommen, hoerte klingeln, oeffnen, wieder schliessen, hoerte Marie zum Vater hinuebergehen. An all dem war nichts besonderes, es brachte sie nicht aus ihrem Gedankengang. Aber jetzt? Sie horchte. "Caecilie, Caecilie!" toente es durch die ganze Wohnung. Sie wollte dem Ruf folgen, aber da kam schon ihr Mann zu ihr herein, da stand er vor ihr mit glueckstrahlendem Angesicht und rief frohlockend: "Caecilie, ich bin Musikdirektor in Marstadt!" und als sie es nicht fassen und glauben wollte, da reichte er ihr einen Brief, und sie las es selbst schwarz auf weiss, dass die Marstadter vorlaeufig in einem gemieteten Lokal die Musikschule eroeffnen wollten und den Musiklehrer Pfaeffling zum Direktor ernannt haetten. Es fehlte nichts mehr als seine Einwilligung, und auf diese brauchten die Marstadter nicht lange zu warten! Der jubelnde Ruf: "Caecilie!" hatte die Kinder aus allen Zimmern herbeigelockt. Zu verschweigen war da nichts mehr. Vom Vater hoerten sie die gute Kunde, sie sahen, wie die Mutter bewegt am Vater lehnte und immer wieder sagte: "Wie mag ich dir das goennen!" Und das Glueck war immer groesser, weil es von so vielen Gesichtern widerstrahlte. Nur einer war davon ausgeschlossen, einer hatte alles ueberhoert, weil er mit seinen eigenen Gedanken vollauf beschaeftigt war. "Wo ist denn der Frieder?" fragte Elschen, "dem muss man es doch auch sagen!" Man suchte nach ihm und fand ihn ganz allein im Musikzimmer, vor dem Schrank stehend, in dem seine Violine aufbewahrt war. "Was tust du denn da?" fragte Herr Pfaeffling. "Ich warte auf dich, Vater, schon so lange!" Dabei draengte er sich dicht an den Vater und fragte schuechtern: "Gibst du mir am Sonntag meine Geige auf eine Stunde? Ich kann jetzt mitten darin aufhoeren, ich habe es probiert." "Wie hast du das probiert, Frieder?" "Beim Essen. Dreimal. Aufgehoert im aergsten Hunger, auch bei den Pfannenkuchen. Die andern wissen es." "Ja, es ist wahr," betaetigten ihm die Geschwister, die als seine Tischnachbarn Vorteil aus diesen Proben gezogen hatten. Herr Pfaeffling schloss den Schrank auf. "Wenn es so steht, Frieder," rief er froehlich, "dann warten wir gar nicht bis zum Sonntag, denn heute ist ohnedies Festtag bei uns, du weisst wohl noch gar nichts davon? Da hast du deine Violine, kleiner Direktorssohn!" Ja, das war ein seliger Tag! Frau Pfaeffling suchte Walburg auf; diese hatte von den Kindern schon die Neuigkeit gehoert, und da sie dem Leben nicht viel Gutes zutraute, so fuerchtete sie auch diese Veraenderung. Aber da kam auch ihre Frau selbst, sah sie mit herzlicher Freundlichkeit an und rief ihr ins Ohr: "Der Herr Direktor will auch deinen Lohn erhoehen." Nun war Walburg getrost, ihr Bleiben war besiegelt, und als sie wieder allein in ihrer Kueche stand, da legte sie einen Augenblick die fleissigen Haende ineinander und sagte: "Lobe den Herrn!" Frau Pfaeffling ging hinunter zur Hausfrau. Diese sollte nicht durch Fremde die Nachricht erfahren. Lange sprachen die beiden Frauen zusammen, und waehrend sie sprachen, toente von oben Klavier und Gesang herunter und Frau Pfaeffling erkannte die frohlockende Melodie: ihr Mann uebte mit den Kindern den Chor mit dem Endreim: "Drum rufen wir mit frohem Sinn: Es lebe die Direktorin!" Als Frau Hartwig wieder allein war, musste ihr Mann sie troesten: "Leicht bekommen wir eine bessere Mietspartei, sie haben doch recht viel Unruhe im Haus gemacht und bedenke nur die Abnuetzung der Treppe!" Dabei suchte er eine kleine Tafel hervor und gab sie seiner Frau. Sie ging hinaus und befestigte an der Haustuere die Aufschrift: _Wohnung zu vermieten_. Und als sie die Tuere wieder hinter sich schloss, fiel ihr eine Traene auf die Hand und sie sagte vor sich hin: "Das weiss gar niemand, wie lieb mir die Familie Pfaeffling war!" ***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FAMILIE PFAEFFLING*** ******* This file should be named 10917.txt or 10917.zip ******* This and all associated files of various formats will be found in: https://www.gutenberg.org/1/0/9/1/10917 Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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The Foundation makes no representations concerning the copyright status of any work in any country outside the United States. 1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg: 1.E.1. The following sentence, with active links to, or other immediate access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed, copied or distributed: This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org 1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived from the public domain (does not contain a notice indicating that it is posted with permission of the copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in the United States without paying any fees or charges. If you are redistributing or providing access to a work with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9. 1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted with the permission of the copyright holder, your use and distribution must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the permission of the copyright holder found at the beginning of this work. 1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm License terms from this work, or any files containing a part of this work or any other work associated with Project Gutenberg-tm. 1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this electronic work, or any part of this electronic work, without prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with active links or immediate access to the full terms of the Project Gutenberg-tm License. 1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary, compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any word processing or hypertext form. However, if you provide access to or distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than "Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm License as specified in paragraph 1.E.1. 1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying, performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9. 1.E.8. 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Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic works, and the medium on which they may be stored, may contain "Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by your equipment. 1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all liability to you for damages, costs and expenses, including legal fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE PROVIDED IN PARAGRAPH F3. 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INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance with this agreement, and any volunteers associated with the production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works, harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees, that arise directly or indirectly from any of the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause. Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of electronic works in formats readable by the widest variety of computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation web page at https://www.pglaf.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at https://pglaf.org For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director gbnewby@pglaf.org Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit https://pglaf.org While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate. International donations are gratefully accepted, but we cannot make any statements concerning tax treatment of donations received from outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation methods and addresses. Donations are accepted in a number of other ways including including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works. Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Each eBook is in a subdirectory of the same number as the eBook's eBook number, often in several formats including plain vanilla ASCII, compressed (zipped), HTML and others. Corrected EDITIONS of our eBooks replace the old file and take over the old filename and etext number. The replaced older file is renamed. VERSIONS based on separate sources are treated as new eBooks receiving new filenames and etext numbers. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: https://www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. EBooks posted prior to November 2003, with eBook numbers BELOW #10000, are filed in directories based on their release date. If you want to download any of these eBooks directly, rather than using the regular search system you may utilize the following addresses and just download by the etext year. http://www.ibiblio.org/gutenberg/etext06 (Or /etext 05, 04, 03, 02, 01, 00, 99, 98, 97, 96, 95, 94, 93, 92, 92, 91 or 90) EBooks posted since November 2003, with etext numbers OVER #10000, are filed in a different way. The year of a release date is no longer part of the directory path. The path is based on the etext number (which is identical to the filename). The path to the file is made up of single digits corresponding to all but the last digit in the filename. For example an eBook of filename 10234 would be found at: https://www.gutenberg.org/1/0/2/3/10234 or filename 24689 would be found at: https://www.gutenberg.org/2/4/6/8/24689 An alternative method of locating eBooks: https://www.gutenberg.org/GUTINDEX.ALL *** END: FULL LICENSE ***