E-1 Die Psalmen - Einleitung Aehnlich wie die Buecher des Mose ist diese Sammlung von 150 Einzelliedern, die eines der bedeutendsten Buecher der Heiligen Schrift und auch der gesamten Weltliteratur darstellen, in fuenf Buecher eingeteilt: Ps 1 - 41; 42 - 72; 73 - 89; 90 - 106; 107 - 150. Die griechische und die lateinische Bibel haben eine leicht abweichende Zaehlweise der Psalmen (vgl. Anhang dieser Bibelausgabe). Die heutige Reihenfolge und Anordnung der Psalmen in der hebraeischen Bibel, die eine gewisse Korrespondenz zu den Buechern des Mose aufweist, ist hoechstwahrscheinlich von ihrem Gebrauch im Synagogengottesdienst her zu verstehen. Thematisch beruehren die Psalmen fast alle Fragen und Probleme der alttestamentlichen Theologie. Die neuere Forschung befasst sich besonders mit den verschiedenen Psalmengattungen und ihrem "Sitz im Leben" sowie mit der ueberlieferung der einzelnen Psalmen bis zu ihrer jetzigen Gestalt. Man unterscheidet heute vor allem folgende Gattungen: Hymnen, Danklieder, Klagelieder eines einzelnen und des Volkes, Bittpsalmen, Wallfahrtslieder, Koenigslieder, Weisheitslieder, "messianische Psalmen". E-2 Dass der Psalter eine Sonderstellung unter den Schriften des Alten Testaments einnimmt, wird kaum bezweifelt. Denn die Psalmen lassen einen einzigartigen Einblick in die innere Struktur der Offenbarung tun. Der Psalter gibt naemlich davon Kunde, dass die Offenbarung sich nicht nur als monologes Sprechen und Handeln Gottes ereignet, sondern dass Gott sich im auserwaehlten Volk einen Partner bereitet hat, der mit in das Offenbarungsgeschehen einbezogen wird. Die Offenbarung ist demnach ein dialogischer Vorgang: Gott handelt und spricht nicht nur auf das Volk hin, sondern Israel spricht und handelt mit (vgl. Ex 19,8, wo das Volk sich einmuetig bereit erklaert, Gottes Auserwaehlung anzunehmen). Von der Aufnahme des Dialogs durch das auserwaehlte Volk kuenden wie kein anderes biblisches Buch die Psalmen: Sie sind die in der Offenbarung und aus ihr erfolgte Antwort auf Gottes offenbartes Wort. Das sollen einige Entsprechungen der Psalmen zu wichtigen alttestamentlichen Texten zeigen: Schoepfungstat und -werk Gottes: Gen 1 - Ps 104. Der Mensch: Gen 1,26-28 - Ps 8. Gottes Heiligkeit: Jes 6 - Ps 99. Das Meerwunder: Ex 13 - 15 - Ps 66. Lobpreis des Bundesgottes: Ex 19 - 24 - Ps 97. Von Aegypten ins Gelobte Land: Ps 114. Von der Patriarchenzeit bis zur Landverleihung: Ps 105. Gottes Heilswerk an Zion: 2 Sam 6 - Ps 48. Der Neue Bund: Jer 31,31-34; Ez 36,24-28 - Ps 51,12-14. Der Messias als Koenig: Jes 9,1-6; 11,1-5; Mi 5,1-3 - Ps 2; 72; 110. Der Messias als Leidensmann: Jes 53 - Ps 22. E-3 Natuerlich decken sich die Inhalte der angefuehrten einander entsprechenden Texte nicht vollauf; aber Hauptmotive werden vom lobpreisenden Gottesvolk aufgegriffen, neu interpretiert, um andere Offenbarungsgehalte vermehrt und weiter entfaltet. E-4 Noch etwas anderes geht aus den Psalmen hervor, naemlich dass Israels wichtigste und vornehmste Aufgabe, ja der Grund seiner Sonderexistenz im Gotteslob, im Gott gemaessen Kult besteht. Vom Kult her duerfte auch Licht auf die heutige Anordnung der Psalmen fallen. In Neh 8,1-6 ist ein Muster fuer den Synagogengottesdienst enthalten, der im Exil oder in der nachexilischen Zeit neben dem Tempelgottesdienst aufkommt. Weil der Opferdienst auf den Tempel beschraenkt bleibt, handelt es sich im Synagogengottesdienst um den Typus eines reinen Lesegottesdienstes, der in etwa unserem Wortgottesdienst vergleichbar ist. Er ist folgendermassen aufgebaut: E-5 1. Nach Einleitungsgebeten folgt die Lesung des faelligen Abschnitts aus dem Pentateuch. Die fuenf Buecher des Mose sind in einer einjaehrigen oder dreijaehrigen Leseordnung auf die Sabbate des Jahres verteilt (fuer die Feste sind besondere Texte ausgesucht). E-6 2. Dann antwortet das Volk mit dem zugeordneten, vielleicht gesungenen Psalm. E-7 3. An den Psalm schliesst eine zweite Lesung aus den Propheten und eine Homilie an. E-8 4. Segensgebete beschliessen den Gottesdienst. E-9 Mit ziemlicher Sicherheit laesst sich also sagen, dass zur Zeit der Wiederherstellung der nachexilischen Gemeinde unter Esra und Nehemia der Psalter seine heutige Gestalt erhalten hat. Fuer die einzelnen Psalmen wird man insgesamt eine Entstehungszeit von mehreren Jahrhunderten, von David bis Esra, anzunehmen haben. Weiter deutet ihre Verwendung im Synagogengottesdienst auch eine vom Kult her bestimmte Anordnung und Reihung verschiedener Texteinheiten im Pentateuch an und legt sie nahe. So hat man also fuer das Verstaendnis der einzelnen Psalmen und des gesamten Psalters viel mehr als bisher deren Verwendung im Gottesdienst zu beruecksichtigen. E-10 Der Psalter hat seinen hohen Rang als Gebetbuch des alten Bundesvolkes auch fuer Christus und die junge Kirche behalten. Die Kirche hat mit den Psalmen auf die in Christus erfuellte Offenbarung geantwortet. Bis heute verwendet sie daher in der Nachfolge des Herrn den Psalter vor allen anderen Gebetstexten fuer den Gottesdienst in seiner vielfaeltigen Gestalt.