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       # taz.de -- Hinter den Hallen andere Hallen
       
       > „You have to do more LSD!“: In England ist die Zeit der großen illegalen
       > Raves vorbei. Der Marktanteil bei Dance ist auf zwanzig Prozent gesunken,
       > legendäre Superclubs schließen. Dennoch ist der Underground noch aktiv.
       > Zu Besuch bei einer Party auf einem verlassenen Fabrikgelände bei London
       
       von DETLEF KUHLBRODT
       
       Die Zeit der großen Raves ist vorbei. Auch in England, wo alles viel früher
       begann, Ende der 80er-Jahre, als zehntausende auf illegalen Raves an
       geheimen Orten, manchmal gar auf Autobahnen wild tanzten und die Polizei
       die Tanzenden sogar mit Hubschrauber verfolgte. Dies alles haben Matthew
       Collin und John Godfrey in ihrem Buch „Altered State“, das längst ein
       Klassiker ist, sehr anschaulich und ausführlich beschrieben. Durch die
       Verfolgung und weil Popkultur, anders als in Deutschland, sich nicht auf
       Jugend beschränkt, sondern die ganze Gesellschaft durchdringt, waren die
       britischen Raves ein Politikum.
       
       Die Repression, die zuweilen auch lächerliche Züge hatte, als eine Zeit
       lang keine Dance-Musik in öffentlichen Radiostationen gespielt werden
       durfte, ist zurückgegangen. Auf BBC wurden die letzten Commonwealth-Games
       in Manchester zwar mit Dance-Music und klugen Essays über die Ravekultur
       beworben; zugleich sank jedoch der Marktanteil bei Dance auf zwanzig
       Prozent, legendäre Superclubs schließen oder schränken ihre Veranstaltungen
       ein.
       
       Der Underground ist immer noch aktiv, hatte Michael gesagt. Die Partys sind
       nur kleiner und unspektakulärer geworden, finden mehr im Verborgenen statt.
       Man bemüht sich, kein Aufsehen zu erregen. Heute Abend gäbe es zum Beispiel
       eine Party in Hackney. Ob wir Lust hätten? – Eigentlich schon. – Heute
       Abend oder morgen Früh? – Lieber früh, sagte Maria, denn sie musste am
       Montag wieder arbeiten. Dann war es Morgen. Wir saßen im Bus. Ein paar
       Minuten oder Stunden folgte draußen ein kleiner Shop auf den nächsten. Ich
       dachte an Bangkok, weil's dort ähnlich aussieht, wenn man aus der Stadt
       rausfährt; danach verwandelte sich die Gegend hinter den Fenstern ins
       Vorstädtische. Gewerbegebiete, Fabrikanalagen, großflächige Fußballwiesen
       zogen vorbei, und man sah immer mehr Schwarze auf der Straße.
       
       Als wir ausstiegen, kamen die Bässe kaum merklich von irgendwoher. Ein
       junger Mann mit kurzen Haaren und verschwitztem Gesicht stand da, und
       Maria, die manchmal die Bäume im Clissoldpark umarmt, sagte, der sieht so
       aus, als hätte er eine Umarmung jetzt sehr nötig (ohne ihn zu umarmen), und
       der Junge wies uns den Weg in ein heruntergekommenes Industrierareal.
       
       Welcome to the Warehouse! Wir gingen auf einer schmalen Straße. Am Rande
       stand ein riesiger russischer Supermarkt, der so leer war wie Reichelt am
       Baumarkt in der Berliner Hasenheide. Viele der Waren waren deutsch und
       russisch beschriftet. Die grauen Salzpackungen wirkten sowjetisch. Auf dem
       schwarzen Brett warben russische Pubs und Discos für ihre Veranstaltungen.
       
       Auf der schmalen Straße zur Musik standen Autos, in denen Schwarze wie im
       Film saßen und fragten: „Do you want Es“, während Maria aber verstand „Do
       you have needs“. In einem Auto schlief jemand. Seine linke Hand hing im
       offenen Fenster. Michael schaute sich den Stempel an, den der Schlafende
       auf seiner Hand hatte, und malte uns auch so was mit seinem schwarzen
       Edding auf die Hand. Durch den Eingang gingen wir zu den Hallen. In der
       ersten Halle gab es schwarze Musik der härteren Gangart. An der Wand hing
       ein Transparent: „No Crack“. In der zweiten Halle gab es Acidhouse und drei
       Transparente mit Gesichtern in Neonfarben. Ein Gesicht streckte seine Zunge
       raus. Vielleicht lag eine Pille drauf, vielleicht war’s nur ein Pearcing.
       
       Alles war ein bisschen fertig zwischen Grunge und Hippie. Maria schaute auf
       eine Gruppe von Leuten und sagte: „Crusties“ – weiße Mittelklasse, die so
       tut, als wäre sie Unterklasse. Kaum bunte Klamotten. Kaum Schwarze. Mir
       fiel es schwer, Gemeinsamkeiten auszumachen, und dachte eher an das E-Werk
       in Berlin früher; studentisch war's auf keinen Fall, und hätte man die
       Gleichen im Stadion von Arsenal gesehen, wär's einem auch normal
       vorgekommen. Ich meine, gekifft wird da ja auch viel. Altersmäßig sehr
       gemischt schienen die meisten grad auf Drogen. Viele Gesichter wirkten
       erschöpft, aber auch entschlossen, weiterzumachen; andere waren grad wie
       wir gekommen, standen herum, wippten ein bisschen, rauchten einen Spliff,
       um sich erst mal einzugrooven, Verbindung aufzunehmen. Viele zogen offen
       Lines, ohne sich zu verstecken; Speed und „K“, meinte Michael, und dass
       Ketamin seit drei Jahren in der englischen Raveszene ziemlich populär wäre
       und dass er irgendwann die „Es“ sein gelassen und auf Ketamin bei Partys
       umgestiegen wäre, weil's intellektuell interessanter sei und die
       Nachwirkungen nicht so unangenehm.
       
       Ich kannte nur üble Ketamingeschichten mit Kotzen und fragwürdigen
       „spirituellen“ Erfahrungen. Die Droge, eigentlich ein Tierbetäubungsmittel,
       war mir unsympathisch, und ich hatte das Gefühl, dass die merkwürdig
       diffuse Gewalttätigkeit, die ich hier zu spüren meinte, etwas mit bösen
       Drogen zu tun hatte. Michael entgegnete, dass ich vielleicht Recht hätte.
       Aber Rave ist nicht Happy House, wo alle sich küssen und glücklich sind;
       Rave reflektiert die Gesellschaft im Guten und Bösen. Wie Punk.
       
       Manche tanzten; andere hingen am Rande oder vor der Halle herum. Ein
       kräftiger großer Schwarzer tanzte schwitzend wie ein Roboter, in sich
       selbst eingeschlossen, da kommt man nicht raus. Eine Japanerin schien mit
       geschlossenen Augen in schönen Träumen. Ein kleiner Junge schob einen roten
       Bürostuhl durch die Halle, hin und her, hin und her.
       
       Irgendwann hatte Michael eine kleine Line genommen. Nicht dass er
       puristisch aufs Biertrinken verzichtet hätte, er war nur eben sehr achtsam
       und hatte genaue Vorstellungen, wie man Drogen nehmen sollte. Nicht dass
       man ihm das angemerkt hätte – er wirkte sehr klar mit introspektiven
       Pausen; ein bisschen übermüdet, aufgekratzt, verdrehte seine Augen
       irgendwann und fragte, ob wir unsre Augen auch so verdrehen könnten. Das
       sah nicht gut aus und machte schwindlig, und wir ließen das lieber. Grad
       war er nicht mehr in dem Körper, der das sagte, und es war zwölf und sehr
       heiß in der Sonne vor der Halle. Wir sprachen über den Tod und gingen dann
       wieder tanzen.
       
       Die Musik war immer wilder und großartiger geworden. Michael fragte, ob ich
       verstehen würde, was der da sagt, der in der Musik sprach, die irgendwo
       zwischen Goa mit den üblichen Crescendos und Punk lag. Die Texte waren
       aggressiv und apokalyptisch: „Destruction, destruction!“ Als ich verstand,
       konnte ich nicht mehr tanzen. Auf einer Leinwand im Chilloutraum kämpfte
       der Soldat Ryan. Dann gingen wir, das Gelände erforschen.
       
       Hinter den Hallen lagen andere Hallen, leere Hallen. Wasser tropfte
       irgendwo, und die Musik entfernte sich, während wir gingen. Manchmal stand
       einer in einer Ecke und pisste; manchmal lag einer auf dem Boden und hatte
       sich verloren in seinem Rausch. Man meinte, die Maschinen, die früher hier
       gestanden hatten, von fernher noch zu hören. Irgendwo hatten sich Leute
       etwas wohnungsmäßig eingerichtet und schauten uns von einer Empore zu, wie
       wir da gingen. Die Dinge wurden spooky.
       
       Am Ende vieler Hallen war ein Raum, und in der Ecke dieses Raumes stand ein
       Bärtiger in schmutzigen Kleidern. Er erinnerte an Tarkowskis Stalker. In
       dem Raum war auch noch eine Glastür. Das Glas war zerbrochen, als wäre
       gerade einer hineingefallen, und der Unheimliche warnte uns vor dem
       zerbrochenen Glas. Dann schob er sich zwischen uns und die Ausgangstür und
       redete hastig auf uns ein; dass er ein Künstler sei und von seiner Kunst,
       die mit Ketten und Gewalt zu tun hätte. Er schien verrückt zu sein oder auf
       seltsamen Drogen. Vorsichtig schoben wir uns an ihm vorbei. Eine Weile
       folgte er uns und verabschiedete sich schließlich mit einem: „You have to
       do more LSD!“
       
       Wir gingen zurück; es war drei. Ein kleiner Junge sprühte mit einem
       Feuerlöscher herum. Der kräftige Schwarze tanzte immer noch so roboterhaft;
       die Japanerin wiegte sich immer noch in ihren Träumen, irgendjemand
       verteilte Aufkleber, die zu dem verlassenen Fabrikgelände passten. Darauf
       stand: „Returned from Job No: …“ und „Machine: …“ und „Name: …“ Michael
       füllte sie mit seinem schwarzen Edding aus. Hinter Name stand dann „Me“ und
       drunter ganz groß: „Not U.“
       
       2 Sep 2002
       
       ## AUTOREN
       
   DIR DETLEF KUHLBRODT
       
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