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       # taz.de -- Musikalisches Puzzlespiel mit klanglicher Raffinesse
       
       > ■ Exzellent: Gidon Kremer und seine „Kremerata Baltica“ mit zwei
       > russischen Kompositionen und Schubert beim Schleswig Holstein Musik
       > Festival auf Schloss Wotersen
       
       Wenn Gidon Kremer spielt, dann ist fast immer Besonderes zu erwarten.
       Kremer strahlt als Musikerpersönlichkeit ein solches Charisma aus, dass
       sich kaum jemand der Wirkung seines experimentierfreudigen und hoch
       virtuosen Spiels entziehen kann. Darüber hinaus nimmt Kremer sein Publikum
       immer mit auf musikalische Entdeckungsreisen. Für sein Gastspiel beim
       Schleswig Holstein Musik Festival auf Schloss Wotersen hat Kremer einmal
       mehr Werke seiner russischen Heimat ausgesucht, die auf jeweils
       individuelle Weise auf Volksmusik Bezug nehmen.
       
       Da gab es mit Leonid Desjatnikows Russian Seasons ein Werk zu entdecken,
       das alte russische Gesänge verarbeitet. Und mit Alexander Raskatows The
       Seasons Digest konfrontierte Kremer sein Publikum mit einem Stück, das von
       russischer Volksmelodik inspirierte Kunstmusik zum Anlass nimmt, ein
       eigenständiges, durchaus modernes, dabei aber sehr gefälliges Musikstück zu
       gestalten.
       
       Raskatow hat zu diesem Zwecke Peter Tschaikowskys berühmten Klavierzyklus
       Die Jahreszeiten herangezogen und diesen als Grundlage genommen für sein
       Seasons Digest in der Besetzung Streicher, Schlagzeug und präpariertes
       Klavier. Viele fast notengetreue Passagen aus Tschaikowskys Werk bereichert
       Raskatow dadurch, dass er ein Gestaltungselement – einen Rhythmus oder
       einen Melodiefetzen – aus dieser Musik herausnimmt und lustvoll damit
       spielt. So stellte sich sein Werk in der Summe als irrlichterndes, mit
       Phantasie und Humor ausgestattetes musikalisches Puzzlespiel dar, das mit
       viel klanglicher Raffinesse das Publikum begeisterte.
       
       Mindestens genauso überzeugend geriet das andere zeitgenössische Werk des
       Abends von Desyatnikow. Der Petersburger Komponist hat in langwieriger
       Sammlertätigkeit alte, bis dahin nur mündlich überlieferte Volksgesänge
       zusammengetragen und diese in ein neues klangliches Umfeld gestellt. Immer
       bleibt dabei die meist in sich gedrehte und sich steigernde Ausgangsmelodie
       im Mittelpunkt seiner Komposition für Violine, Sopran und Streichorchester.
       
       Desjatnikows Verfahren erinnert in vieler Hinsicht an Bartok. Das
       klangliche Ergebnis ist aber schon deshalb sehr eigenständig, weil die
       verwendeten volksmusikalischen Vorlagen ganz anderen Charakters sind: ein
       gelungener Versuch, Motive russischer Folklore in zeitgenössische Musik zu
       integrieren.
       
       All dies konnte aber nur deshalb zu einem großen Erfolg werden, weil die
       praktische Umsetzung dieser Kompositionen auf bewundernswertem Niveau
       stattfand. Das von Gidon Kremer gegründete und geprägte, sehr homogen und
       überlegen musizierende Kammerorches-ter Kremerata Baltica stand dabei der
       ausdrucksstark singenden Sopranistin Julija Korpatschewa in nichts nach.
       Von Gidon Kremers Spiel gar nicht zu reden ... Dass Schuberts
       Streichquintett in der Orchesterfassung künstlerisch nicht das
       Aufführungsniveau der beiden russischen Werke erreichte, konnte man gut
       verkraften. Reinald Hanke
       
       20 Jul 2001
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Reinald Hanke
       
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