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       # taz.de -- Mahlow zeigt sein Gesicht
       
       > Rechte Jugendliche aus der brandenburgischen Gemeinde machten ihn vor
       > fünf Jahren zum Krüppel. Am Wochenende kehrte Noël Martin zurück
       
       aus MahlowBARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVAund HANS-PETER STIEBING (Fotos)
       
       Nervös tritt Werner de la Haine von einem Fuß auf den andern. Ab und an
       fasst sich der parteilose Bürgermeister mit dem Walter-Ulbricht-Bart an die
       Krawatte, um den korrekten Sitz zu überprüfen. Immer wieder schaut er nach
       rechts und links. Während um ihn herum Vertreter der Landesregierung von
       einem „klaren Signal“, einem „toleranten Brandenburg“ und einem „ganz
       dunklen Fleck in der Geschichte des Landes“ sprechen, schweigt der
       Bürgermeister und wirkt verloren inmitten eines großen Medienaufgebots.
       
       Die Aufmerksamkeit der in- und ausländischen Journalisten gilt nicht ihm.
       Sie warten auf Noël Martin, den farbigen Briten, der vor fünf Jahren in
       Mahlow, dessen Bürgermeister de la Haine ist, von rechten Jugendlichen zum
       Krüppel gemacht wurde. Entgegen dem Anraten seines Arztes will er heute
       eine Demonstration gegen Rassismus anführen. Zum ersten Mal seit fünf
       Jahren will der 42-Jährige, der rund um die Uhr auf fremde Hilfe angewiesen
       ist, selbst entscheiden. Bis zu seinem Eintreffen werden die zahlreichen
       Schulkinder gefilmt, die wie DDR-Jungpioniere am Eingang zum
       Bürgermeisteramt Spalier stehen mit ihren Transparenten „Die Würde des
       Menschen ist unantastbar“ und „Hallo Noël: We are glad to see you“.
       
       Als eine schwarze Limousine, gefolgt von einem Krankenwagen, um die Ecke
       biegt, bleibt de la Haine stehen, als wäre er es, der sich nicht bewegen
       kann. Vor fünf Jahren, als Noël Martin und zwei weitere Briten von zwei
       rechten Jugendlichen aus seiner Gemeinde im Auto gejagt wurden, hatte er
       öffentlich geäußert, dass es vielleicht die Briten waren, die die Deutschen
       verfolgt hatten. Als Martin jetzt wenige Meter von ihm entfernt im
       Rollstuhl auf einer Plattform langsam heruntergelassen wird, macht der
       Bürgermeister einige Schritte zur Seite. Ohne ihn eines Blickes zu
       würdigen, rollt Noël Martin ins Bürgermeisteramt der Nachbargemeinde
       Blankenfelde, wo es einen Empfang für ihn gibt.
       
       In dem Moment, in dem Noël Martin in Begleitung von schwarzen Bodyguards
       und Pflegekräften in den Raum geschoben wird, herrscht schlagartig Stille.
       Dann werden alle offiziellen Vertreter begrüßt: eine Bundestagsabgeordnete,
       Staatssekretäre, die Ausländerbeauftragte und der Generalstaatsanwalt von
       Brandenburg. Das Protokoll wird auch an so einem ungewöhnlichen Tag nicht
       außer Kraft gesetzt. Erst danach ist Noël Martin an der Reihe.
       
       Bürgermeister de la Haine, der immerhin frei spricht, gedenkt der Zeit, als
       Noël Martin als Bauarbeiter „nach der Wende in der Gemeinde dazu beitrug,
       vielen ein neues Zuhause zu schaffen“. Und er gedenkt des „unsagbaren 16.
       Juni 1996, der uns alle so tief betroffen gemacht hat“. Das sind
       überraschende Töne. Damals hatte sich der Bürgermeister mit bürokratischer
       Passivität hervorgetan. In dem Prozess gegen die beiden Täter hatte er als
       Zeuge ausgesagt, dass er schon vor dem Überfall auf Noël Martin von einer
       Clique von Jugendlichen am Bahnhofsvorplatz gewusst habe, die Ausländer
       angriffen. Mit der Bemerkung, dass er sich dort abends nicht aufhalte,
       hatte er versucht, sich aus der Affäre zu ziehen und war dafür vom
       Vorsitzenden Richter scharf kritisiert worden. Der forderte damals einen
       „lauten Aufschrei gegen ausländerfeindliche Straftaten im Land
       Brandenburg“.
       
       ## „Ich schäme mich“
       
       Es hat fünf Jahre gedauert, bis sich der 8.000 Einwohner zählende Ort dazu
       aufgerafft hat – gedrängt durch den Besuch von Noël Martin, der von einer
       Vielzahl von Gruppen, Initiativen und dem vom Land Brandenburg finanzierten
       „Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit“
       organisiert wurde. Die Rückkehr von Noël Martin, der der Gemeinde
       vorgeworfen hatte, keine eindeutige Position zu beziehen – selbst der Baum,
       gegen den er 1996 prallte, wurde abgeholzt – beschämt de la Haine. „Als
       Mahlower Bürger muss ich mich heute verneigen. Ich schäme mich für das, was
       Ihnen angetan wurde“, sagt er und blickt Noël Martin dabei an. Martin folgt
       der Übersetzung ins Englische regungslos. Nur der kleine Finger der rechten
       Hand, die auf einem gelben Schaumstoffball liegt, bewegt sich leicht. Zum
       Schluss äußert de la Haine die Hoffnung, dass Noël Martin „Mahlower Bürger
       kennen lernt, die den Weg gegen Hass und Gewalt beschreiten“. Andere
       Redner, etwa Steffen Reiche, Bildungsminister von Brandenburg, sprechen von
       „Toleranz und Weltoffenheit“. Bis auf Barbara John, Ausländerbeauftragte
       von Berlin, die ihre Hand auf Noël Martins Arm legt, traut sich kein
       Politiker, sich dem Mann im Rollstuhl zu nähern. Sie wissen nicht, wie man
       einem gelähmten Mann die Hand geben soll.
       
       Noël Martin macht in seiner Rede wenige Worte: „Wir müssen jeden Tag gegen
       Rassismus kämpfen und nicht nur heute“, sagt er. Und er erzählt von der
       Stiftung, die Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) bald
       gründen wird. Eine Stiftung, die seinen Namen tragen und für Brandenburger
       Kinder Reisen nach Birmingham organisieren soll, damit sie eine
       multikulturelle Stadt kennenlernen. Der gebürtige Jamaikaner, der in
       Birmingham lebt und seit dem Krebstod seiner langjährigen Lebensgefährtin
       im vergangenen Jahr rund um die Uhr auf Pflegepersonal angewiesen ist,
       musste der Brandenburger Landesregierung quasi mit dem Rollstuhl über die
       Füße fahren, bis die von ihm seit langem angeregte Stiftung zustande kam.
       
       Die Aufforderung der Gemeinde Mahlow an ihre Bürger, an diesem Tag „Gesicht
       zu zeigen“, hat kaum Resonanz an diesem sonnigen Tag. Zu dem
       Demonstrationszug von etwa 1.500 vorwiegend jugendlichen Teilnehmern, die
       zum Großteil von außerhalb kommen und bei Punkmusik offene Grenzen für alle
       fordern, gesellen sich nur wenige der etwa 8.000 Mahlower. Dabei hatten
       Dutzende von Vereinen – vom Imkerverein über den Männerchor „Deutsche
       Eiche“ – den Aufruf unterschrieben.
       
       ## „Die meisten schweigen“
       
       Langsam rollt die Limousine mit Noël Martin, geschmückt mit der deutschen,
       der britischen und der jamaikanischen Fahne, Richtung Mahlow. Wegen des
       dichten Medienaufgebots kann er die damalige Unfallstelle nicht sehen.
       Vielleicht scheut er auch diesen Moment. Jetzt erinnert ein eiserner
       Baumstumpf, in dem ein Feldstein steckt, an den 16. Juni 1996.
       
       Hinter einem Gartenzaun stehen vier Jungen und ein Mädchen, die aus ihrer
       Einstellung keinen Hehl machen. „Was das an Steuergeldern kostet“, empört
       sich einer. „Es geht nur um einen Neger“, sagt ein anderer. „Bei einem
       Weißen hätten sie nichts gemacht“, ergänzt das Mädchen. Wenige Meter
       weiter, neben einem Laternenpfahl mit dem Aufruf „Wir begleiten Noël
       Martin“, lehnen zwei ältere Männer in weißen Unterhemden am Gartentor. „Es
       gibt wichtigere Sachen als so was“, bemerkt der eine trocken. „Da hatte
       einer vor Jahren mal einen Unfall, und dann wird so ein Theater gemacht“,
       der andere. Ein Mahlower, der vor seinem Haus Spargel, Eier und Apfelsaft
       verkauft, sagt immerhin, dass Noël Martin ihm Leid tut. Doch einen
       rassistischen Hintergrund habe die Tat nicht. „Das wurde hochgespielt.“
       
       Viele Mahlower schauen ausdruckslos aus ihren Häusern.„Es gibt viele Leute,
       denen ist das egal“, bedauert eine 67-jährige Frau, die die Demonstration
       mit ihrem Fahrrad begleitet. „Die meisten schweigen.“ Eine Frau, die
       zusammen mit ihrer Tochter mitläuft, sagt: „Ich bin betroffen, wie viele
       aus den Fenstern schauen.“ Der 22-jährige Mehmet Özbek, dessen Familie nach
       dem Umzug von Berlin nach Mahlow mit Beleidigungen und Angriffen empfangen
       wurde und der im vergangenen Jahr zum Ausländerbeauftragten ernannt wurde,
       nennt die Demonstration „einen Fortschritt“. Doch seine Hoffnung, dass sich
       „viele Mahlower aus der Mitte angesprochen fühlen“, erfüllt sich nicht.
       
       Am Bahnhofsvorplatz, dort, wo vor fünf Jahren Noël Martin vor der
       Verfolgungsjagd von rechten Jugendlichen als „Nigger“ beschimpft wurde,
       spielt eine englische Reggae-Band, die er mitgebracht hat. Doch unbeschwert
       ist nichts. Die Ausländerbeauftragte von Brandenburg, Almut Berger, wirft
       den Bürgern des Landes vor, Angriffe auf Fremde noch immer zu passiv
       hinzunehmen. „Zu vielen ist es gleichgültig, wenn die Würde anderer
       Menschen mit Füßen getreten wird.“ Noël Martin sagt in Richtung des gut
       gefüllten Platzes: „Ich hoffe, dass wir all die Worte, die heute gesagt
       wurden, tatsächlich umsetzen können.“
       
       Plötzlich sind laute Sprechchöre „Nazis raus“ und „Deutsche Polizisten
       schützen die Faschisten“ zu hören. Wenige Meter von der Bühne entfernt
       sitzen fünf Jugendliche mit Bomberjacken und Londsdale-T-Shirts im
       „Lindengarten“ beim Bier. Davor haben sich dutzende Polizisten postiert.
       Erst als linke Demonstranten die Beamten auffordern, diese Provokation
       nicht tatenlos hinzunehmen, werden die Rechten unter Polizeigeleit
       weggebracht – in das Innere des Lokals.
       
       18 Jun 2001
       
       ## AUTOREN
       
   DIR BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA
       
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