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       # taz.de -- Demonstranten im Gezi-Park: Erste Risse im Bündnis
       
       > Radikal oder gemäßigt? Basisdemokratie oder Delegierte? Maximal- oder
       > Minimalforderungen? Das Protestbündnis ist uneins, wie der Widerstand
       > fortgesetzt werden soll.
       
   IMG Bild: Jung und alt, Mann und Frau: Das Protestbündnis im Gezi-Park ist äußerst heterogen.
       
       ISTANBUL taz | Die ganze Nacht hindurch, bis vier Uhr morgens, haben sie
       diskutiert. Am Samstagvormittag dann verkündeten sie offiziell das, was für
       die große Mehrheit der Demonstranten im Gezi-Park ohnehin außer Frage
       stand: Sie werden den Park nicht räumen und den Widerstand fortsetzen.
       
       „Wir werden mit der selben Dynamik und der Kraft, die wir aus unserem
       bisherigen Kampf geschöpft haben, und die sich über das ganze Land, bis in
       die Welt hinaus ausgebreitet hat, unseren Widerstand gegen jegliche Form
       von Ungerechtigkeit und Benachteiligung fortsetzen“, heißt es in der [1][im
       Internet veröffentlichten Erklärung] des Protestbündnisses
       Taksim-Solidarität.
       
       Der offiziellen Stellungnahme gingen am Vortag stundenlange, erhitzte
       Diskussionen zwischen den im Gezi-Park versammelten Aktivisten voraus. Das
       Ergebnis des in der Nacht auf Freitag in Ankara stattgefundenen Treffens
       zwischen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Vertretern der
       Protestbewegung, die von der in- und ausländischen Presse
       [2][merkwürdigerweise] als „Einlenken der Regierung“ gefeiert wurde,
       empfinden sie hier als Hohn: „Was bitte ist daran ein Zugeständnis, dass
       Tayyip das Gerichtsurteil zum Park abwarten will? Haben wir hier etwas
       verpasst, leben wir etwa in keinem Rechtsstaat mehr? Müssen wir unseren
       Regierenden nun schon dankbar dafür sein, dass sie Gerichtsbeschlüsse
       akzeptieren will?“, ereifert sich eine junge Frau.
       
       ## „Erdogan lacht uns aus“
       
       Sie spricht auf einem der parellel laufenden sieben Diskussionsforen. Die
       Menge applaudiert. Hunderte von Aktivisten sind am Freitagnachmittag
       zusammen gekommen. Eigentlich wollten sie das weitere Vorgehen diskutieren,
       eine gemeinsame Reaktion auf die letzten Forderungen der Regierung finden
       und die Zukunft des Widerstandes organisieren.
       
       Dazu kommt es aber kaum. Statt konkrete Vorschläge zu liefern, wollen alle
       hier ihrer Wut Luft lassen. Im Minutentakt rattert ein Aktivist nach dem
       anderen runter, was hier ohnehin allen bekannt ist: Wie sehr sich die
       Regierung in den letzten Wochen schuldig gemacht hat, wie viel die
       Protestbewegung schon erreicht hat, und warum es reicht mit Erdogan, ein
       für alle mal.
       
       Am Ende bekräftigt jeder das, worüber sich alle einig sind: dass ein
       Rückzug aus dem Park nicht in Frage kommt. „Keine einzige unserer
       Forderungen wurde auch nur in Erwägung gezogen“, sagt ein junger Aktivist.
       „Erdogan lacht uns aus und bereitet schon den nächsten Angriff auf uns vor.
       Wenn er sagt, er will bis Samstag eine Antwort, dann meint er damit doch
       nur, er will bis dahin die Entscheidung zum Rückzug aus dem Park!“
       
       Die Protestbewegung ist geeint, könnte man also meinen. Und doch machen
       sich im Laufe der endlosen Gespräche auch die ersten Reibungen und
       Konflikte innerhalb des Bündnisses bemerkbar. Es ist wohl der allgemeinen
       Erschöpfung zuzuschreiben, dass schon Kleinigkeiten wie überzogene
       Redezeiten zu lautstarken Auseinandersetzungen führen.
       
       ## Es wurde versäumt, sich Strukturen zu schaffen
       
       Deutlich wird aber auch, dass das äußerst heterogene und aus einer Vielzahl
       von unterschiedlichen Interessengruppen bestehende Protestbündnis es in den
       letzten Wochen versäumt hat, sich Strukturen zu schaffen, die notwendig
       wären, um die Zukunft des Widerstandes zu organisieren und Entscheidungen
       so zu treffen, dass alle sich einbezogen und repräsentiert fühlen.
       
       Noch nicht mal darüber, welche Form von Demokratie sie wollen, scheinen sie
       sich Gedanken gemacht zu haben. So führt etwa der naheliegende Vorschlag,
       aus den verschiedenen Gruppen Delegierte zu wählen, die eine gemeinsame
       Erklärung formulieren sollen, zum vehementen Einspruch einiger Aktivisten.
       Irgendwann tritt eine kleine, zierliche Frau hervor und versucht in
       mehreren Anläufen die Vorzüge der repräsentativen Demokratie zu erklären,
       wird dabei aber immer wieder unterbrochen von denen, die dadurch ihre
       Teilhabe an der Sache gefährdet sehen.
       
       Auf den Hinweis einiger Bündnissprecher, dass man schließlich am nächsten
       Tag Ergebnisse vorlegen müsse und deshalb effiziente
       Entscheidungsfindungsprozesse notwendig seien, reagiert ein junger Mann mit
       Bürstenschnitt und Hornbrille mit einem Wutausbruch: „Wir sollen uns
       beeilen, nur weil Sultan Tayyip Antworten fordert? Wir haben 18 Tage auf
       Antworten von ihm geantwortet! Die einzige Antwort, die wir ihm morgen
       geben sollten, ist: Tayyip, wir haben die Schnauze voll von deiner
       Arroganz, von deinen Allüren, von deinen Befehlen, wir reden dann wieder
       mit dir, wenn du Rechenschaft für deine Verbrechen ablegst!“
       
       ## Todesnachricht aus Ankara
       
       ## 
       
       Der Moderator unterbricht die Diskussion, um eine gerade eingetroffene
       Todesnachricht aus Ankara zu verkünden. Ethem Sarisülük, ein 26-jähriger
       Demonstrant, der am 1. Juni in der türkischen Hauptstadt von der Polizei
       angeschossen wurde, ist seinen Verletzungen erlegen. Die Nachricht heizt
       die ohnehin angespannte Stimmung weiter an, immer mehr Uneinigkeit über den
       Grad des Widerstandes und das Ausmaß der Forderungen kommt zum Ausdruck.
       
       Als gemäßigt gilt schon, wer nicht gleich den Sturz der Regierung und einen
       Systemwechsel fordert, sondern nur das Abtreten der für die Polizeieinsätze
       in den verschiedenen Städten unmittelbar verantwortlichen Gouverneure und
       Ermittlungsverfahren gegen gewalttätige Polizisten. Als eine junge,
       eloquente Frau, die für den Notfall ihren Namen und ihre Blutgruppe auf
       ihren Arm geschrieben hat, Entsprechendes äußert, wird sie von einem
       älteren Mann aus der Runde unterbrochen: „Unsinn! Wir brauchen einen
       kompletten Systemwechsel! Alles andere sind doch nur kosmetische
       Veränderungen!“
       
       Immer wieder sind es die Älteren in der Gruppe, die sich besonders
       aufgebracht und radikal äußern. Mehrere Frauen mittleren Alters ergreifen
       das Wort und versichern mit vor Erregung zitternder Stimme, dass sie erst
       dann weichen werden, wenn diejenigen, die ihren Kindern Gewalt angetan
       haben, zur Rechenschaft gezogen werden.
       
       Die Gefühle der hier so präsenten Elterngeneration bringt am Treffendsten
       ein weißhaariger Mann um die 60 zum Ausdruck, der sich als „Vertreter der
       Region Mardin“ vorstellt, einer Region also, die wie keine andere in der
       Türkei für das Zusammenleben verschiedener religiöser und kultureller
       Minderheiten steht: „Ich stehe hier für all die Kurden, die Christen, die
       Aramäer in meinem Heimat, all diejenigen, die vom türkischen Staat
       unterdrückt wurden und werden, aber vor allem stehe ich hier als Vater“,
       sagt er.
       
       ## „Unsere Kinder haben uns eines Besseren belehrt“
       
       „Wir Väter, die in der 68-er Bewegung aktiv waren, die bis in die neunziger
       Jahre hinein den Kampf für die Freiheit teuer bezahlt haben, die
       eingesperrt, bedroht und gefoltert wurden. Wir hatten solche Angst davor,
       dass unsere Kinder das Gleiche durchmachen, dass wir sie unpolitisch
       erzogen haben, dass wir ihnen vom Widerstand abgeraten haben. Aber unsere
       Kinder haben uns eines Besseren belehrt, sie haben uns den Glauben an eine
       bessere Zukunft wiedergegeben. Wir sind ihnen schuldig, sie weiter zu
       unterstützen und weiter zu kämpfen!“
       
       Nachdem auch die Sprecher der feministischen Frauenbewegung, der
       LGBT-Aktivisten, der „Antikapitalistischen Muslime“ und anderer Gruppen im
       Park dem Rest ihre Sicht der Dinge mitgeteilt haben, erklingt so etwas wie
       die Stimme der Vernunft. Ein junger Mann ergreift das Mikrofon: „Wir sind
       vielleicht alle aus unterschiedlichen Gründen hier, aber wir müssen
       geschlossen auftreten. Sonst spielen wir unseren Gegnern in die Hände. Es
       ist egal, dass einige von uns mehr durchgemacht haben als andere. Was zählt
       ist nicht die Vergangenheit, sondern unsere Zukunft!“
       
       Am Ende werden dann zum Unmut einiger Anwesender doch Delegierte gewählt.
       Während sie die Nacht hindurch an einer gemeinsamen Erklärung arbeiten,
       füllt sich der Taksim-Platz erneut und zum [3][dritten Mal in Folge] spielt
       der Pianist Davide Martello auf seinem Flügel beruhigende Melodien für die
       Demonstranten. Als es gegen 1 Uhr Nacht plötzlich heftig zu regnen beginnt,
       verlassen viele den Platz.
       
       Reicht inzwischen etwa schon ein Wolkenbruch, um die Demonstranten
       auseinander zu treiben? Nein. Nur wenig später, um 3 Uhr, ist der Gezi-Park
       voller als je zuvor in den letzten Tagen. Die Menschen sind auf den Beinen,
       helfen sich gegenseitig dabei, das Wasser aus ihren Zelten zu schöpfen. Ihr
       Demokratieverständnis mag unterschiedlich sein. Doch mit Solidarität kennt
       sich die Protestbewegung eindeutig gut aus.
       
       15 Jun 2013
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://taksimdayanisma.org/her-yer-taksim-her-yer-direnis?lang=en
   DIR [2] /!118173/
   DIR [3] /!118113/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Deniz Yücel
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