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       # taz.de -- Alternatives Fastenbrechen in Istanbul: Essen gegen Erdogan
       
       > Das Fastenbrechen wird in Istanbul zu einem Akt des Widerstands gegen die
       > Regierung. Ein Gezi-Demonstrant starb an den Folgen von Polizeischlägen.
       
   IMG Bild: Da schmeckt's besonders gut. Fastenbrechen in Istanbul.
       
       ISTANBUL taz | Es begann völlig unauffällig. Nur wer etwas genauer
       hinschaute, erkannte im ständigen Menschenstrom auf der Istiklal Caddesi,
       der prominenten Istanbuler Fußgängerzone, die direkt auf den Taksim-Platz
       führt, plötzlich immer mehr Leute, die Tüten voller Lebensmittel mit sich
       herumtrugen.
       
       Viele wussten, was los war. Schon seit zwei Tagen mobilisierte die Gruppe
       „Linke Muslime“ über Twitter und andere soziale Netzwerken für die
       Teilnahme an einem alternativen Iftar am ersten Tag des Ramadan, also dem
       gemeinsamen Fastenbrechen der Muslime bei Sonnenuntergang.
       
       Ungefähr um 20:30 Uhr, wenige Minuten bevor in Istanbul von allen Moscheen
       der Stadt das Ende des ersten Fastentages verkündet wurde, ging dann alles
       ganz schnell. Die ersten Leute breiteten Zeitungspapier und Tischdecken auf
       der Straße aus, andere setzten sich und packten ihre Lebensmittel auf den
       provisorischen Iftar-Tisch.
       
       Mit jeden zehn Metern, die die improvisierte Tafel länger wurde und sich in
       Richtung Taksim Platz ausdehnte, klatschten die umstehenden Leute Beifall
       und riefen den Slogan der letzten Wochen: „Überall ist Taksim, überall ist
       Widerstand“. Blitzschnell ließen sich nun immer mehr Menschen nieder. Auch
       einige Restaurants entlang der Fußgängerzone beteiligten sich an der Aktion
       und brachten abgepackte Esspakete auf die Straße hinaus.
       
       ## Zivilpolizisten auf Patrouille
       
       Mit der ungewöhnlichen Aktion protestierte die Gruppe der
       „Antikapitalistischen Muslime“ gegen die Polizeigewalt der letzten Tage, wo
       just auf der Istiklal Caddesi die Schlägertruppe der Anti-Aufstandspolizei
       noch einen Tag zuvor stundenlang Demonstranten gejagt und verprügelt hatte,
       die den angeblich wiedereröffneten Gezi-Park in Augenschein nehmen wollten.
       
       Schon vor dem Fastenbrechen hatte sich im Zentrum von Istanbul eine bizarre
       Szenerie entfaltet. Erstmals seit drei Wochen war an diesem Tag der zuvor
       so heftig umkämpfte Gezi-Park für die Allgemeinheit geöffnet. Zwar
       patroullierten etliche Zivilpolizisten um die neu bepflanzten Beete, aber
       jeder der wollte, konnte den Park betreten und sich dort niederlassen.
       
       Während vor allem Touristen in den mittlerweile berühmten Park strömten,
       begannen Vertreter der AKP direkt am Rande des Parks auf dem Taksim-Platz
       eine Bühne, Tische und Stühle für ihre Ramadanfeier aufzubauen. Unter den
       Klängen eines islamischen Schnulzensängers feierte hier am Abend ein
       ausgesuchtes Publikum die Rückeroberung des Taksim-Platzes durch die
       Staatsgewalt bei einem von der AKP-Stadtverwaltung organisierten
       Iftar-Essen.
       
       ## 19-jähriger Gezi-Demonstrant gestorben
       
       Bevor es soweit war, setzten sich aber noch die am Rande des Taksim-Platzes
       mittlerweile fest stationierten Einheiten der Polizei mitsamt Wasserwerfern
       in Richtung Istiklal Caddesi in Bewegung. Für einen Moment sah es so aus,
       als sollten tatsächlich auch fastenbrechende Muslime von Wasserwerfern und
       Polizeiknüppeln weggefegt werden. Doch die Truppe stoppte am Ausgang der
       Istiklal Caddesi auf den Taksim-Platz und sperrte lediglich die Straße.
       
       Offenbar hatten die arrivierten AKP-Muslime Angst, dass ihnen das
       antikapitalistische muslimische Fußvolk den Ramadan verderben könnte. Denn
       die improvisierte Fastentafel auf der Istiklal Caddesi wurde immer länger
       und länger und endete am Schluss genau vor der Polizeikette. Unter die
       Muslime mischten sich zusehens auch weniger fromme Anhänger der
       Gezi-Bewegung, die das erste Mal seit der Räumung des Parks wieder ein
       richtiges Gemeinschaftserlebnis genossen.
       
       „Ich habe noch nie einen so schönen ersten Ramadan-Tag erlebt“, sagte eine
       junge Frau, die einen ganz und gar säkularen Eindruck machte. Schon zuvor
       hatte Ihsan Eliacik, der bärtige Wortführer der linken Muslime, jeden
       Passanten auf der Istiklal Caddesi eingeladen, am Fastenbrechen
       teilzunehmen. „Wir schließen jeden friedlichen Menschen in unsere
       Ramadanfeier mit ein“, sagte er zu Beginn der Aktion gegenüber mehreren
       anwesenden Journalisten. „Das ist ja der Sinn des gemeinsamen
       Fastenbrechens, den unsere islamischen Politiker wohl längst vergessen
       haben“.
       
       Am Ende blieb in Istanbul an diesem Abend auch alles friedlich. Die
       schlechte Nachricht kam dann am Mittwochmorgen. In Eskisehir, einer Stadt
       auf halber Strecke zwischen Istanbul und Ankara, erlag am Morgen der 19
       Jahre alte Gezi-Demonstrant Ali Ismail Korkmaz den Verletzungen, die er
       sich Tage zuvor von Polizeischlägen geholt hatte.
       
       10 Jul 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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