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       # taz.de -- Reue? Tja. Vielleicht. Im Prinzip.
       
       > Noël Martin will nicht mehr leben. Mario P. meint, eigentlich sei er
       > nicht schuldig. Sein jüngerer Bruder Matthias liebt ihn – und verurteilt
       > seine Tat
       
       von BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA
       
       Eigentlich. Vielleicht. Im Prinzip. Diese Worte gehören zum festen
       Wortschatz von Mario P. Seit dreieinhalb Jahren sitzt der Montageschlosser
       in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg. Er hat einen schweren
       Verkehrsunfall mitverursacht, der den britischen Bauarbeiter Noël Martin
       für den Rest seines Lebens zum Krüppel macht. Dass er daran mitschuldig
       ist, bereitet Mario nicht wirklich schlaflose Nächte. Darüber zu reden, ist
       nicht sein Ding. Und überhaupt: „Eigentlich bin ich nicht schuldig.“
       
       Mario P. hält sich an Details aus der technischen Rekonstruktion des
       Tatverlaufs. Um gut zu schlafen? Dass das Ganze gar nicht geschehen wäre,
       wenn er und sein Kumpel Sandro R. die Briten nicht mit einem geklauten Auto
       verfolgt und einen Feldstein in deren Wagen geworfen hätten, darauf kommt
       er nicht – zumindest nicht von allein.
       
       ## Mario P. will sich nicht erinnern
       
       Das einzige, was Mario P. wirklich gut kann, ist Autos reparieren. Da muss
       man nur wissen, wo welche Schraube sitzt und welches Kabel wo hinführt. Um
       eine Karre flottzukriegen, braucht es keine Worte. Doch was sich jenseits
       von Kühlerhauben abspielt, stellt ihn vor Probleme. Das frisst er in sich
       hinein, wie ein Motor Kilometer. Sicher, „ab und an“ denke er an den Tag im
       Juni 1996. Besonders an Feiertagen, die im Gefängnis so lang sind. Aber er
       wehrt sich dagegen. Denn: „Sonst würde ich kaputtgehen.“ Und: „Weil es mir
       vielleicht leid tut, dass es passiert ist.“
       
       Nur wenn er explizit gefragt wird, redet er über die Tat, wegen der er noch
       vier Jahre sitzen wird, bei guter Führung vielleicht nur noch zwei. Den
       knappen Sätze merkt man an, wie schwer sie ihm fallen. „Es war eine
       spontane Handlung“, sagt er. Er erzählt, dass er die Engländer nie zuvor
       gesehen habe und dass „ein Wort das andere gab“. „Wir wollten ihnen nur
       einen Schreck einjagen.“
       
       Auch sein Kommentar zum Gefängnisalltag fällt kurz aus: „Man gewöhnt sich
       dran.“ Nur über fehlende Abwechslung klagt er. Einige Stunden Schule, etwas
       Krafttraining, Technomusik hören und jede Menge Fernsehen in der
       Dreierzelle – so sehen seine Tage aus. Seine Eltern haben ihm einen
       Pay-TV-Anschluss geschenkt. Damit der Junge beschäftigt ist und nicht auf
       dumme Gedanken kommt.
       
       ## Matthias P. will, dass Mario bereut
       
       Der 28-Jährige, korpulent, kurze Haare, Brille, unterscheidet sich von den
       Mitgefangenen durch seine Kleidung: Im Unterschied zu ihnen darf er sie
       nach seinem eigenen Geschmack auswählen. Denn seine Haut reagiert
       allergisch auf die graue Anstaltskleidung. Nicht allergisch, eher ratlos
       und überfordert reagiert er auf Fragen nach dem Warum seiner Tat. Vor der
       Antwort schickt er ein „tja“ voraus, dem ein langer Blick in Richtung
       Fenster im Besucherzimmer des Gefängnisses folgt, der schließlich an seinem
       Bruder Matthias hängen bleibt. Er ist neben den Eltern der einzige Kontakt
       nach draußen. Freunde hat er nicht.
       
       „Dass sie uns die Schuld geben, wir hätten sie abgedreht, kann ich nicht
       sagen“, sagt er schließlich, die Augen fest auf den Tisch geheftet, auf dem
       er seine Arme verschränkt hält. Als er den bohrenden Blick seines Bruders
       spürt und ihn sagen hört „Aber Du bist schon der Meinung, dass du
       gerechtfertigt sitzt“, schickt er noch einen Satz hinterher. „Eigentlich
       war es eine schwachsinnige Aktion.“ Erst als sein Kumpel den Stein warf,
       habe er gemerkt, „dass es ernst ist“: Die drei Wochen bis zur
       Gegenüberstellung bei der Polizei hat er die Geschichte mit sich
       herumgeschleppt und nichts gesagt. „Er war verschlossener als sonst, etwas
       geknickt“, erinnert sich sein Bruder. Zwischen dem Wohnort und der
       Dorfstraße, auf der die Verfolgungsjagd stattfand, liegen gerade einmal 300
       Meter. Wie er das ausgehalten hat? „Tja.“
       
       „Er drückt alles weg“, sagt Matthias P. über seinen Bruder, den er einmal
       im Monat besucht und für den er im Gefängniskiosk Bananen, Saft,
       Frühstücksfleisch oder Knabbergebäck kauft. Er meint zu wissen, dass sein
       Bruder sich – wenn auch für Außenstehende nicht sichtbar – mit seiner Tat
       beschäftige. Habe dieser sich anfangs darauf versteift, ungerecht behandelt
       zu werden, „weil er nur das Auto gefahren hat“, habe er jetzt das Gefühl,
       zu Recht zu sitzen. „Er setzt sich innerlich damit auseinander. Ich merke
       das am Wesen, wie er abblockt“, sagt sein Bruder. Außerdem gibt es all
       diese Briefe. „Mario hat früher nie geschrieben“, sagt Matthias. „Was
       hältst du davon, dass ich in eine sozialtherapeutische Anstalt gehe, um
       meine Straftat aufzuarbeiten?“, schrieb er einmal, „ich weiß halt nicht,
       was ich machen soll“. Die Therapie kam nicht zustande. Dafür hätte Mario P.
       in eine andere Anstalt verlegt werden müssen und hätte nicht den Abschluss
       der zehnten Klasse nachholen können. Auf Anraten seiner Familie hat er sich
       für den Abschluss entschieden.
       
       ## Mario P. wollte eine Therapie
       
       Matthias P. ist sich heute nicht mehr sicher, ob es richtig war, was er
       damals riet. Sicher, sein Bruder muss an sein Leben nach dem Gefängnis
       denken. Doch andererseits soll er sich – auch wenn es weh tut – mit seiner
       Tat auseinander setzen. Was tun?
       
       Die Brüder könnten unterschiedlicher nicht sein – obwohl im Elternhaus für
       beide „alles da war“, wie Matthias P. sagt. Sein Bruder hatte immer
       Probleme in der Schule, keine richtigen Freunde und Interessen, hing mit
       der rechten Dorfclique auf dem Bahnhofsvorplatz rum, die er zum Teil aus
       Schulzeiten kannte, und träumte davon, auch einmal im Mittelpunkt zu
       stehen. Matthias P. dagegen fiel die Schule leicht, er hat Abitur gemacht,
       studiert im vierten Semester Bauingenieurswesen, interessiert sich für
       Politik, fährt gerne nach England, hat Freunde und eine Freundin. Dass
       Mario nicht sein leiblicher Bruder ist, sondern als Baby adoptiert wurde,
       erwähnt er so ganz nebenbei. Es hat keinerlei Bedeutung für ihn.
       
       Vielmehr beschäftigt ihn die Frage, wieso ihre Entwicklung bei der gleichen
       Liebe und Zuwendung so unterschiedlich verlaufen ist. „Bei mir ist es ja
       auch geworden“, sagt er. Eine Antwort hat er bisher nicht gefunden. Er
       erzählt, wie er als Kind versucht hat, seinen schon volljährigen Bruder von
       den Besuchen bei der rechten Dorfclique, „den Idioten“, abzuhalten. Doch
       der beruhigte ihn mit Sätzen wie „Ich mach schon nichts“. Matthias P.
       beließ es dabei. Bis Mario doch etwas machte.
       
       Als die Polizei im Sommer 1996 das erste Mal bei ihnen zu Hause war, dachte
       Matthias P. nur: Missverständnis. Nie habe sich sein Bruder abfällig über
       Ausländer geäußert. Als sich herausstellte, dass es sich nicht um ein
       Missverständnis handelte, musste sich Matthias P. erst an diesen Gedanken
       gewöhnen, dass sein Bruder wegen Ausländerfeindlichkeit einen Mann in den
       Rollstuhl gebracht hatte. Zum Prozess ging er nicht. „Ich wollte mich nicht
       im Fernsehen sehen.“ Als er das Urteil im Autoradio hörte, überfuhr er vor
       Schreck eine rote Ampel.
       
       Mittlerweile hat auch er Schutzmechanismen entwickelt. Nur die Gründe dafür
       sind andere. Weil er sich all die Gedanken macht, die sich sein Bruder
       nicht macht, geht ihm dessen Tat näher, als ihm lieb ist. „Es ist ein
       völliger Irrsinn, jemanden anzupöbeln, eine Verfolgungsjagd zu machen und
       dann noch einen Stein zu werfen. Darauf gibt es keine Antwort.“
       
       Denkt er an Noël Martin, der Zeit seines Lebens gelähmt bleiben wird und an
       seinen Bruder, der nach Ablauf seiner Strafe eine Lehre machen, an die
       Ostsee fahren und ein halbwegs normales Leben führen kann, ist er hin- und
       hergerissen. „Herr Martin ist viel schlimmer dran“, sagt er, „es ist viel
       angenehmer, im Gefängnis als bewegungslos im Rollstuhl zu sitzen“. Matthias
       P. weiß, dass er in seiner Verurteilung härter wäre – wenn nicht sein
       Bruder der Täter wäre.
       
       ## Noël Martin denkt oft an den Tod
       
       Das was Matthias für Mario ist – Halt und Hoffnung – ist für Noël Martin
       seine langjährige Lebensgefährtin Jaqueline. Die Engländerin hat nach dem
       Unfall ihren Job an der Börse gekündigt und sich rund um die Uhr um ihn
       gekümmert. Sie hat ihn gewaschen und gefüttert, sie hat seinen Körper
       aufgerichtet, wenn er nach vorne gerutscht ist, sie hat ihn nachts an die
       Matratze gebunden, damit er nicht herunterfällt. Bei Hustenreiz hat sie ihm
       auf den Bauch gedrückt, damit er nicht erstickt. Und sie hat ihm aus
       Pferdebüchern vorgelesen. Seit Noël Martin als Zehnjähriger mit seiner
       Familie aus Jamaika nach Birmingham kam, hatte er einen Traum: Er wollte
       Rennpferde haben, wie schon sein Großvater auf Jamaika. Und Jackie hat
       darum gekämpft, dass sie ihr denkmalgeschütztes Ziegelhaus in Birmingham,
       das sie auf Kredit gekauft haben, nicht verlieren. „Jackie ist der
       wirkliche Grund, warum ich überhaupt noch leben will“, hatte Noël Martin im
       Juni 1997 gesagt, als ihn die Autorin ein Jahr nach der Attacke besuchte.
       Noël und Jackie hatten einen „Pakt“ geschlossen, der vorsah, dass sie es
       zehn Jahre lang gemeinsam versuchen. „Wenn sich in der Zeit körperlich bei
       mir nichts verbessert – die Ärzte haben mir eine Chance von eins zu einer
       Million gegeben – dann werde ich wohl um Sterbehilfe bitten“, sagte er
       damals.
       
       Seit dem 12. April denkt Noël Martin oft an den Tod. An diesem Tag ist
       Jaqueline gestorben. Sie hatte Krebs. Zwei Tage zuvor hatten die beiden
       geheiratet. „Ich habe alles verloren“, sagte Noël Martin, als er drei Tage
       vor dem Gefängnisbesuch bei Mario P. anruft. Unter Tränen sagt er, dass er
       nicht mehr leben will. „Ich habe keine Hoffnung mehr.“
       
       Ein Jahr nach der Verfolgungsjagd sprach Noël Martin noch ohne Hass über
       Mario P. und Sandro R. Doch weil er glaubt, dass seine Freundin wegen der
       großen Belastung krank wurde, hat er seine Meinung geändert: „Sie haben
       nicht nur mein Leben zerstört, sondern auch das von Jackie.“ Von dem Besuch
       der taz im Gefängnis erhofft er sich nur eines: Die Beantwortung einer
       Frage. „Warum haben sie mir das angetan?“
       
       ## Mario P. tut es leid. Im Prinzip
       
       Am Ende der einstündigen Besuchszeit sagt Mario P.: „Es tut mir im Prinzip
       leid, dass es so weit gekommen ist. Ich würde es gerne rückgängig machen,
       aber passiert ist passiert.“ Ob er will oder nicht, seine Tat wird ihn bis
       ans Ende seines Lebens beschäftigen – zumindest auf seinen Kontoauszügen.
       Demnächst wird über die Schadensersatzklage über 265.000 Mark verhandelt.
       „Von der Höhe her ist das ungerecht“, findet er. Wiedergutmachung hat er
       nur seinen Eltern versprochen, die fast zerbrochen sind damals. Wie er das
       machen will? „Gute Frage“, lautet die Antwort. Nach einem kurzen
       hilfesuchenden Blick zu seinem Bruder sagt er: „Ordentlich werden.“ Dabei
       lächelt er wie ein Kind, das im entscheidenden Moment das Richtige gesagt
       hat.
       
       13 Jun 2000
       
       ## AUTOREN
       
   DIR BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA
       
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