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       # taz.de -- ■ Das Massaker in Chiapas zeigt scheinbar: Der Kreislauf der Gewalt ist nicht stoppen, die Indios sind ewige Opfer. Doch der Eindruck täuscht: Barbarei und Zivilisation
       
       Massaker sind, wenn sie öffentlich werden, Medienereignisse. Je wehrloser
       die Opfer, desto größer die medial verbreitete Betroffenheit. So auch in
       Mexiko: Der Mord an 45 indianischen Frauen, Männern und Kindern in Acteal
       hat Mexiko in einen Schockzustand versetzt, in dem viel von „Scham“ und
       Betroffenheit die Rede ist, aber wenig von einem analytischen Blick zu
       merken ist.
       
       Vor der schleichenden Paramilitarisierung des „kühlen Krieges“ von Chiapas
       wird schon lange gewarnt. Seit Wochen sind zivile EZLN-AnhängerInnen auf
       der Flucht vor Attacken bewaffneter Stoßtrupps, die im Namen der
       Regierungspartei PRI gegen die „Subversion“ vorgehen. Es mag pervers
       klingen – die Killer von Acteal haben wieder eine Öffentlichkeit für die
       Zapatisten geschaffen. Chiapas, seit langem aus der Wahrnehmung des
       medialen Mainstreams gebannt, ist wieder in den Schlagzeilen. Allerdings
       weniger als Schauplatz politischer Auseinandersetzungen, sondern vielmehr
       als ewiges „Pulverfaß“, als „offene Wunde“ und Szenerie für archaisch
       anmutende Gewaltausbrüche. In der Opferrolle: wieder einmal die Indios,
       verfolgt, hilflos, schutzbedürftig – und irgendwie auch unerklärlich. So
       werden „die Indios“, als Opfer und „Kanonenfutter“, auf einmal wieder zu
       Objekten öffentlicher (Für-)Sorge. Als selbstbewußte Akteure dagegen waren
       sie den meisten wohl noch nie ganz geheuer.
       
       Im permanenten Zweikampf zwischen Zivilisation und Barbarei, so meint heute
       mancher Kommentator, habe mit dem Skandal von Acteal endgültig das
       „barbarische Mexiko“ die Oberhand gewonnen. Und verkennt dabei, daß
       Zivilisation und Barbarei zwei ineinander verschlungene Stränge derselben
       Entwicklung sind – der Transformation einer Gesellschaft. Daß Gewalt kein
       geschlossener Kreislauf ist, wie das heute wieder gern bemühte Bild des
       Teufelskreises suggeriert, sondern in offenen Spiralen verläuft.
       
       Ein fataler politischer Effekt des Massakers ist, daß die Debatte um die
       zapatistische Provokation nun wieder auf die allerelementarste Ebene
       zurückgeworfen wird. Es geht nicht mehr ums Recht auf Differenz und
       Teilhabe des indianischen Mexiko, sondern schlicht um das Recht auf
       Überleben. Vier Jahre nach dem Zapatisten-Aufstand sieht es so aus, als
       hätten die Indios im Süden des Landes am allerwenigstens an den Umwälzungen
       der Republik partizipiert. Das bislang einzige Abkommen, das Autonomie- und
       Kulturrechte für die indianische Bevölkerung vorsieht, liegt seit knapp
       zwei Jahren in den Schubladen. Elend und Repression bestimmen noch immer
       das Bild.
       
       Und dennoch: Die Eskalation der Gewalt ist nicht so sehr Ausdruck des
       Immergleichen der Verhältnisse, sondern ihrer Veränderung. So ist die
       gezielte Hinrichtung von zapatistischen Basisgruppen in Acteal kein
       spontanes oder gar irrationales „Brodeln“, sondern vielmehr eine – kühlen
       Kopfes geplante – Gegenwehr lokaler Machteliten. Denn nicht nur das
       PRI-Monopol im Zentrum, das mit dem Wahlsiegen der Opposition erheblich
       angeknackst wurde, auch das feinmaschige Netz der Kontrolle durch die
       traditionellen Dorfautoritäten ist in oligarchisch geprägten Bundesstaaten
       wie Chiapas löchrig geworden.
       
       Die neuen Todesschwadronen traten just in dem Moment auf den Plan, als
       zapatistisch inspirierte Gemeinden Anfang 1995 mit der Organisation
       autonomer Gemeinderäte beginnen. Anders als die berüchtigten Weißen Garden
       der Vergangenheit, die Haciendas bewachten, sollen die modernen
       Paramilitärs in erster Linie politisches Territorium verteidigen.
       
       Auch im Rest des Landes gibt es auf den ersten Blick wenig Grund für eine
       Euphorie. Die durch die EZLN und die Wahlsiege gespeiste Ya-Basta-Stimmung
       bricht sich an der nach wie vor extrem ungleichen Einkommensverteilung und
       der Korruption. Die Kluft zwischen Eliten und Marginalisierten ist nicht
       kleiner geworden, kein Politattentat der letzten Jahre wurde aufgeklärt,
       und die Opposition, die in den Parlamenten Terrain gewannen, konnte bislang
       weder eine andere Wirtschaftspolitik noch eine tiefgreifende Justizreform
       durchsetzen.
       
       Und dennoch – die mexikanische Gesellschaft bewegt sich. Im Schlingerkurs,
       zuweilen im Zickzack, aber sie bewegt sich. Weil der tiefverwurzelte
       Autoritarismus das Grundübel der mexikanischen Misere ist, ist jeder noch
       so zaghafte Demokratieversuch die Voraussetzung für alles weitere.
       
       Zwei Daten gelten heute als Wegmarkierungen des neuen Mexiko: Der 6. Juli,
       jener denkwürdige Wahltag, an dem die PRI erstaunlich widerstandslos dem
       Wählervotum folgte. Und der 22. Dezember, an dem Teile des Imperiums in
       Chiapas zurückschlagen. Beide Daten, jeweils Synonyme für Zivilität und
       Barbarei, bilden zusammen so etwas wie eine „Demokratisierungssynthese“,
       und beide wären ohne die Zapatisten so nicht denkbar.
       
       Daß die Eliten weiter gutgelaunt auf die Macht verzichten, kann nicht
       ernsthaft erwartet werden. Die Krake ist verwundet, aber nicht tot. Es
       bleiben ihr viele Tentakel: Manche schlagen um sich, andere umarmen ihre
       Gegner, manche schlingern ziel- und kraftlos hin und her. Die Krake
       zerfällt. Gerade dieser Verfallsprozeß aber macht sie so gefährlich, weil
       nur noch bedingt berechenbar. So ist das Massaker von Acteal kaum als vom
       Präsidenten höchstpersönlich angeordneter Völkermord zu begreifen. Vielmehr
       hat hier, um im Bild zu bleiben, ein Tentakel die Initiative ergriffen, das
       der offiziellen Strategie des Aussitzens nicht mehr über den Weg traute.
       Die politische Verantwortung der Restkrake, sei es für Laisser-faire oder
       für Komplizenschaft, ist eindeutig.
       
       Verantwortlich für den weiteren Konfliktverlauf ist aber auch eine andere
       Akteurin: die Öffentlichkeit, jene globalisierte Zivil- und
       Mediengesellschaft, die die Kalküle von Regierung wie Rebellen wesentlich
       beeinflußt hat. Wie kaum ein anderer Konflikt der 90er ist Chiapas ein
       Beispiel für die zentrale Rolle veröffentlichter Meinung, von Mainstream
       bis Internet.
       
       Anders als im medial simulierten Golfkrieg standen hier nicht
       Gleichschaltung und Manipulation im Vordergrund, sondern auch so altmodisch
       anmutende Funktionen wie Aufklärung und Herrschaftskritik. Wenn es dieser
       Öffentlichkeit, also uns, nun noch gelänge, die fatalistischen Stereotypen
       und die „Pulverfaß“-Rhetorik zu überwinden, wäre einiges gewonnen. Auf daß
       „los indios“ uns nicht immer nur wieder als Opfer in den Blick geraten.
       Anne Huffschmid
       
       6 Jan 1998
       
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