URI: 
       # taz.de -- Wenn Kinder ihre Eltern verlassen: „Diese furchtbare Sehnsucht“
       
       > Viele Eltern lügen lieber, statt zuzugeben, dass ihre Kinder den Kontakt
       > abgebrochen haben. Die Psychotherapeutin Dunja Voos behandelt sie.
       
   IMG Bild: Für verlassene Eltern können besonders die Wintertage einsam sein.
       
       taz: Sie beraten als Psychotherapeutin Eltern, die von ihren Kindern
       verlassen worden sind. Gibt es das oft? 
       
       Dunja Voos: Zu mir kommen tatsächlich häufig Eltern, die verlassen werden,
       aber auch die Kinder, die ihre Eltern verlassen. Das ist aber immer noch
       ein Tabuthema.
       
       Warum? 
       
       Wenn Eltern von ihren Kindern verlassen werden, sprechen sie nicht darüber,
       weil sie das Gefühl haben, als Eltern versagt zu haben. Oft reden sich die
       betroffenen Eltern raus, indem sie Geschichten erfinden, warum das Kind
       etwa nicht zu Weihnachten kommen kann. Sie sagen nicht, unser Sohn oder die
       Tochter hat den Kontakt abgebrochen, weil sie unglaubliche Schuldgefühle
       haben.
       
       Wissen die Eltern, warum sie verlassen worden sind? 
       
       Meistens können sie sich das selbst nicht erklären. Aus ihrer Sicht haben
       sie alles gegeben, was sie konnten und sagen oft, es sei nie etwas Großes
       vorgefallen. Hört man hierzu allerdings die Kinder, gewinnt man eine andere
       Sicht auf die Dinge. Die Kinder erzählen oft von Schlägen, Liebesentzug,
       davon, dass sie weggesperrt wurden. In den Augen der Eltern war es hingegen
       nicht mehr als ein Klaps, den sie gegeben haben, und den haben sie
       anschließend verdrängt.
       
       Der Bruch kommt für die Eltern also abrupt? 
       
       Für die Eltern kommt er unerwartet, auch wenn sie zugeben, dass das
       Verhältnis schwierig war. Bei den Kindern findet hingegen eine jahrelange
       Denkarbeit statt. Sie führen Tagebuch, lesen viel über das
       Eltern-Kind-Verhältnis. Viele machen eine Psychotherapie und merken
       währenddessen, dass ihre Probleme aus der Kindheit kommen. Sie distanzieren
       sich dann Schritt für Schritt. Überlegen, ob sie zu Weihnachten anrufen
       oder nicht und schließlich, ob sie den Kontakt ganz abbrechen sollen. Davon
       bekommen die Eltern natürlich nichts mit. Nach und nach findet eine
       Entfremdung statt.
       
       Könnten Sie einen typischen Fall aus der Praxis schildern? 
       
       Nicht selten verlassen Frauen Anfang 40 mit unerfülltem Kinderwunsch ihre
       Eltern. Sie geben an, keine Familie gründen zu können, weil sie mit diesen
       Eltern aufgewachsen sind. Ich erinnere mich an eine Patientin, die mit dem
       Wunsch zu mir kam, sie soweit zu begleiten, dass sie nach einem von ihr
       definierten Zeitraum wieder auf ihre Eltern zugehen könnte. Allerdings
       starb ein Elternteil, bevor dieses Ziel erreicht worden war. Auch das
       zeigt, wie folgenreich ein Entschluss sein kann, den Kontakt abzubrechen.
       
       Mit welchem Bedürfnis oder Wunsch kommen die Eltern, die verlassen wurden,
       zu Ihnen? 
       
       Fast alle mit der Frage, wie sie mit dieser furchtbaren Sehnsucht, die ja
       fast an körperlichen Schmerz grenzt, umgehen können. Es geht um die
       Bewältigung dieses unglaublichen Ohmachtsgefühls, mit dem sie alleine nicht
       zurecht kommen.
       
       Gibt es eine bestimmte Zeit im Leben, in der Kinder ihre Eltern eher
       verlassen? 
       
       Auf jeden Fall. Vor allem wenn die Kinder eine eigene Familie gründen
       wollen. Sie merken auf einmal, dass bei den Freunden alles anders ist. Im
       Gegensatz zu ihnen finden die einen Partner, sie bekommen das Kind, sie
       bauen das Haus, sie machen ihren Abschluss. Betroffene fragen sich dann,
       warum das bei ihnen wiederum so schwer ist. Sie finden keinen Partner, weil
       sich die frühen Probleme mit der Mutter oder dem Vater in ihrer
       Partnersuche widerspiegeln. Viele Frauen, die sich in dieser Lebensphase
       befinden, verzweifeln und brechen dann den Kontakt zu ihren Eltern ab.
       
       Die Entscheidung zum Bruch wird also von außen beeinflusst? 
       
       Das ist oft die Vermutung der Eltern, die denken, dass etwa der neue
       Partner schuld ist. Meine eigenen Eltern waren damals sogar bei der
       Sektenberatung. Die Sekte ist für Eltern ein Symbol dafür, dass ihr Kind
       nicht selbständig denkt und von außen manipuliert wird. Wohingegen für das
       Kind ganz klar ist, dass dies die eigene Entscheidung ist.
       
       Sie selbst haben Ihre Eltern verlassen? 
       
       Ich habe damals den Kontakt abgebrochen, ja. Glücklicherweise habe ich dann
       eine hervorragende Analytikerin gefunden, die mich auf dem Weg zurück zu
       meinen Eltern begleitete. Jetzt ist das Verhältnis wieder wunderbar, was
       mir gezeigt hat, dass sich auch verfahrene Situationen wieder lösen können
       und es wieder komplett neue Beziehungen geben kann.
       
       Das bedeutet, wenn die Fronten verhärtet sind, können Eltern nur abwarten? 
       
       Sie sollten das machen, was sie in dem Moment empfinden. Das Kind merkt, ob
       man sich authentisch verhält. Sie können ihre Sehnsucht in einem Brief zum
       Ausdruck bringen, allerdings ohne Schuldzuweisungen zu machen. Sehr viele
       Eltern versuchen, solche Brief unter professioneller Anleitung zu
       schreiben. Das schadet aber nur. Das Kind merkt, ob da jemand anderes mit
       im Spiel ist.
       
       Würden Sie sagen, diese Art von Entfremdung ist eine Generationenfrage? 
       
       Oft hört man, es hänge mit dem Zweiten Weltkrieg zusammen. Wenn eine
       Flüchtlingsmutter und ein 'Täter'-Vater zusammenkommen, gibt es so viele
       Traumata, über die niemand spricht, die aber an die Kinder weitergegeben
       werden. Sabine Bode greift diese Problematik in ihren Büchern über die
       Kriegskinder und Kriegsenkel auf. Oftmals erfuhren die Eltern bei deren
       eigenen Eltern einen enormen emotionalen Mangel, so dass es ihnen selbst an
       emotionaler Wärme fehlt.
       
       Das heißt, das Phänomen würde verschwinden, sobald die Generation, die
       mittel- oder unmittelbar von den Kriegsfolgen beeinflusst wurde,
       ausgestorben ist? 
       
       Das Generationenproblem wird es immer geben. Neues Potential erkenne ich
       etwa in der frühen Mutter-Kind-Trennung bei der hiesigen Kita-Entwicklung.
       Die Bindungsforschung weiß, die ersten drei Jahre im Leben eines Kindes
       sind essentiell für die Beziehung zwischen Mutter und Kind. Ich halte diese
       Entwicklung für die Psyche der Kinder sehr bedenklich, weil die Kinder
       später diesen Mangel spüren werden.
       
       Redet man nicht gleichzeitig von Helikoptereltern? 
       
       Auch Übermütter haben oft wenig Gespür für das Kind. Sie schaffen eine
       perfekte Welt, weil es ihnen eben an Gefühl fehlt. Ich könnte mir
       vorstellen, dass auch diese Kinder später Mangelgefühle entwickeln, wobei
       die Mutter natürlich denkt, sie hätte alles getan.
       
       2 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefanie Schmidt
       
       ## TAGS
       
   DIR Eltern
   DIR Kinder
   DIR Trennung
   DIR Therapie
   DIR Psychoanalyse
   DIR Familie
   DIR Flüchtlinge
   DIR Rainer Maria Rilke
   DIR Amazon
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Familiäre Probleme: Mit Eltern Schluss machen?
       
       Wenn in einer Partnerschaft die Liebe fehlt, trennt man sich. Ganz einfach.
       Mit Eltern geht das aber nicht – oder doch?
       
   DIR Flüchtlingskinder in Kitas: Wenn der Elefant ein Panzer ist
       
       Flüchtlingskinder sind oft traumatisiert und sprechen kaum Deutsch, wenn
       sie in eine Kita kommen. In Sachsen hilft ein neues Projekt, sie willkommen
       zu heißen.
       
   DIR Künstlerin Paula Modersohn-Becker: Warum sollten sie lachen?
       
       Paula Modersohn-Becker ist mit einer Schau im Museum Louisiana in
       Kopenhagen vertreten. Die Malerin wird endlich auch international beachtet.
       
   DIR Betriebsseelsorger über Arbeitnehmer: „Prekär Beschäftigte sind abgekoppelt"
       
       Festangestellte können angesichts der guten Konjunktur bessere
       Arbeitsbedingungen aushandeln. Doch der Rest bleibt abgehängt, kritisiert
       Erwin Helmer.