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       # taz.de -- Der Kampf um Wohnraum: Bis auf den Grund
       
       > Wohnst du noch oder demonstrierst du schon? Die eigenen vier Wände sind
       > die neue soziale Frage. Dabei liegen die Antworten nicht mehr nur in der
       > Mietenpolitik. 
       
   IMG Bild: Demonstration gegen „Verdrängung und Mietenwahnsinn“ im April 2018
       
       [1][Von Tom Strohschneider ] 
       
       Das muss sie sein, die Stadtgesellschaft, von der die Berliner
       Landesregierung so gern spricht. Ein älteres Pärchen, übrig geblieben von
       den Ureinwohnern Ostberlins. Höfliche akademische Neubürger mit buntem
       Schal neben einer Mutter mit Kind, die gar nicht verbergen will, dass es
       für Markenklamotten nicht reicht. Ein paar Jüngere aus der Abteilung
       politische Initiative gegen Gentrifizierung mit schwarzen Jacken und
       Rucksäcken. 
       
       Der Treppenaufgang gerammelt voll. Im Hof drängeln die Regenschirme über
       den Köpfen. Jemand hat einen ordentlich gefalteten Zettel in der Hand, eine
       Wortmeldung vielleicht, ein paar Fragen. Doch irgendwann wird in der Kälte
       vor dem Kulturzentrum Acud an diesem Januarabend klar, dass zumindest diese
       Rede ungehalten bleiben muss. Oben birst der Saal aus allen Nähten. Kein
       Einlass mehr. Es sind Dutzende, die umkehren müssen. 
       
       Ausgerechnet in der Stadt, in der es wahrlich keinen Mangel an politischer
       Abendunterhaltung gibt, ist wieder eine Veranstaltung über die
       Wohnungsfrage völlig überlaufen. Es soll um die Mietenexplosion gehen, um
       das Gebaren der Investoren, darum, was der rot-rot-grüne Senat dagegen tut,
       und um das, was die zuständige Senatorin Katrin Lompscher von der
       Linkspartei alles noch nicht angepackt hat. Vorkaufsrecht, kooperatives
       Baulandmodell, Milieuschutzgebiet – die Debatte klingt bisweilen wie ein
       Seminar in Stadtentwicklung. Doch die Gesichter im Acud sagen es: Hier sind
       alle Experten. 
       
       ## Wohnen ist die neue soziale Frage
       
       Ums Wohnen dreht sich die neue soziale Frage, seit ein paar Jahren schon.
       Natürlich wurde immer schon gegen zu hohe Mieten, gegen Verdrängung
       protestiert. Man muss sich nur einmal die Plakate der historischen
       Arbeiterbewegung anschauen. Oder die Gründungserklärung des Sozialistischen
       Maikomitees Friedenau, das 1968 »die Wohnungsfrage« ganz mit nach oben in
       sein Arbeitsprogramm hievte. Die Hausbesetzertradition. Die Baugruppen. 
       
       Mieten und Mafia sind, zumal in Berlin, traditionell Begriffe gleicher
       Herkunft. Hier wurde mit einem Grundbedürfnis »demokratisch« flankiert
       immer schon ordentlich Profit gemacht. Und doch ist es heute anders, nicht
       nur in der Hauptstadt. 
       
       »Wohnungsnot ist zu einer sozialen Wirklichkeit geworden, die
       gesellschaftspolitisches Konfliktpotenzial birgt«, beklagt Peter Neher von
       der kirchlichen Caritas. Münchens Sozialreferentin Dorothee Schiwy kann ein
       Lied davon singen, in der bayerischen Landeshauptstadt steigen die Mieten
       immer weiter, inzwischen könnten sich auch immer mehr Fachkräfte ein Leben
       dort nicht mehr leisten. 
       
       In Nordrhein-Westfalen bleibt über 320.000 Menschen nach Abzug der Miete
       nur noch ein Resteinkommen unter Hartz-IV-Niveau. Landesweit stehen nur
       knapp 470.000 Sozialwohnungen zur Verfügung, nur etwa die Hälfte der
       benötigten Zahl. Und die Landesregierung aus CDU und FDP will auch noch die
       soziale Wohnraumförderung um anderthalb Milliarden Euro kürzen. 
       
       ## Keine Angelegenheit nur der unteren Einkommensklassen
       
       Längst geht es auch nicht mehr nur um ein paar boomende Sorgenstädte, in
       denen das Wohnen zur Überlebensfrage geworden ist. Das Problem gehe
       »deutlich über die Metropolen und Ballungsräume hinaus«, heißt es beim
       Gutachterinstitut Prognos. Und es ist auch keine Angelegenheit nur der
       unteren Einkommensklassen. »Die Bezahlbarkeit von Wohnraum ist für mehr als
       die Hälfte der Bevölkerung eine finanzielle Herausforderung«, sagt der Chef
       der Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt, Robert Feiger. 
       
       Der Wohnungsmangel ist »in der Mitte der Gesellschaft« angekommen, stellt
       Feiger fest. Dort, in der Mitte der Gesellschaft, kann er zum Hebel werden.
       Lange schon ist nicht mehr so viel über Mietenpolitik und die politische
       Dimension des Wohnens und Bauens gesprochen worden. 
       
       In der Mitte der Gesellschaft drängeln sich aber auch die Interessen
       besonders. Mit dem Bauen von Wohnungen kann man nicht nur Geld verdienen.
       Es sichert auch Arbeitsplätze. Es ist ein Wirtschaftsfaktor. Bauen ist
       stadtpolitisch eine Herausforderung. Die Wohnungsfrage ist Sozialpolitik,
       Umverteilung und Kultur in einem. Sie ist ein politischer Behälter, in den
       viele Träume und Visionen passen. Und sie ist das Feld, auf dem Wünsche
       nach Veränderung in Bauschutt, altem Lobbysumpf und Genehmigungsbürokratie
       versinken können. 
       
       Im Acud in der Veteranenstraße sagt Andrej Holm, dass Einzelinstrumente
       gegen den Wohnungsmangel »nie ausreichen werden«. Der Mann kennt sich aus
       und wurde als Stadtsoziologe zum Gesicht der Kritik an Verdrängung. Holm
       war kurz Staatssekretär in Berlin, seine Exchefin Lompscher antwortet, »die
       Erwartungen sind höher als das, was wir in der Realität einlösen können«. 
       
       ## Der Bedarf an Wohnraum wächst nicht nur Berlin
       
       Man kann das über Berlin hinaus verallgemeinern. Was wurde nicht alles
       versucht in den vergangenen Jahren. Ein Bündnis von Verbänden trommelte für
       den Wohnungsbau und öffentliche Unterstützung. Seit dem Krisenjahr 2009,
       als laut Prognos bundesweit nur 159.000 neue Wohnungen fertiggestellt
       wurden, zog der Bau deutlich an – 2016 waren es schon 278.000 Wohnungen.
       Genehmigt wurden allerdings weit mehr, nämlich rund 375.000 neue Wohnungen.
       Zumal die Nachfrage viel deutlicher ansteigt. Für 2017 rechnet das Münchner
       Ifo-Institut mit gut 300.000 fertiggestellten Wohneinheiten, zugleich wird
       damit gerechnet, dass es einen Markt für rund 350.000 neue Wohnungen pro
       Jahr gibt. 
       
       Mindestens. Beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung geht man von
       einem Bedarf von bis zu 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr aus. Und deshalb
       macht es vielen Sorgen, wenn nun die Ökonomen erklären, es kündige sich
       schon »das Ende des Neubaubooms an«. Zumal, was heißt das schon: Boom? Es
       werden die falschen Wohnungen an den falschen Stellen gebaut, zu große
       Flächen, zu teure Mieten. Selbst das unternehmensnahe Institut der
       deutschen Wirtschaft in Köln klagt: »Wir bauen am Bedarf vorbei.« 
       
       Und nicht alle Widersprüche lassen sich so einfach aufheben. Was, wenn die
       Bewohner von Sozialwohnungen längst die dafür vorgesehenen
       Einkommensgrenzen überschritten haben? Was, wenn gewünschte kulturelle
       Aufwertung die Mieten unerwünscht anziehen lässt? Was, wenn Senioren allein
       in großen Wohnungen leben, die ärmere Familien mit Kindern eher bräuchten?
       Für Berlin gibt es dazu Zahlen vom Institut Arbeit und Technik: Ältere
       wünschen sich im Schnitt eine um 23 Quadratmeter kleinere Wohnung – würde
       man die schaffen, könnten über 200.000 Wohnungen ab 100 Quadratmeter frei
       werden. Könnten, aber wie macht man das? 
       
       Man kann nicht behaupten, dass politische Initiativen wie das Bündnis für
       bezahlbares Wohnen und Bauen den Knoten schon durchschlagen hätten. Nicht
       einmal das Angebot an preiswertem Wohnraum ist ausreichend gestiegen. Die
       Idee, die Bautätigkeit zu intensivieren, um so über die Angebotsausweitung
       eine preisdämpfende Wirkung zu entfalten, scheint gescheitert. Die
       Verdreifachung der Wohnbauförderung für die Länder auf 1,5 Milliarden durch
       den Bund: offenbar ohne ausreichende Wirkung. 
       
       ## Die Mietpreisbremse wirkt nicht
       
       Die Wohngeldreform von 2016, mit der die Unterstützung für ärmere Haushalte
       erhöht wurde, erweist sich in der Zwangsjacke »einer grundsätzlich
       marktwirtschaftlich ausgerichteten Wohnungs- und Mietenpolitik«, wie sie
       die bisherigen Bundesregierungen verfolgten, als indirekte Subvention der
       Renditeerwartungen von Eigentümern – die Mietzuschüsse fließen praktisch
       »durch«. Laut dem jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht erhielten 2015 rund
       4,3 Millionen Haushalte insgesamt 16,1 Milliarden Euro als Unterstützung
       bei den Wohnkosten – entweder über das Hartz-System oder als Wohngeld. Das
       ist mehr als jeder zehnte Haushalt in der Bundesrepublik. Auch die
       Mietpreisbremse wirkt nach Ansicht vieler Experten nicht – zu viele
       Ausnahmen, zu wenige Sanktionen bei Verstößen. 
       
       So steht es in den Zeitungen, eigentlich schon seit Jahren. Wer im völlig
       überfüllten Acud genau hinhört, kann dennoch einen neuen Ton durch die
       Debatte über die Wohnungsfrage klingen hören. 
       
       Es wird wieder über Profit gesprochen und darüber, was diesen einhegen
       könnte. Es wird über Eigentum geredet und welche Rolle der Preis für
       Bauland auf die spätere Miete hat. Es spielt öfter mal eine Rolle, dass
       eine Gesellschaft der Zukunft auch andere Formen des Wohnens braucht, also
       auch andere Wohnungen. 
       
       Bisher schlägt die Ökonomie voll durch, Tauschwert statt Gebrauchswert, da
       helfen auch alle Regulierungsversuche nicht viel. Deshalb, auch das mag
       etwas damit zu tun haben, dass die Wohnungsfrage »in der Mitte der
       Gesellschaft« angekommen ist, fordert sogar das sozialdemokratische
       Urgestein Hans-Jochen Vogel, die Eigentumsfrage zu stellen. 
       
       ## Darf Boden Privateigentum sein? 
       
       Vogel, einst Bürgermeister unter anderem in Berlin und München, hat einen
       denkwürdigen Auftritt im Dokufilm The Property Drama, den sogar die
       Frankfurter Allgemeine Zeitung zum »Pflichtprogramm an Schulen und in
       Behörden erklären« wollte. Ohne Grund und Boden zu beanspruchen, könne man
       nicht leben, sagt Vogel in dem Streifen – und wirft damit eine Kernfrage
       auf: Können Gesellschaften sich es überhaupt leisten, dass Boden
       Privateigentum ist? 
       
       Was die Filmemacher Christopher Roth und der Zürcher Architekt Arno
       Brandlhuber bewegt, ist letzten Endes die Frage, wie man aus einem System
       herauskommt, in dem der Verlust der öffentlichen Kontrolle über den Boden
       eine Radikalisierung der Marktkräfte ermöglichte, die nicht nur auf die
       Baupolitik wirkt, sondern überhaupt auf städtische Kultur, auf Spielräume
       demokratischer Gestaltung. 
       
       Es ist eine Frage, die viel mit dem zu tun hat, was an diesem Januarabend
       im Acud besprochen wird. Auch eine, zu der Antworten nicht eben wie
       Kieselsteine auf der Straße liegen. Im Acud sagt Julian Benz vom
       »Mietshäuser Syndikat«, die Hauptstadt könne man mit einem großen
       Tankschiff vergleichen, der bau- und wohnungspolitisch seit Jahren in die
       falsche Richtung fährt. »Bis der umkehrt«, könnten zehn bis zwanzig Jahre
       vergehen. 
       
       Das Syndikat kümmert sich darum, dass Wohnraum selbstorganisiert zu
       Gemeineigentum wird. Eine mögliche Alternative. Es gibt andere, aber in
       vielen ist die Idee verankert, dass man »bis auf den Grund« gehen muss, um
       wirklich die Richtung zu ändern. Sozusagen auf den Boden der kritischen
       Tatsachen. Über den Hof des Acud in Berlin hängt ein Transparent – Motto:
       Wer über das andere Wohnen reden will, muss der Sache auf den Grund gehen.
       Nämlich sagen: Wem dieser Grund gehört. Und ob das so bleiben kann. 
       
       ## Die Wohnungsfrage radikalisiert sich
       
       »In der Mitte der Gesellschaft« angekommen, scheint sich die Wohnungsfrage
       sogar noch zu radikalisieren. Wohnungsbau als Kern von
       Gesellschaftspolitik? Von links hört man, im Stadtraum müsse
       »Umverteilungspolitik ansetzen«. Von den Grundbedingungen kommunaler
       Handlungsmacht ist die Rede, von Planungsspielräumen. 
       
       Andere zitieren Goethe: »Eine schlechte Wohnung macht brave Leute
       verächtlich.« Es werde keine Stadt mehr so sein, »wie wir sie mögen, wenn
       nur Geld entscheidet, wer wo wohnt«, haben Politiker von Linkspartei und
       Grünen unlängst gewarnt. Der Appell war in Richtung der
       Koalitionsverhandlungen gerichtet. 
       
       »Warum schweigt die Gesellschaft dazu, warum ist das überhaupt kein
       Problem, das auf der Tagesordnung erkennbar ist?«, fragt Hans-Jochen Vogel
       in dem Film mit Blick auf Bodenpreise und Spekulation. Es ist ja auf der
       Tagesordnung, doch auch wenn immer mehr Leute darüber reden, heißt das noch
       nicht, dass auch die Lösung so einfach wäre. 
       
       Vogel hatte bereits in den 1970er-Jahren versucht, per Reform des
       Bundesbaugesetzes »leistungslose Planungsgewinne« abzuschöpfen – damit
       wenigstens nicht weiter mit Boden spekuliert wird, der bebaut
       gesellschaftlich nützlicher wäre. Heute wird immer noch darum gekämpft,
       steuerliche Vorteile abzubauen, die Spekulation begünstigen. Der Deutsche
       Städtetag schlägt einen Wohnbaulandfonds vor, der Kommunen und öffentliche
       Gesellschaft beim Erwerb von Flächen helfen soll. Auch ein kommunaler und
       preisgünstiger Vorrang beim Verkauf öffentlicher Grundstücke würde schon
       ein wenig helfen. 
       
       ## Wohnen als gesellschaftliches Bedürfnis
       
       Manche halten die Vergabe von Erbbaurechten für eine Lösung – die Kommune
       bleibt Besitzer des Landes, dem Eigentümer gehört nur die Immobilie darauf.
       Dies könnte, so hoffen Stadtaktivisten, vor allem gemeinwohlorientierte
       Bauträger in eine bessere Lage versetzen. Ein entscheidender Punkt bei
       alledem: das Wohnen so weit wie möglich den Marktgesetzen zu entziehen und
       städtischen Bau zu einer Angelegenheit zu machen, die nicht zuallererst
       Renditen im Kopf hat, sondern gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigen
       soll. »Entprivatisierung«, wie man das beim »Mietshäuser Syndikat« nennt –
       und es funktioniert: Über einhundertzwanzig Projekte vor allem in Berlin
       und Freiburg laufen derzeit, über einen Solidartransfer werden neue
       Hausprojekte unterstützt. 
       
       Alles schön gut, solche Beispiele. Aber ihm habe eine »übergreifende
       Vision« gefehlt, meldet sich später einer der Zuhörer im Acud zu Wort.
       Vielleicht sind die Projekte bisher nur ein Tropfen auf dem heißen Stein,
       aber viele Tropfen können ein mächtiges Wasser sein. »Fast alle, die hier
       gesprochen haben«, sagt ein anderer, »haben eines erzählt: Ich habe mich
       gewehrt.« Das werde eine »entscheidende Rolle« beim langen Weg hin zum
       »sozialen Wohnen« sein. 
       
       »Wohnst du noch oder demonstrierst du schon?«, fragt später einer lachend
       beim Herausgehen. Das muss sie sein, die Stadtgesellschaft, von der die
       Berliner Landesregierung so gern spricht. Sie wird wiederkommen. In
       überfüllte Veranstaltungen. Und es wird dauern, bis es Erfolge gibt. Es
       wird kompliziert werden. Es wird großen Widerstand von denen geben, die gut
       daran verdienen, dass aus der Wohnungsfrage, also der Frage eines
       Grundbedürfnisses, eine der heute wichtigsten sozialen Fragen geworden ist.
       
       26 Apr 2018
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Tom Strohschneider
       
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