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       # taz.de -- Luisa Neubauer im Interview: Die größte Lüge der Klimapolitik?
       
       > „Fridays for Future“-Aktivistin Luisa Neubauer über Radikalität,
       > Elternerziehung, APO, Vorbilder und nervende Politiker.
       
   IMG Bild: Luisa Neubauer bei einer Protestveranstaltung im Berliner Invalidenpark, 26. Juli 2019
       
       taz FUTURZWEI: Was ist für Sie als »Fridays for Future«-Aktivistin die
       größte Lüge in Sachen Klimapolitik, Frau Neubauer? 
       
       Luisa Neubauer: »Wir machen doch schon« ist, glaube ich, die größte Lüge. 
       
       Die Wirklichkeit und die Vorstellung davon stimmen nicht überein. 
       
       Richtig. »Wir machen doch schon« weckt die Assoziation, man würde sich ja
       schon um das Klima kümmern. »Wir machen ja schon – weiter wie bisher«, wäre
       der korrekte Satz. Das ist der Stillstand, den wir erleben. Und was da
       teilweise an Sprüchen im politischen Rahmen kursiert, deckt schon ein ganz
       beeindruckendes Spektrum ab, von Vorwänden, Ausflüchten, Abkehrungen bis
       hin zu tatsächlich dreisten Lügen. 
       
       Die Wahrheit ist, dass wir bis jetzt keine demokratische Mehrheit für
       ernsthafte Klimapolitik haben. 
       
       Das Spannende an der Klimakrise ist ja, dass es da eine geophysikalische
       Wahrheit gibt, an der nicht zu rütteln ist, plus-minus wissenschaftliche
       Abweichung. Du gehst nicht in den Tag mit 413 ppm CO2 in der Atmosphäre und
       denkst abends: Ah nee, manche mit denen ich spreche, finden das gar nicht
       so schlimm, deswegen sind wir jetzt bei 380. Egal, wer was sagt, es sind
       413 und das wird mehr. Wissenschaftliche Tatsachen haben eine andere
       Stellung als kulturelle Wahrheiten. Aber wir verhandeln nicht, welche
       Maßnahmen jetzt angebracht und hilfreich sind, sondern streiten, wie
       schlimm es eigentlich ist. Wir verhandeln eine Argumentationsgrundlage, die
       nicht zur Verhandlung steht. 
       
       Können Sie das konkret machen? 
       
       Statt mit ganz viel Expertise von Ökonomen, Unternehmerinnen, anderen
       Involvierten die effektivste CO2-Steuer auszuklügeln, dreht sich die
       Debatte darum, wie viel Zeit wir noch haben, ob es nicht besser wäre, wenn
       wir das in drei Jahren machen, ob überhaupt wirklich alles so schlimm ist,
       ob man nicht besser guckt, was kommt, und überhaupt China. 
       
       FFF sagen immer wieder, dass Klimapolitik sich nach der Wissenschaft
       richten muss und es hier nicht reicht, einen gesellschaftlichen Kompromiss
       auszuhandeln. Aber ein Unternehmer, der Verantwortung für seine
       Arbeitsplätze spürt, hat eine andere Wahrheit, und jemand, der seinen
       Arbeitsplatz zu verlieren droht, auch. 
       
       Das ist eine etwas verquere Betrachtungsweise oder? Wir rasen in diese
       Klimakrise rein, um uns herum wird sich alles ändern. In dem wir jetzt
       stillstehen, reißt es uns unweigerlich zurück, weil wir nicht mithalten mit
       den geophysikalischen Entwicklungen um uns herum. Da ist es ein leeres
       Argument zu behaupten, man müsste Menschen vor Klimaschutzmaßnahmen
       schützen. Nein, man muss Menschen durch Klimaschutz schützen. Da sind wir
       wieder bei der Frage der Ehrlichkeit. Ich finde, Ehrlichkeit ist ein
       besserer Begriff als Wahrheit. Ehrlichkeit gegenüber der Drastik der Lage,
       gegenüber dem Versagen der Klimapolitik in den letzten dreißig Jahren, die
       uns trotz Wissens um die Datenlage an einen Punkt gebracht hat, wo
       Maßnahmen immer disruptiver werden müssen, um überhaupt noch Wirkung haben
       zu können. 
       
       Für den 20. September haben Sie zum weltweiten Streik ausgerufen, für den
       sie auch Wissenschaftler, Eltern und „Workers for Future“ gewinnen wollen. 
       
       Ja, der 20. September ist der große Tag in Deutschland, da fordern wir,
       dass alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf die Straße gehen. Wir
       brauchen jetzt auch die Menschen, die in der fossilen Wirtschaft arbeiten
       und sagen: Leute, hackt es? 
       
       Was unterscheidet FFF von den vorherigen Umwelt-, Öko- und
       Klimaschutzbewegungen? 
       
       Kommt jetzt die Frage nach der neuen APO? 
       
       Nein. Jetzt kommt die Frage nach dem methodischen Ansatz, der dazu geführt
       hat, dass FFF im Gegensatz zu Pulse of Europe oder Occupy zumindest bisher
       großen Erfolg hat. 
       
       Wir machen Fridays for Future, ohne ein Vorbild zu haben. Es gab noch nie
       so eine Jugendbewegung in so einem digitalen Zeitalter, die sich mit
       wissenschaftlichen Grundlagen beschäftigt hat und mit schon beschlossenen
       Zielen und gleichzeitig auch mit diesen Organisationsformen, also global,
       schnell, präsent, mit einem großartigen Anspruch an Gleichberechtigung. Es
       ist alles anders und das heißt, dass alles, was wir machen, learning by
       doing ist. Und jeden Tag lernen wir, und ich auch, tausend neue Sachen.
       Dass wir mal gegen die Wand laufen und nochmal neu anfangen, gehört auch
       dazu. 
       
       Was nervt Sie an FFF? 
       
       Oh Gott. Dünnes Eis für mich. 
       
       Sagen Sie einfach die Wahrheit. 
       
       Ach, dass Leute einfach loslegen, das kommt nicht von selbst und ist immer
       zäh. Aber am Ende ist man geflasht und denkt: Krass, was für ein geiles
       Potenzial überall. 
       
       Spüre ich hier eine Prise Habeck-Pathos? 
       
       Nee, genau so erlebe ich das halt. Man unterschätzt einfach chronisch die
       Möglichkeiten und den Einfallsreichtum von Leuten, die Bock haben. 
       
       Fridays ist eine Mainstream-Bewegung, haben Sie gesagt. 
       
       Habe ich gesagt? 
       
       Der alte Mainstream löst sich ja auf, wie der Niedergang der
       Ex-Volksparteien und der Aufstieg der AfD und der Grünen zeigt. Die
       Sozialökologie, die bisher am Rand war, wird Teil der neuen Mitte. 
       
       Ich glaube auch, dass Klimaschutz, die sozialökologische Frage,
       meinetwegen, mehr und mehr ins Zentrum reinrutscht. Sicherlich sehen die
       Grünen sich in der Nähe dieser Frage verortet. FFF sind überparteilich und
       im Gespräch mit Jungen Unionern, die sogar teilweise bei uns
       mitorganisieren, genauso wie mit JuLis und Solids und auch Leuten, die sich
       völlig unparteiisch einbringen. Wir erreichen wahnsinnig viele Menschen,
       die sich im Links-Rechts-Spektrum überhaupt nicht positionieren. Viele
       Rechts-links-Fragen lösen sich gerade ein bisschen auf oder verschieben
       sich. 
       
       Das heißt konkret? 
       
       FFF sind eine wissenschaftsgeleitete Bewegung und damit haben wir eine ganz
       andere Argumentationsgrundlage. Wir sagen nicht, wir finden das
       Finanzsystem ungerecht, sondern wir sagen, das Finanzsystem zerstört unsere
       Zukunft und den Planeten wegen A, B und C. Selbstverständlich bringt ein
       ernsthafter Angang der Klimakrise einen riesengroßen Rucksack an anderen
       großen globalen und auch ideologischen Fragen mit sich. Aber in erster
       Instanz sind wir rein dem Ziel verpflichtet. Das muss natürlich zusammen
       gedacht werden mit Menschenrechten und Nachhaltigkeitsansprüchen. 
       
       Wie sind Sie kulturell und organisatorisch verfasst? 
       
       Wir sind eine relativ emanzipierte junge Generation. Wir sind global
       vernetzt. Wir haben relativ hohe Ansprüche an Partizipation und
       Mitbestimmung. Das macht uns in meinen Augen recht stark, dass wir da viel
       Zeit und Energie reininvestieren herauszufinden, wie wir Entscheidungen so
       treffen können, dass Menschen den Prozess hin zu dieser Entscheidung
       mitgestalten. Praktisch sind wir auch eine vom Brexit geschädigte
       Generation, die weiß, wie es nicht laufen soll. 
       
       Welche Rolle spielen für FFF klassische Medien wie Tagesschau, Tages- und
       Wochenzeitungen? Keine mehr? 
       
       Nein. Die sind auch wichtig. Ich wünschte, dass die klassischen Medien noch
       einen größeren Stellenwert eingeräumt bekämen. Was Informationsverbreitung,
       Aufklärung, sachlich geführte Debatten betrifft, sehe ich wenig Formate,
       die diese Leerstellen einnehmen könnten. Wir machen natürlich auch unsere
       Medien, wir haben unseren Podcast und YouTube und Facebook und Twitter und
       Instagram für unsere Mobilisierung. Aber gerade in CDU- oder AfD-Hochburgen
       erreichen Sie die Leute nicht mit Twitter, sondern mit Tageszeitungen. 
       
       Was unterscheidet Sie noch von 68ern, Anti-Atom- und
       Emanzipationsbewegungen des letzten Jahrhunderts? 
       
       Das ist ja nichts Neues, dass sich junge Menschen über die Regeln beklagen
       und ihren Eltern sagen: Wir wollen es anders machen. Aber wir sagen nicht,
       wie es anders und besser geht. Wir sagen: Freunde, könntet ihr mal bitte
       schleunigst durchsetzen, was ihr schon 1992 in Rio und 2002, 2006 und 2015
       alles beschlossen habt? 
       
       Sie sagen uns Älteren in aller Freundschaft, dass wir endlich das tun
       sollen, was wir sagen, also unser Lügen oder Selbstbetrügen beenden? 
       
       Naja, es ist, als würden wir unsere Eltern und unseren Staat ein bisschen …
       ich will jetzt nicht sagen: erziehen. Aber es ist schon so, als würden wir
       in so eine ganz merkwürdige Lehrer- und Lehrerinnenrolle schlüpfen. 
       
       Das war ein bedrückender Moment bei einem Grünen-Parteitag, als Sie denen
       die Meinung geigten und die sprangen auf und jubelten. Über ihr eigenes
       Totalversagen? Oder weil sie in alter Ignoranzkultur denken, die anderen
       seien schuld? 
       
       Oder weil sie sich verzettelt haben. 
       
       Die Kinder müssen den Erwachsenen sagen, dass sie sich verzettelt haben und
       es so nicht weitergehen kann. Die Mündigkeitszuständigkeit hat sich
       umgedreht? 
       
       Die Front verläuft zwischen denen, die vom Status quo am meisten
       profitieren und denen, die am meisten dadurch verlieren. Und wir Junge
       fragen uns: Warum sind die Sachen so, wie sie sind, wenn sie doch einfach
       anders sein könnten? Und das müssen wir volle Lautstärke machen, weil wir
       absolut nichts zu verlieren haben, außer unserer Zukunft. 
       
       Wieso nichts zu verlieren, Sie sind doch auch relativ privilegierte
       Mittelschichtsleute mit Weltbürgerkultur? 
       
       Teilweise mag das so sein. Aber wir sind absolut nicht diejenigen, die
       finanzielle Vorteile davon haben, dass Unternehmen jetzt auf Kosten des
       Klimas Rendite generieren. Es ist im Gegenteil so, dass die Klimakrise uns
       alles nehmen kann. Aber weil Sie Weltbürger sagten: Wir wachsen auf und uns
       wird gesagt, die Welt liegt dir zu Füßen, alle Tore stehen dir offen.
       Natürlich manifestiert sich das auch in einem Globalitätsanspruch, einem
       Bewusstsein darüber, was wir hier eigentlich gerade für einen Irrsinn
       veranstalten auf Kosten anderer. Das heißt, wir stellen auch fest, dass wir
       auf die Gegenwart von anderen eindreschen. 
       
       Gleichzeitig aber wollen Sie, also die zwanzigjährigen Weltbürger, doch
       schon auch weiter fliegen, weil das essenziell ist für moderne Berufe,
       Netzwerke, Familien, Lebensstile und auch Engagement. Oder geht es darum,
       dass wir alle nicht mehr fliegen und uns ins Nationale oder Lokale
       zurückziehen? 
       
       Wie lange reden wir jetzt, bis wir bei der Flugfrage sind? 
       
       22 Minuten, neun Sekunden. 
       
       Also, das muss ich weiter ausführen. 
       
       Es geht mir nicht um die Privatisierung des Politischen, es geht um die
       Fortsetzung der liberal-globalen Moderne. 
       
       Jaja, das sehe ich schon. Also: Ich glaube nicht, dass wir langfristig in
       einer Welt leben werden, wo niemand mehr fliegt. Bei ganz vielen
       Entwicklungen müssen wir fragen: War das eine gute Entwicklung oder war das
       ein Schuss in den Ofen? Definitiv. Das ist beim internationalen Flugverkehr
       eine andere Geschichte. Dass es aber nicht so weitergehen kann wie jetzt,
       ist die Ausgangslage, mit der man sich zurechtfinden muss. 
       
       Wir fliegen weiter, aber politisch anders strukturiert. Wie? 
       
       Man muss ein Preismodell finden, dass kostendeckend ist und wo die
       ökologischen Kosten internalisiert werden. Aber wenn wir uns mit dem
       Fliegen beschäftigen wollen, super, dann reden wir mal im ersten Schritt
       über Inlandsflüge in Deutschland, das sind achtzig Prozent Businessflüge.
       Muss das sein? Glaube ich nicht. Das hat nichts mit einer liberalen Moderne
       zu tun, sondern mit einer Scheinbequemlichkeit. Der entscheidende Punkt
       ist: Wenn wir unsere Freiheit in der Zukunft mit der Freiheit von heute
       zusammenbringen wollen, dann stellen wir fest, dass nicht alles so
       weitergeht. Aber ich sträube mich dagegen, an dieser einen Frage zum
       Flugverkehr aufzuhängen, wie eine liberale Moderne künftig funktionieren
       kann. 
       
       Aber kein Rückzug aus dem Weltbürgertum, bei dem die Flughäfen geschlossen
       werden und jeder auf seiner Scholle Gemüse anpflanzt und einmal im Monat
       Zug fährt? 
       
       Sicher nicht. Die mächtigsten Institutionen der Welt haben kein Interesse
       daran, irgendwas zu verändern, weil sie die großen Profiteure sind – auch
       der voranschreitenden Klimakrise, zumindest kurzfristig. Wenn ich sage, ich
       bleibe bei mir, mache für mich meine zwei Bahnfahrten im Monat, meinen
       vegetarischen Konsum und mein Flohmarkt-Shoppen, dann räume ich schon mal
       das Feld und lasse zu, dass das alles voranschreitet. 
       
       Was dann? 
       
       Was wir brauchen, sind die Ökomodernen, die mit vollem Elan auf das Feld
       ziehen und denen, die Verlustängste oder einfach Vorbehalte haben, zeigen,
       wie gut das Leben funktionieren kann in einem ökologisch definierten
       zukunftsfähigen Wohlstand. Dass es kein Widerspruch sein muss, dass diese
       Krise Angst machen muss, aber auch Mut machen kann. Und in der Sprache von
       Robert Habeck Sehnsucht und Hunger nach Veränderung mit sich bringen kann. 
       
       Sie stehen also doch auf Habeck-Pathos? 
       
       Ah, es gibt so ein Habecksches Bürgervokabular, wo der ja schon ganz gute
       Worte findet. Jedenfalls ist Rückzug nicht das Ding und kann nicht die
       Antwort sein – in der globalisierten Welt, wo mehr denn je Fronten
       aufgemacht werden zwischen nationalistischen Tendenzen und den
       transnationalen Globalisierten. – Ich meine, wie ist der Neoliberalismus
       denn um die Welt gejettet? Nicht, indem er gesagt hat: Ich höre mich mal
       gemütlich in meiner Kommune um. Natürlich ist es wichtig, dass es auch die
       Menschen gibt, die bei sich zu Hause in Leuchtturmprojekten zeigen, wie es
       gehen kann. Aber der Anspruch muss sein, dass wir dann so viel, so oft, so
       laut, so klar und verständlich wie möglich darüber reden und das in die
       Welt raustragen. 
       
       In bestimmten linksdrehenden Milieus sagen sie, Greta Thunberg ist super,
       weil die ist radikal – und Luisa Neubauer ist nicht radikal genug. 
       
       Aha, ist das so? 
       
       Das sagen die. 
       
       Cool. Okay. Ja. Und, was soll ich jetzt sagen? 
       
       Wie Sie das sehen? 
       
       Ob ich nicht radikal bin? Ach, ist ja immer Betrachtungssache. Wir sind
       eigentlich radikal unradikal. Ich auch. 
       
       Radikal unradikal? 
       
       Wir sagen, Leute, ihr habt vor dreieinhalb Jahren was unterschrieben, also
       macht jetzt mal. Und weil ihr anscheinend damit sehr lange braucht, stellen
       wir euch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Seite und legen euch
       auch noch hin, was denn die ersten Schritte sein könnten. Das finde ich
       jetzt nicht wirklich radikal. 
       
       Ich persönlich finde, das Einhalten der Klimaziele ist sehr radikal
       angesichts der Realität. Aber noch Ältere haben Projektionen in den Köpfen,
       Rudi Dutschke, Che Guevara ... und Greta Thunberg wirkt halt auch etwas
       außerirdisch. 
       
       Also, wenn die Gleichung ist, dass Greta radikal ist und ich bin nicht
       radikal, dann kann ich damit gut leben. Vielleicht ergänzen wir uns. Wir
       brauchen diese großen »Radikalen«, die nochmal ein ganz anderes Feld
       aufmachen. Aber da es auch darum geht, den Leuten zu erklären, dass
       Klimaschutz nicht heißt, allen ihr Auto wegzunehmen, ist es entscheidend,
       dass es Leute gibt, die Offenheit zeigen, meinetwegen auch
       Anschlussfähigkeit. Die zeigen, dass Klimaschutz keine Einstellung oder
       Haltung ist, sondern Grundlage für alles, was in der Zukunft kommt. 
       
       Das Faszinierende am Greta-Bild ist das psychische und körperliche Leiden
       an der Erderhitzung und gleichzeitig die Lebensstil-Konsequenzen, die sie
       daraus gezogen hat. Das gibt ihr eine große, ikonische Kraft. Aber dieser
       Lebensstil ist nicht massentauglich, schon gar nicht weltweit. 
       
       Es braucht aber auf jeden Fall mehr Menschen, die vorleben, wie ein gutes
       ökologisches Leben aussehen kann. Auch wenn ich mir bewusst bin, dass ich
       ja keinesfalls der Durchschnitt bin und in einer privilegierten
       Ausgangslage. Ich kann ja monatelang Vollzeitklimagewissen sein, weil ich
       studiere. Weil ich Kapazitäten habe, mich in der Sache zu bilden und weil
       ich die Freiheit habe, kritisch zu sein. 
       
       Sie persönlich diskutieren auch in Christian Lindners Videopodcast, bei RWE
       und im Springer-Club mit dem Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner. Was
       bringt das? 
       
       Ich glaube, mit dem Klima ist man immer eine Art ungebetener Gast und man
       muss deshalb lange einfach rumhängen, bis es eine Selbstverständlichkeit
       ist, dass man Teil davon ist. Das heißt, dass man auch im Journalistenclub
       von Springer ab und zu vorbeiguckt und checkt, wie die Lage ist. Plus, ich
       glaube, eine entscheidende Zielgruppe sind nicht die Menschen, die in der
       Chefetage rumsitzen und aus dem Eckbüro gucken, sondern die Menschen, die
       deren Entscheidungen vorbereiten, die nächste Ebene an Entscheidern oder
       Akteuren. 
       
       Die muss man treffen? 
       
       Ja, und die trifft man an diesen Orten. Oder junge Menschen, die schon ganz
       viel erreicht haben im Leben, etwa mit einem Start-up. Menschen, die an
       entscheidenden Stellen neu anfangen oder schon massivst mitgestalten: Wenn
       die nicht die Klimakrise auf dem Schirm haben, kommen wir nicht weiter. 
       
       In einem Spiegel-Streitgespräch sagte Wirtschaftsminister Peter Altmaier
       sinngemäß zu Ihnen, sie sollten erst einmal schön zu Ende studieren und
       dann könnten Sie die Welt verbessern. Sie sagten: Ich will nicht schön zu
       Ende studieren, ich will, dass Sie jetzt handeln, denn Sie sind der Letzte,
       der noch handeln kann. Er versteht es nicht? 
       
       Dahinter steht auch die Frage, wie man es schafft, Menschen auf Augenhöhe
       zu begegnen, die zwanzig Jahre jünger sind und im schlimmsten Fall noch
       Frauen. Ich sehe da schon eine Reihe von Konflikten, die sich zusätzlich
       zum Klimakonflikt so auftürmen, dass am Ende eine ratlose Jugend vor einem
       dickköpfigen älteren Entscheidungsträger sitzt ... 
       
       ... dickköpfig ist gut ... 
       
       … und sich fragt, was da schiefgelaufen ist. Und wieso dieser Mensch unser
       Land regiert. 
       
       Weil wir ihn gewählt haben. Oder seine Partei. 
       
       Wir nicht. 
       
       Jaja. Das ist der Witz an einer Demokratie. Das man eine Mehrheit braucht.
       Deswegen finde ich es sehr gut, wenn Sie eine Mehrheit der Jungen für
       ernsthafte Klimapolitik gewinnen. 
       
       Ja, sicherlich. Es ist ja eben nicht damit getan, zu sagen, wir finden eine
       Partei, die Klimaschutz feiert, und dann legen wir los. Nein. Wir gehen
       unfassbare Veränderungen an, eine riesengroße Transformation. Da reicht
       nicht ein politischer Akteur oder eine Partei. 
       
       Warum, Frau Neubauer, konzentriert sich zumindest die öffentliche
       Aufmerksamkeit auf junge Frauen als Verkünderinnen dieser lang ignorierten
       Wahrheit, nachdem Ökograubärte und die mit sich selbstbeschäftigten Grünen
       vierzig Jahre nicht durchdrangen? 
       
       Kommunikationspsychologen können das sicherlich fundierter erklären, aber
       es ist ein gigantischer Unterschied, wer eine Botschaft verkündet. Junge
       Menschen, die man lange als Durchhänger abgestempelt hatte, erscheinen auf
       der Bildfläche und benutzen eine andere Sprache, die nicht schon dreizehn
       Runden durch den Bundestag gezogen ist. Ganz entscheidend ist, dass wir den
       Anspruch erheben können, weil es um unsere Zukunft geht. Wir können sagen:
       Ihr nehmt, was wir noch gar nicht hatten und damit auch nicht mehr kriegen.
       Dass junge Frauen vorne stehen, finde ich jetzt nicht so wahnsinnig
       erstaunlich. Wir sind eine emanzipierte Generation und das heißt, natürlich
       achten wir auf Gender Balance bei den Speakern. 
       
       Wo sind die Jungs? 
       
       Die sind auch da, sie machen unfassbar wichtige Arbeit, vor und oftmals
       auch hinter den Kulissen. Tauchen aber statistisch tatsächlich weniger auf
       unseren Streiks auf. 
       
       Haben Sie persönlich Vorbilder? 
       
       Wie ich sagte, das war ein relativ unbespieltes und damit freies Feld, es
       gibt da keine präsenten klimapolitischen Stimmen, mit denen ich
       aufgewachsen bin. Naomi Klein vielleicht? 
       
       Aber keine Angela Davis. 
       
       Tut mir leid, die kenne ich nicht. Was noch wichtig ist, bei der Frage um
       die weibliche Erscheinung der Bewegung: Wenn da jemand steht, der jung ist
       und weiblich wie Greta, inspiriert und spricht das ganz anders junge
       weibliche Personen an. Das, glaube ich, hat einen großen Effekt. 
       
       Brauchen wir demnach Gendersternchen? 
       
       Wir brauchen Wege, damit Sprache verschiedene Geschlechter bedenkt. Ob das
       jetzt das Gendersternchen ist oder nicht – sollen die Leute so
       praktizieren, wie sie es glücklich macht. Aber ich fühle mich definitiv
       nicht angesprochen, wenn da steht: »Die Klimastreiker rufen zum Streik
       auf.« Wenn wir nicht anfangen, die Hälfte der Gesellschaft in unserer
       Sprache mitzunehmen, dann glaube ich nicht, dass wir mit einem
       emanzipatorischen Projekt ausreichend Erfolg haben können. 
       
       Muss die nächste Bundeskanzlerin eine Frau sein? 
       
       Wenn es so eine wäre wie Annegret Kramp-Karrenbauer, dann danke bestens. 
       
       Liebäugeln Sie insgeheim mit Ökosozialismus? 
       
       Was ist das? 
       
       Die Vorstellung, den Kapitalismus zu überwinden und Öko und Sozialismus in
       perfect harmony zusammenzubringen. 
       
       Ich glaube, dass Herr Lindner denkt, dass wir das wollen, oder? Die
       Planwirtschaft? 
       
       Der FDP-Vorsitzende spricht bisweilen so. 
       
       Ich glaube, das möchte er glauben, dass wir das wollen. 
       
       Also kein Ökosozialismus. 
       
       Wenn wir die Klimakrise ernsthaft angehen, dann werden wir feststellen,
       dass wir ganz viel verändern müssen. Und nach diesen ganzen Veränderungen,
       werden wir feststellen, dass wir nicht mehr in einem Kapitalismus leben,
       wie wir ihn heute erleben. Aber ich glaube nicht, dass das dann ein
       Sozialismus ist und auch kein Ökosozialismus. Das wird eine andere Form
       sein von einem Wirtschaftssystem. Der richtige Ansatz ist nicht zu fragen,
       was das dann ist. 
       
       Sondern? 
       
       Wo wollen wir hin, wie kommen wir dahin und was sind die Alternativen? Das
       Wie ist entscheidend. 
       
       Wann ist FFF überflüssig? 
       
       Uh, cool! Gute Frage. Was macht uns überflüssig? Die Entdeckung des
       Selbsterhaltungstriebs der bundesdeutschen Politik und Industrie. Wir
       erschaffen Lebensräume, die nicht mehr sicher für Menschen sind. Das muss
       man sich mal reinziehen. Ich glaube, sich dieser Absurdität, dieses
       existenziellen Widerspruchs erst wirklich bewusst zu werden, ist der
       entscheidende Schritt als Gesellschaft, als politisches Ganzes. Aber ich
       sehe keinen Anlass, sich darauf zu verlassen, dass schnell gehandelt wird.
       Die Lage hat sich ja nicht verbessert in den letzten dreißig Jahren. Seit
       dem Pariser Abkommen 2015 ist sogar alles drastischer geworden. Also, ich
       bin tragischerweise zuversichtlich, dass wir noch eine Weile protestieren
       werden müssen. 
       
       Interview: [1][PETER UNFRIED]
       
       12 Sep 2019
       
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