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       # taz.de -- Ralf Dahrendorf ist tot: Die liberale Autorität
       
       > Lord Dahrendorf war der erste intellektuelle Star der Bundesrepublik, der
       > auch im Ausland Resonanz fand. Nun ist er gestorben.
       
   IMG Bild: War schon an seinem 80. Geburtstag im Mai von Krankheit gezeichnet: Ralf Dahrendorf.
       
       Vor gut einem Jahr gewährte er einen kurzen Besuch in Köln. Mit seiner Frau
       hatte er dort Quartier genommen, in einem Altersheim behaglichen
       Zuschnitts, das an eine Klinik angeschlossen war, nah an den Zügen, mit
       denen er gern nach London fuhr, um dort, sporadisch, aber stetig, an den
       Sitzungen des Oberhauses teilzunehmen. Aber in Köln musste er sein, um
       seine Krankheit zu kurieren.
       
       Lord Ralf Dahrendorf erschien zum Gespräch auf die Minute pünktlich, ließ
       sich nicht irritieren von einem anderen Bewohner des Hauses, der in dem
       Aufenthaltsraum auf dem Piano zu spielen begann. Nicht herzlich, eher kühl,
       smart, gab er Auskunft. Über Deutschland in der Krise, die er für geringer
       hielt, als die Öffentlichkeit wahrnehmen wollte; über Barack Obama, den er
       für ein amerikanisches Phänomen hielt, der es aber in Deutschland schwer
       hätte, weil ein eiliger Aufstieg aus den Niederungen der Partei an die
       Spitze nicht ohne krass verwässernde Kompromisse mit den Parteiapparaten
       möglich sei.
       
       Dahrendorf wusste, wovon er sprach. 1929 als Sohn eines
       sozialdemokratischen Journalisten in Hamburg geboren, aufgewachsen in einem
       Klima der - so würde er sagen - freisinnigen Anteilnahme, absolvierte nach
       dem Nationalsozialismus ein intensives Studium der Philologie wie
       Philosophie; war Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes,
       dem damals Helmut Schmidt vorsaß.
       
       Dahrendorf war der erste intellektuelle Star der jungen Bundesrepublik, der
       auch im Ausland Resonanz suchte und fand. In den USA studierte er
       ebenfalls, schrieb seine Doktorarbeit über den "Begriff des Gerechten im
       Denken von Karl Marx" 1952, habilitierte sich 1957 zum Thema "Soziale
       Klassen und Klassenkonflikt in den industriellen Gesellschaften". Jürgen
       Habermas, der ihn damals, selbst vom Jahrgang 1929 heftig bewunderte, wie
       er auf Dahrendorfs Geburtstagsfeier vor einigen Wochen kund gab, sagte:
       "Dieser konstruktive Geist, der lieber mit idealtypischen Stilisierungen
       Klarheit schafft als mit hermeneutischer Kunst jongliert, fiel durch seine
       wuchtige Eloquenz ebenso auf wie durch ein kompromissloses, Autorität
       beanspruchendes Auftreten und die etwas kantige Art des Vortrages. Was
       Dahrendorf aus diesem Kreis auch heraushob, war das avantgardistische
       Selbstbewusstsein, mit alten Hüten aufzuräumen."
       
       Eine persönliche Skizze, die den Lebensroman Dahrendorfs präzise fasst: Der
       Soziologe, der zur "skeptischen" Generation gezählt wird, immun gegen
       totalitäre Anfechtungen aus eigener Erfahrung, war in seinen Kreisen
       tatsächlich stets ein kühl, gleich passioniert wie selbstbewusster
       agierender Mann. Niemals hätte Dahrendorf, aller lässigen Rhetorik zum
       Trotz, so getan, als wandele er wissenschaftlich in Demut durch die Welt.
       Was ihn aber von einem wie Habermas unterschied, war, dass ihm
       missionarischer Gestus vollkommen abging. Die Öffentlichkeit sollte von
       seinen Befunden wissen - publizistische Politik war seine Sache nicht.
       Dahrendorf hat tatsächlich nie Seilschaften bilden können, keine Netze, die
       seinen Einfluss mehren - unabhängig von akademischen Apparaten und
       politischen Hausmächten beanspruchte er nichts mehr als die
       Zurkenntnisnahme von Argumente, die sich aus Vernünftigkeit und Vernunft
       speisen.
       
       Aber das wiederum mit stupendem Erfolg. Mittlerweile fern der organisierten
       Sozialdemokratie und Teil des sozialliberalen Aufbruchs außer- wie
       innerhalb der FDP der frühen Sechzigerjahre war es Dahrendorf, der in der
       Debatte um Bildungspolitik formulierte, Bildung sei ein Bürgerrecht - und
       die Verweigerung von Bildung sei ein gesellschaftlicher Missstand, hielt er
       bis in jüngste Tage für wichtig, ja, demokratisch.
       
       Es mag mit seinem sozialdemokratischen Elternhaus zu tun haben, dass er die
       Idee der Gerechtigkeit niemals verriet - und doch für ein schlechtes
       deutsches Erbe hielt, dass die Freiheit gering geschätzt würde, Soziales
       und Nationales höheren Rang haben. Neoliberale Aufheizungen wie durch das
       aktuelle FDP-Personal (Westerwelle und viele andere) betrachtete mit
       Argwohn. Dass er den bildungspolitischen Aufbruch der Sechzigerjahre auch
       durch politisches Engagement in der FDP wie in der Brüsseler
       EU-Administration zu begleiten suchte, hat ihm freilich geschadet. Auch in
       diesen Soziotopen der Kungelei suchte er um die Durchsetzung von
       Argumenthaftem - und scheiterte. Die FDP der segensreich sozialliberalen
       Ära wäre freilich ohne ihn nicht denkbar gewesen. Dahrendorf war es, der in
       diese ordobürgerlichen Honoratiorenpartei die Idee eingrub, dass Konflikte
       in einer Gesellschaft nicht von Übel sind, sondern notwendig, um die
       gesellschaftliche Dynamisierung am Leben zu erhalten. Die Fähigkeit zum
       gesellschaftlichen Aufstieg - und, implizit, die Bedrohung der ständischen
       Ordnungen - hielt er für den Kern von Bildungspolitik. Er, der den Dialog
       mit Rudi Dutschke schätzte, der an dem Mann der Achtundsechziger das
       Heftige, das Begehrliche und das Aufrührerische mochte, ist vermutlich der
       beste Analytiker dessen gewesen, was die Studenbewegung jener Jahre
       wirklich antrieb: Bessere Universitätsausbildungen, der Mut zum Aufstieg
       gegen den Widerstand klassisch-bildungsbürgerlicher Schichten, die
       Entprivilegierung der Ordinarien, Teilhabe an der Wissensproduktion von der
       ersten Universitätsstunde an - und der Wunsch, nicht abgekanzelt, sondern
       wie Bürger und Bürgerinnen behandelt zu werden. In einem Gespräch vor
       wenigen Jahren sagte er, ginge er durch den Schwarzwälder Ort, wo er in
       Deutschland lebte, sehe er so viele Kinder und Jugendliche migrantischer
       Herkunft. Die dürften nicht verloren gehen, teilte er besorgt mit, die
       Gesellschaft müsse alles tun, sie zu integrieren und nicht als unwichtig zu
       nehmen, "im Gegenteil", so seine Formulierung, müsse gerade denen besondere
       Aufmerksamkeit zuteil werden. An Details machte er deutlich, woran
       Bildungspolitik scheitern kann: Gäbe es kein Mittagessen in Schulen, könne
       es sein, dass die Schüler unversorgt bleiben - und ausbaden müssten, dass
       deren Mütter nicht am Erwerbsleben teilnehmen können.
       
       In den mittleren Siebzigern zog sich Dahrendorf aus der Bundesrepublik
       zurück und machte in London steile Karriere. 1974 wurde er zum Leiter der
       London School of Economics ernannt; selbst dort, im urliberalen Vereinigten
       Königreich, war er als Wissenschaftler und Teil der Öffentlichketi einer
       der Großen. Königin Elisabeth II. erhob ihn 1993 als Baron in den Stand
       eines Life Peer of Westminster. Er schätzte das britische Gefühl für
       Understatement, dort fand er mit seinem Gestus der unaufgeregten Debatte um
       Gesellschaftliches beste und gefragte Resonanz.
       
       Lord Ralf Dahrendorf ist Mittwochabend an den Folgen seiner Krebserkrankung
       gestorben.
       
       18 Jun 2009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
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