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       # taz.de -- Besetzungsaktion in Istanbul: Proteste gegen die Abrissbagger
       
       > Ein ehemaliges armenisches Kinderheim soll luxuriösen Datschen weichen.
       > Dort ist auch der ermordete Journalist Hrant Dink aufgewachsen.
       
   IMG Bild: Am 5. Todestag von Hrant Dink in istanbul.
       
       ISTANBUL taz | Direkt vom Eingang des Geländes aus schaut man auf ein
       großes Transparent: „Soykirim sürüyor“ - „Der Völkermord geht weiter“. Das
       selbstgemalte Spruchband hängt von der Dachkante eines zweigeschossigen
       Hauses, umgeben von einem weitläufigen Garten. An den Seitenflügel, von dem
       das Transparent herabhängt, schließt sich ein Haupthaus mit einem großen
       Saal im Erdgeschoss an. Der zweite Seitenflügel ist ein Trümmerhaufen. Ein
       Abrissbagger hat hier ganze Arbeit geleistet, auch ein Teil der Außenwand
       des Haupthauses fehlt bereits.
       
       Der große Saal des Haupthauses war einmal der Speise- und Versammlungsraum
       von „Camp Armen“, einer Sommerschule für mehr als hundert Kinder, die hier
       bis 1974, als Gelände und Schule vom Staat enteignet wurde, jeden Sommer
       verbrachten. Das besondere war: Es handelte sich um armenische Kinder, oft
       von Eltern, die ihre Väter und Mütter beim Völkermord 1915 verloren hatten.
       Viele waren auch Waisen, andere lebten in dem Kinderheim im Istanbuler
       Vorort Tuzla als Internatsschüler, da es in der Osttürkei, wo ihre Eltern
       lebten, keine armenischen Schulen mehr gab.
       
       Nach Jahrzehnten, in denen das Gelände verfiel, herrscht jetzt wieder reges
       Leben in dem ehemaligen Kinderheim. Nachdem vor einer Woche in den sozialen
       Netzwerken die Nachricht verbreitete, dass das Kinderheim endgültig
       abgerissen werden soll, eilten zunächst dutzende, später hunderte Menschen
       nach Tuzla, um sich vor die Bagger zu setzen und den Abriss zu verhindern.
       
       Seither ist das Gelände besetzt. Obwohl der Hilferuf für das Kinderheim von
       der armenischen Gemeinde ausging, sind nicht nur Armenier nach Tuzla
       geeilt. Man sieht viele Gesichter aus der Istanbuler linken Szene, auch die
       kurdische HDP und die sozialdemokratische CHP haben ihre Unterstützung
       erklärt.
       
       ## Eine emotional besetze Stätte
       
       ## 
       
       Der Abriss hat auch deshalb eine so starke Anteilname auslöst, weil hier
       Hrant Dink aufgewachsen ist. Der spätere Journalist und Vorkämpfer für die
       Anerkennung des Völkermordes in der Türkei wurde im Januar 2007 wegen
       seines Engagements ermordet. „Das war Hrants Heimat“, sagt Sayat Didonyan,
       ein Armenier aus dem Stadtteil Kurtulus, der mit Freunden nach Tuzla
       gekommen ist. „Das darf auf keinen Fall vernichtet werden“. Sein Freund
       Aras Ergünes pflichtet ihm bei: „Dieses ehemalige Heim ist eine sehr
       emotional besetzte Stätte der Armenier in der Türkei“.
       
       Die Stiftung der armenischen Gedik-Pascha-Kirche hatte das Gelände in den
       50er Jahren gekauft. Dink hat in seiner Zeitung Agos mehrfach darüber
       geschrieben, wie sie als Jugendliche am Aufbau des Hauses mitgearbeitet
       haben und welch große Bedeutung der Ort für die Armenier in Istanbul hatte.
       Nach der Konfiszierung des Geländes 1974 wurde das Sommerheim geschlossen.
       Es war die Zeit des Zypern-Krieges, als der türkische Staat gegen die
       griechischen Stiftungen vorging, die Beschlagnahmen von Grundstücken und
       Gebäuden sich dann aber gegen die Stiftungen aller nicht-muslimischen
       Minderheiten richtete.
       
       ## Das Gelände liegt unweit des Marmara-Meers
       
       Seitdem hat das Gelände mehrfach den Besitzer gewechselt und alle Versuche
       der Gedik-Gemeinde, ihr Haus zurückzubekommen, scheiterten. Da der Komplex
       nur wenige hundert Meter vom Marmara-Meer entfernt liegt und sich in der
       Gegend mittlerweile luxuriöse Wochenendresidenzen befinden, ist das
       Grundstück im Wert ständig gestiegen und soll jetzt ebenfalls entsprechend
       bebaut werden.
       
       Doch das Aufsehen um die „ungerechte“ Beschlagname ist mittlerweile enorm.
       Am Samstag hielt Rakel Dink, die Witwe von Hrant, die ebenfalls im
       Armen-Camp aufgewachsen ist, eine bewegende Rede vor Ort. Viele Leute sind
       entschlossen, das Gelände nicht kampflos aufzugeben. „Bis zu den Wahlen am
       7. Juni werden sie wohl abwarten“, meint Sayat Didonyan, bis dahin wollten
       sie keine Bilder von Polizisten, die hier alte Armenier verprügelten.
       
       Doch andere hoffen auf eine eine gütliche Lösung: „Der Staat könnte das
       Gelände zurückkaufen und an die armenische Gemeinde verpachten“, sagt
       Gülbin Kirmogh, die Freundin von Didonyan. „Das wäre mal ein Zeichen
       derAussöhnung 100 Jahre nach dem Völkermord.“
       
       15 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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