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       # taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: Verhaftet und zwangsvermählt
       
       > Schaut man ins Programm der Filmfestspiele, glaubt man eine Strömung zu
       > entdecken. In der Sélection officielle und der Nebenreihe sind Märchen
       > und Fabeln im Trend.
       
   IMG Bild: Am Mittwoch beginnen die 68. Filmfestspiele in Cannes
       
       Mein Lieblingstext auf der Website des Festivals ist dieser: „Eine
       Liebesgeschichte, in der nahen Zukunft angesiedelt. Die Gesetze der Stadt
       verlangen, dass Singles verhaftet und in das Hotel verbracht werden. Dort
       müssen sie innerhalb von 45 Tagen einen Partner finden. Gelingt ihnen das
       nicht, werden sie in ein Tier ihrer Wahl verwandelt und in den Wäldern
       freigelassen. Ein verzweifelter Mann flieht aus dem Hotel in die Wälder, wo
       die Einsamen leben und sich verlieben, obwohl es gegen ihre Gesetze ist.“
       
       So weit die Inhaltsangabe zu „The Lobster“ („Der Hummer“), einem der 19
       Filme, die vom heutigen Mittwoch an bei den Filmfestspielen von Cannes um
       die Goldene Palme konkurrieren. Der Regisseur Yorgos Lanthimos wurde mit
       „Dogtooth“ (2009) und „Alpen“ (2011) bekannt; er ist einer der
       profiliertesten Vertreter des neuen griechischen Kinos, das sich von der
       Wirtschaftskrise nicht beirren lässt.
       
       Schaut man sich das Programm der 68. Filmfestspiele von Cannes genauer an,
       dann gewinnt man den Eindruck, dass Lanthimos mit seinem dem Märchen und
       der Fabel entlehnten Plot Teil einer Strömung ist. Denn ähnliche Motive
       finden sich bei einigen Regisseuren, die an die Côte d’Azur reisen, zum
       Beispiel bei Matteo Garrone, der mit „Gomorrha“ (2008) das gleichnamige
       Buch von Roberto Saviano auf die Leinwand brachte. In „Il racconto dei
       racconti“ („Tale of Tales“) ruft er die Märchen des neapolitanischen
       Erzählers Giambattista Basile wach (1575–1632), indem er Hexen, Oger, Feen,
       Monster und Könige auftreten lässt.
       
       Der taiwanesische Filmemacher Hou Hsiao-Hsien wiederum begibt sich ins
       China des 9. Jahrhunderts und erzählt die Geschichte des Mädchens Nie
       Yinniang, das entführt und fortan zu einer Meisterin der Kampfkünste
       ausgebildet wird. Als Nie Yinniang – so auch der Filmtitel – erwachsen ist,
       erhält sie den Auftrag, in ihren Heimatort zurückzukehren und dort den
       jungen Mann zu töten, dem sie einst als Braut versprochen war.
       
       In einem besonderen Wald filmt Gus Van Sant seinen Wettbewerbsbeitrag „The
       Sea of Trees“: im Aokigahara-Wald am Fuß des Fuji-Bergs in Japan.
       Lebensmüde suchen ihn oft auf; er ist so dicht, dass man, kaum geht man ein
       paar Meter, die Orientierung verliert. Van Sant variiert zwischen Bäumen,
       Unterholz und Blattwerk, was er in „Gerry“ (2002) in einer Wüste in Szene
       setzte: Zwei Männer irren ohne Kompass und Hoffnung durch die Landschaft.
       Mit dem Unterschied, dass es in „Gerry“ die Leere war, die die Figuren
       umfing. In „The Sea of Trees“ tritt die Fülle des Waldes an deren Stelle.
       
       ## Fliegende Teppiche
       
       Besonders neugierig stimmt mich eine Märchenadaption, die ihren Platz nicht
       in der Sélection officielle, sondern in der unabhängigen Nebenreihe
       Quinzaine des réalisateurs gefunden hat. Auch dies ist übrigens ein Trend:
       Die Sélection officielle verzichtet auf Filme relevanter Autoren wie „Trois
       souvernirs de ma jeunesse“ von Arnaud Desplechin oder „L’ombre des femmes“
       von Philippe Garrel – und eben auf „As mil e uma noites 1–3“ von Miguel
       Gomes, dessen „Tabu“ 2012 die Berlinale verschönerte.
       
       Der portugiesische Filmregisseur überträgt seine mehr als sechs Stunden
       dauernde Variation von Scheherazades Erzählungen in die Gegenwart
       Portugals. Märchen und Realität, verspricht der Filmemacher, mischen sich,
       fliegende Teppiche existieren neben streikenden Arbeitern, der Exzess der
       Fiktion verbindet sich mit der Skizze sozialer Schieflagen.
       
       Und so wie man mit Ali Baba fiebert, ob es ihm gelingt, die Höhle zu
       verlassen, bevor die 40 Räuber zurückkehren, so fiebert man auch mit
       Portugal, ob es ein weiteres Hilfspaket benötigt oder nicht. Und ich
       fiebere den Filmen entgegen und dem, was Gomes das „Delirium der Fiktion“
       nennt. Und natürlich treibt mich die Frage um, wie es aussieht, wenn ein
       Hummer durch die Wälder des Yorgos Lanthimos spaziert, statt mit gebunden
       Scheren in einem der Aquarien der Meeresfrüchte-Restaurants an der Rue
       Félix Faure seinem Tod entgegenzudämmern.
       
       13 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cristina Nord
       
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