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       # taz.de -- Die 56. Kunstbiennale von Venedig: Das Motto von der Welten Zukünfte
       
       > Migranten als Aktivisten, Lesungen aus dem „Kapital“: Die Biennale von
       > Venedig setzt starke Akzente auf politische und soziale Kunst.
       
   IMG Bild: Ein Kuss für Salvador Dali: Teil der Installation „Subjects“, eine Arbeit der Künstler Cabello/Canceller, Francesc Ruiz und Pepo Salazar.
       
       VENEDIG taz | Provisorisch ist „Entrance“ auf einen Zettel geschrieben.
       Kaum eingetreten, stößt man auf ein massives Plastikschild, das besagt:
       „Zur Abschaltung des elektrischen Stroms im Notfall Scheibe einschlagen.“
       Nein, auf normalem Weg betritt man den Deutschen Pavillon bei der Biennale
       in Venedig auch dieses Mal nicht. Erstaunlich, was sich aus dem Bau noch
       immer herausholen und wie er sich umbauen lässt. Jetzt zur „Fabrik“, wie an
       der Außenwand steht.
       
       In einem so nie vorhandenen Deckengeschoss, das großartige Blicke in die
       Giardini erlaubt, hat Fotograf Tobias Zielony eine raumfüllende
       Medienarbeit installiert: zu afrikanischen Flüchtlingen in Berlin und
       Hamburg, die er über längere Zeit begleitete. Seine Bilder sollen nicht die
       Geschichte von Verfolgung, Flucht und nachfolgend prekärer, möglichst
       unsichtbarer Existenz in Deutschland erzählen. Seine Asylsuchenden sind
       längst zu Aktivisten geworden, die er in großformatigen Porträts an der
       Wand plakatiert.
       
       In der Raummitte sind Stellwände aufgebaut, mit Seitenausschnitten aus
       afrikanischen Tageszeitungen und Magazinen. Die Bilder haben die
       Redaktionen von Zielony. Wie sie sie einsetzen, stellt er ihnen frei.
       Dieser Bildtransfer ist wichtiger, als man meinen könnte. Gerade die
       afrikanischen Medien werden von den bekannten Agenturen beliefert, die
       vornehmlich das Mittelmeer und Lampedusa im Fokus haben.
       
       Die Afrikaner in Berlin und Hamburg aber wollen in ihren Herkunftsländern
       über das Leben in Deutschland informieren. Die Anordnung ist unaufwändig
       medienreflexiv: Zielonys distinktiver Stil eines lässig auf dokumentarisch
       inszenierten Bildes tritt im afrikanischen Kontext so nicht hervor. 
       
       Dräut hier am Rand der Bilder noch die deutsche Innen- beziehungsweise
       Außenpolitik – letztere bezahlt traditionell den Pavillon –, ist
       Deutschland zunächst einmal restlos vom Horizont verschwunden, steigt man
       in Hito Steyerls Video-Lounge hinab. Ein Liniengitter aus blauem Neonlicht
       gibt dem Raum futuristischen Schick, auch ihr Film über die „Factory of the
       Sun“ zeigt Hochglanzqualitäten.
       
       ## Sternenschauer aus goldenen Glühbirnen
       
       Doch man soll sich nicht täuschen, die 1966 geborene Künstlerin, die sich
       selbst Filmemacherin und Autorin nennt, meint mit dem Glanz, dem
       Disco-Drive und dem Sternenschauer aus goldenen Glühbirnen doch die
       Kriegsspiele von Politik, Unternehmen und Militär, die Deutsche Bank und
       das Kapital, das Drohnen finanziert, die hier, anders als im
       Beschaffungsprogramm der Bundeswehr, funktionieren.
       
       Gegen solcherlei Hightech operiert dann auf dem Dach des Pavillons der
       Berliner Künstler Olaf Nicolai mit Bumerangs. Drei Personen sind dort
       abgestellt und betreiben – ungesehen von den Besuchern im Park – „eine
       Schattenwirtschaft unter gleißender Sonne“, wie es im Erläuterungstext
       heißt. Anzunehmen, dass sie die Bumerangs herstellen, die man sie von Zeit
       zu Zeit von dem Dach werfen sieht. Jede Woche geht eine bestimmte Menge
       Bumerangs an die fliegenden Händler einer anderen Schattenwirtschaft der
       Stadt.
       
       Olaf Nicolai ist auch mit der Performance „Non Consumiamo …“ präsent, die
       insgesamt acht Sänger jeden vierten oder fünften Tag während der Dauer der
       Biennale in der Arena aufführen, dem Herzstück von Okwui Enwezors
       Ausstellung „All The World’s Futures“. Um täglich Lesungen, Performances,
       Theater- und Filmvorführungen anbieten zu können, wurde die zentrale Halle
       des ehemaligen italienischen Pavillons in einen Bühnenraum umgebaut. Fester
       Programmpunkt: die tägliche Lesung aus dem Kapital von Karl Marx.
       
       ## Nachrichten aus der ideologischen Antike
       
       Sie ist der Ausgangspunkt für Nicolais Performance, die eine musikalische
       Marx-Lesung von Luigi Nono, nämlich „Musica – Manifesto No. 1: Un volto, e
       del mare / Non consumiamo Marx“ fortschreibt. Auch bei Alexander Kluges
       Drei-Kanal-Video-Installation „Nachrichten aus der ideologischen Antike:
       Marx, Eisenstein – Das Kapital“ in den Giardini ist das Thema präsent und
       natürlich bei Isaac Julien, der 2013 sein Gespräch mit dem Marx-Kenner
       David Harvey zum Kapital dokumentierte.
       
       Auch Haroun Farocki leitet in seinem filmischen Werk, das im Arsenale zur
       Gänze auf einer großen Monitorwand abgespielt wird, seine Fragestellungen
       zu Arbeit und ihrem sozialen, politischen und ökonomischen Kontext aus dem
       Kapital her. Nicolais „Non Consumiamo …“ kann übrigens auch per Rucksack
       auf die Tour durch die Giardini mitgenommen und die vier Tonkanäle selbst
       weiter gemischt werden.
       
       ## Plötzlich sehr viel eleganter und leichter
       
       Dazu vergleichsweise antipartizipatorisch arbeitet Heimo Zobernig beim
       österreichischen Pavillon. Mit einem dunkelgrauen, wuchtigen Kasten
       verhängt er die Elemente der unentschiedenen Architekturmoderne, die den
       1934 entstandenen Bau charakterisiert. Unter die Decke gehängt, schwebt er
       dort duftig wie ein Wölkchen, wobei das Gebäude plötzlich sehr viel
       eleganter und leichter wirkt. Kühn, kühl und überzeugend, weil so paradox
       angesichts des über einem hängenden schweren Einbaus.
       
       Ähnlich kühl hätte man sich Joan Jonas im US-amerikanischen Pavillon
       gewünscht. Als Grande Dame der Performance in den Vereinigten Staaten mit
       viel Vorschusslorbeeren bedacht, inszeniert die 78-Jährige mit Monitoren,
       Zeichnungen und Objekten überaus bezaubernde, aber leider auch harmlose
       Räume, die Bienen oder Fischen gewidmet sind oder in denen weiße Hunde
       charmante Auftritte haben. Die Bruchlosigkeit des Pavillons ist wenig
       verständlich, schöpft doch Jonas’ Kunst aus Mythen, Folklore und Märchen,
       die bekanntlich gerne Abgründe an Bosheit und Tücke verhandeln.
       
       Im französischen Pavillon hat Céleste Boursier-Mougenot drei Nadelbäume mit
       Wurzelballen in und vor das Haus gestellt. Und weil der 1961 in Nizza
       geborene Künstler Musiker und ein Meister der Geräusche ist, der die Dinge
       zum Singen bringt, evoziert nun die Energie der Bäume den Sound, der den
       Pavillon leise durchdringt. Man könnte dort jetzt gut meditieren. Aber will
       man denn nicht Kunst schauen?
       
       ## Okwui Enwezor geht es wirklich ums Hören
       
       Nun, geht es nach Okwui Enwezor, geht es in dieser Biennale wirklich ums
       Hören und um die menschliche Stimme als künstlerisches Ausdrucksmittel.
       Alfons Hug, Kurator des lateinamerikanischen Pavillons, hat diese Idee
       aufgegriffen, und so haben Künstler aus 14 lateinamerikanischen Ländern
       indigene Sprachen ihres Landes aufgezeichnet. Die Anordnung ist simpel, es
       gibt zwei Reihen Lautsprecher, je mit einer Informationstafel zur Größe der
       Sprechergruppe, der Gefährdung der Sprache etc., und dennoch ist der Raum
       höchst lebendig, angefüllt mit der herrlichsten Kakofonie.
       
       Vielstimmig gelungen ist auch Enwezors Ausstellung, die Klassiker verbindet
       wie Walker Evans („Let Us Praise Now Famous Men“, 1936), letzte Arbeiten
       von Heroen der Nouvelle Vague wie Chris Marker (Untitled, „Passengers“,
       2008–2010) mit dem 1981 geborenen zeichnerischen Multitalent Karo Akpokiere
       und seinen zwischen Comic, Kunst und in Lagos weithin bekannter Werbegrafik
       angesiedelten Bilder.
       
       Mit Hans Haacke (Anthologie seiner berühmten Umfragen in Museen,
       Kunstvereinen etc.), Adrian Piper, die in einer interaktiven Performance
       Selbstverpflichtungserklärungen provoziert und dokumentiert, oder
       Turner-Preisträger Jeremy Deller (u. a. die Performance, „Ballads of the
       Industrial Rvolution“, 2013, in der Arena) sind drei Generationen
       politischer Konzeptkunst vertreten.
       
       Die für das Arsenale unbedingt notwendige Monumentalität liefern Terry
       Adkins Turm aus „Muffled Drums“, Katharina Grosses rasantes, raumfüllendes
       Farb(geröll)feld oder Georg Baselitz’ Riesenformate auf dem Kopf stehender
       nackter Männer.
       
       Ersichtlich liegt Okwui Enwezor nicht daran, das Motto von der Welten
       Zukünfte zu illustrieren. Genauso wenig wie ihm daran liegt, Pate
       nichtwestlicher Künstler und Künstlerinnen zu sein. Stattdessen zeigt er
       eine unangestrengte, souveräne Anthologie der globalen zeitgenössischen
       Kunst, mit einem starken Akzent auf politisch und sozial motivierten
       Positionen.
       
       14 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Brigitte Werneburg
       
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