URI: 
       # taz.de -- 70 Jahre nach dem Tag der Befreiung: „Es geht um Gerechtigkeit“
       
       > Manolis Glezos riss 1941 die Hakenkreuzfahne von der Akropolis. Der
       > 92-jährige Europaabgeordnete kämpft bis heute für deutsche
       > Entschädigungszahlungen.
       
   IMG Bild: Kämpfte gegen den Nationalsozialismus: Manolis Glezos.
       
       taz: Herr Glezos, was haben Sie am Tag Ihrer Befreiung vom deutschen
       Faschismus gemacht? 
       
       Manolis Glezos: Ich lag krank im Bett. Kurz vorher hatte ich an den Kämpfen
       zwischen Partisanen und Besatzungstruppen um Athen teilgenommen. Nachdem
       wir den ganzen Tag im Vorort Chaidari gekämpft hatten, bin ich
       zusammengebrochen. Ich hatte Käse gegessen, der leider nicht mehr frisch
       war. Davon bekam ich Typhus. Deshalb war ich zu Hause, als es endlich so
       weit war. Per Kopfhörer verfolgte ich über ein Radio die Nachrichten. So
       erfuhr ich von der Befreiung.
       
       In Griechenland gelten Sie als Nationalheld, weil Sie 1941, einen Monat
       nach der Einnahme Athens durch die Wehrmacht, die Hakenkreuzfahne von der
       Akropolis gerissen haben. Was hatte Sie dazu bewegt? 
       
       Mein leider vor vier Jahren verstorbener Freund Apostolos Santas und ich
       waren damals noch Jugendliche. Ich war 18 und im letzten Jahr des
       Gymnasiums. Wir waren gegen die Nazis und Hitlers barbarisches Regime. Als
       ich sah, wie die Hakenkreuzfahne über der Akropolis wehte, war ich
       erschüttert. Ein derartiger Affront war unvorstellbar für mich. Die
       Akropolis symbolisiert die menschliche Zivilisation, Humanität und die
       großen Werte der Menschheit. Ein solches Symbol darf niemand entweihen. Das
       war für mich nicht hinnehmbar.
       
       Wie haben Sie die NS-Zeit überlebt? 
       
       Mit viel Glück. Mein Bruder Nikos hatte das nicht, er wurde im Mai 1944 von
       den Nazis hingerichtet. 18 Jahre war er alt, als er ermordet wurde. Ich
       wurde dreimal festgenommen. Das erste Mal im März 1942 von den Deutschen,
       als ich versuchte, Richtung Naher Osten zu fliehen. Kurz nach meiner
       Freilassung wurde ich im April 1942 erneut für drei Monate eingesperrt,
       diesmal von den italienischen Besatzungstruppen. Dann verhafteten mich im
       Februar 1944 griechische Kollaborateure. Sieben Monate blieb ich im
       Gefängnis, bis ich fliehen konnte.
       
       Die ganze Geschichte zu erzählen würde hier den Rahmen sprengen. Nur so
       viel: Ich habe viel gelitten. Am schlimmsten waren die Wochen in deutscher
       Gefangenenschaft. Ich wurde schwer gefoltert, außerdem erkrankte ich an
       Tuberkulose. An den Folgen leide ich bis heute. Denn seitdem funktionieren
       die ganze rechte Lunge und ein Teil von der linken nicht mehr so optimal.
       
       Wie haben Sie die unmittelbare Nachkriegszeit verbracht? 
       
       Ich hatte aufseiten der Volksbefreiungsarmee Elas gegen den deutschen
       Faschismus gekämpft. Das war die mit Abstand größte griechische
       Widerstandsbewegung gewesen. Mehr als 120.000 Menschen kämpften in ihren
       Reihen. Ihr Ziel: die Befreiung unserer Heimat, Unabhängigkeit, Demokratie
       und soziale Gerechtigkeit. Doch das blieb eine Utopie. Stattdessen kamen
       die Briten, die auf die royalistischen und reaktionären Kräfte setzten.
       Statt Demokratie gab es Bürgerkrieg und Restauration.
       
       Was hieß das für Sie? 
       
       Als Chefredakteur der kommunistischen Zeitung Rizospastis wanderte ich
       wieder in den Knast. Im März 1948 wurde ich zum Tode verurteilt. Große
       internationale Proteste verhinderten aber meine Hinrichtung. Noch im
       Gefängnis wurde ich 1951 das erste Mal für die EDA, die Vereinigung der
       Demokratischen Linken, ins Parlament gewählt. 1954 wurde ich aus der Haft
       entlassen. Im Dezember 1958 wurde ich wieder eingesperrt für vier Jahre.
       
       Das letzte Mal verhaftet wurde ich, als die Obristen im April 1967 mit
       Unterstützung der USA putschten und Griechenland zur Militärdiktatur
       machten. Aber das ist alles noch mal eine ganz eigene lange Geschichte.
       Entscheidend ist, dass ich die Hoffnung auf ein souveränes, demokratisches
       und soziales Griechenland nie aufgegeben habe.
       
       Wie sehen Sie heute die Beziehungen zwischen Griechenland und Deutschland? 
       
       Ich wünsche mir gute Beziehungen. Wir Griechen wollen keine Rache, sondern
       Freundschaft. Das heutige deutsche Volk hat keine Schuld an den
       Kriegsverbrechen des Dritten Reichs. Das muss immer klar sein. Ich
       vergleiche das mit dem Kind eines Mörders: Trägt es Schuld für die
       Verbrechen des Vaters? Nein! So trägt die Bevölkerung in Deutschland auch
       keine Verantwortung für die Gewalttaten der Nazis. Gleichwohl muss es sich
       mit ihnen auseinandersetzen. Und da habe ich meine Probleme mit der
       deutschen Politik.
       
       Was meinen Sie? 
       
       Deutschland hat nach 1945 ein Erbe angetreten, zu dem auch die Verwüstungen
       gehören, die die Wehrmacht angerichtet hat. Außerdem wurden die vom
       NS-Regime besetzten Länder ausgeplündert. Deutschland und Griechenland
       haben bis heute offiziell keinen Friedensvertrag abgeschlossen. Wissen Sie,
       warum? Weil die deutsche Regierung weiß, dass sie dann gezwungen wäre,
       Griechenland sämtliche Schulden, die aus der Besatzung resultieren, zu
       erstatten.
       
       Das halte ich für keinen angemessenen Umgang mit der Geschichte.
       Deutschland muss seinen aus dem Krieg resultierenden Verpflichtungen
       nachkommen, wenn es tatsächlich gewillt ist, einen Schlussstrich unter
       dieses traurige Kapitel deutsch-griechischer Vergangenheit zu ziehen.
       
       Was bedeutet das konkret? 
       
       Wir begehen jetzt den 70. Jahrestag der Befreiung. Vor 50 Jahren nahm ich
       an den Feierlichkeiten zum 20. Jubiläum in der DDR teil. Die SED hatte mich
       eingeladen. Neben Juri Gagarin sitzend schaute ich mir die Parade in
       Ostberlin an. Damals sagte ich zu Walter Ulbricht: „Glaub nicht, dass ihr
       die Wiedergutmachungen an Griechenland vermeiden könnt, nur weil wir heute
       Genossen sind. Ihr werdet zahlen, weil ihr immer noch diese Schulden bei
       uns habt.“
       
       Da war er überrascht. Aber das sehe ich heute noch genauso. Deutschland
       kann sich nicht aus seiner Verantwortung stehlen, egal wer dort regiert.
       Das habe ich auch Bundespräsident Joachim Gauck gesagt, als ich ihn im März
       2014 in Athen getroffen habe.
       
       Die Bundesregierung steht auf dem Standpunkt, die Frage von Reparationen
       sei „rechtlich und politisch abgeschlossen“. 
       
       Wie kommt sie darauf? Dann soll mir Herr Schäuble doch bitte eine Antwort
       auf eine einfache Frage geben: Wann wurden die Reparationsansprüche
       abgegolten und wie? Italien hat seine gesamten aus dem Krieg resultierenden
       Reparationsverpflichtungen gegenüber Griechenland erfüllt, Bulgarien auch.
       Und Deutschland? Hier geht es nicht in erster Linie ums Geld, sondern
       einfach um Gerechtigkeit.
       
       Und was mir auch wichtig ist: Was Deutschland bis heute Griechenland
       schuldet, sollte es nicht von der deutschen Bevölkerung nehmen, sondern von
       den Konzernen, die mit dem NS-Regime zusammengearbeitet und im Laufe des
       Krieges viele Profite gemacht haben. Vor 20 Jahren veröffentlichte ich
       einen Gastbeitrag in der Zeit. Er trug die Überschrift: „Ein Unrecht muss
       gesühnt werden“. Dort schrieb ich, dass ein vereinigtes Europa auf
       Freundschaft und Vertrauen aufgebaut sein muss und nur durch die
       Überwindung offener Probleme aus der gemeinsamen Geschichte erreicht werden
       kann. Das gilt immer noch.
       
       8 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Pascal Beucker
       
       ## TAGS
       
   DIR Reparationszahlung
   DIR Griechenland
   DIR 70 Jahre Befreiung
   DIR Jan Korte
   DIR Griechenland
   DIR Chile
   DIR Griechenland
   DIR Schwerpunkt Krise in Griechenland
   DIR Fernsehen
   DIR Gedenken
   DIR Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
   DIR Bundestag
   DIR Mauthausen
   DIR 70 Jahre Befreiung
   DIR 70 Jahre Befreiung
   DIR 70 Jahre Befreiung
   DIR 70 Jahre Befreiung
   DIR Schule
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Deutsche in der französischen Résistance: Keine Würdigung geplant
       
       Rund 3.000 Deutsche kämpften in den Reihen der Résistance gegen den
       Faschismus. Geehrt dafür werden sie immer noch nicht, kritisiert der Linke
       Korte.
       
   DIR Späte Rückgabe: Die Taschenuhr aus dem KZ
       
       Mehr als 80 Jahre nach dem Diebstahl durch die SS erhält die Enkelin eines
       griechischen KZ-Insassen das Eigentum ihres Großvaters zurück.
       
   DIR BND und Diktaturen: Mauern aus Staatswohlgründen
       
       Was der Bundesnachrichtendienst mit den Militärdiktaturen in Griechenland
       und Chile trieb, hält die Bundesregierung weiter geheim.
       
   DIR Griechenland zur Zeit der Militärdiktatur: Erinnerung an einen Mörder
       
       Nikos Koemtzis saß 23 Jahre im Gefängnis, weil er zur Zeit der
       Obristendiktatur drei Menschen getötet hat – wegen eines Tanzes.
       
   DIR Syriza-Politiker über Europas Linke: „Der einzige Kommunist im Dorf“
       
       Giorgos Chondros vom Syriza-Zentralkomitee über Podemos, neoliberale
       Chancen und die Lehren aus den Erfahrungen des vergangenen Jahres.
       
   DIR 70 Jahre nach dem Tag der Befreiung: Strumpfhosen für die Army
       
       Im und für den Krieg wird erfunden – im Zweiten Weltkrieg war es etwa das
       Radar. Doch auch Nylon, Public Viewing und Fanta stammen aus dieser Zeit.
       
   DIR Ukraine begeht 70 Jahre Kriegsende: Noch einmal wehen rote Fahnen
       
       Tausende gedenken in Kiew der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Ukrainer.
       Darunter viele Veteranen der Sowjetarmee. Provokationen gibt es kaum.
       
   DIR 70 Jahre Kriegsende: Moskau und Peking Seite an Seite
       
       Russland und China zelebrieren Eintracht. Doch die Freundschaft ist
       brüchig. Vor allem Chinas zunehmende wirtschaftliche Dominanz behagt Moskau
       nicht.
       
   DIR 8. Mai im Bundestag: Schwieriges Gedenken
       
       Am Jahrestag der Befreiung wirbt der Historiker Heinrich August Winkler für
       Bundeswehreinsätze - und kritisiert die russische Regierung.
       
   DIR KZ-Gedenkstätte Mauthausen: Hacker posten Kinderpornos
       
       Am 70. Gedenktag der Befreiung hacken Unbekannte die Webseite der
       Gedenkstätte Mauthausen und hinterlassen kinderpornografische
       Darstellungen.
       
   DIR 70 Jahre nach dem Tag der Befreiung: Schwindende Zeitgenossenschaft
       
       Mit ihren Erinnerungen berühren die noch übriggebliebenen „jungen
       Überlebenden“ die Nachgeborenen. Das Ende solcher Begegnungen ist in Sicht.
       
   DIR 70 Jahre nach dem Tag der Befreiung: Auf die Deutschen geschaut
       
       Deutschland überzog Europa mit einem mörderischen Krieg. Wie sehen die
       Nachkommen der Angegriffenen den Aggressor heute?
       
   DIR 70 Jahre nach dem Tag der Befreiung: Die Suche nach einer neuen Heimat
       
       Walter Frankenstein hat als Jude versteckt in Berlin überlebt. Nach dem
       Krieg begann für ihn eine monatelange Odyssee von Deutschland nach
       Palästina.
       
   DIR 70 Jahre nach dem Tag der Befreiung: Rappen gegen das Vergessen
       
       Die Microphone Mafia steht mit der KZ-Überlebenden Esther Bejarano auf der
       Bühne – für eine Zukunft, in der wir Verantwortung übernehmen.
       
   DIR 20 Jahre „Schule ohne Rassismus“: So erfolgreich wie Facebook
       
       Über 1.700 Schulen sind Mitglied in Deutschlands größtem Netzwerk. Es
       erreicht Millionen von Schülern. Erfolgreich ist es, weil sie selbst die
       Themen setzen.