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       # taz.de -- Die Wahrheit: Opa erzählt vom Krieg
       
       > 70 Jahre nach Kriegsende gibt es keine Zetergreise mit Kriegsgeschichten
       > mehr. Warum die Tränen alter Säcke getrocknet sind. Ein Nach- und Vorruf.
       
       Früher, auf dem Familienfest, hob Opa spätestens nach dem zweiten Doornkaat
       mit dem Satz "Ich werde nie vergessen, wie …" den Vorhang für das Theater
       des Krieges: Wie er "ins Feld" gezogen sei und schon kurz hinter der Grenze
       zu Frankreich auf das erste "liederliche Madamchen" traf. Dann sei es Zeit
       für "Oh, là, là!" gewesen, aber darüber dürfe er wegen der Oma nicht reden,
       flüsterte er, da Oma ihn bereits scharf ansah.
       
       Früher sagte Opa nach dem dritten Korn seinen Lieblingssatz: "Der
       Amerikaner ist der Russe in Bügelfalten." Das wisse er ganz genau, sei er
       doch einer der wenigen Soldaten gewesen, die in russischer und in
       amerikanischer Kriegsgefangenschaft waren. Und die Geschichte hatten alle
       schon oft gehört.
       
       Früher erzählte Opa beim vierten Klaren die ewige Schnurre vom
       "Hinterpfisterer", dem ersten Bayern, den er in seinem Leben kennengelernt
       hatte - im "Blitzkrieg", wo sie die Franzosen überrannten, die zwar "was
       von Weibern verstanden, aber nicht schießen konnten". Und genau dort holte
       sich dieser "blöde Bayer" dann einen "sauberen Arschdurchschuss", und der
       Sani musste ihm die Rosette mit einem Stahldraht flicken. Seitdem "schiss
       er durchs eiserne Kreuz und musste sich Kirschkerne mit der Pinzette
       rausfriemeln", lachte Opa, "und dann hieß er auch noch Hinterpfisterer,
       versteht ihr?", kriegte er sich gar nicht mehr ein, während die Jüngeren
       mit den Augen rollten.
       
       Früher stimmte Opa beim fünften und sechsten "Rohrreiniger" das "Ännchen
       von Tharau" an und begann zu weinen wegen der Kameraden, die man "im Felde"
       verloren hatte. Demnächst würde wie jedes Jahr einer der letzten zu Besuch
       kommen, und dann würde man mal "klar Schiff machen". Und "es sei ja nicht
       alles schlecht gewesen damals", und "ihr seid nicht dabei gewesen!" Die
       anderen hörten kaum noch hin.
       
       ## Rosette mit Stahldraht
       
       Früher stürzte Opa noch schnell Schnaps Nummer sieben hinunter, bevor Oma
       ihn schließlich schimpfend heimwärts bugsierte, und Opa sang sentimental
       und trotzig: "So wird die Lieb in uns mächtig und groß / Durch Kreuz, durch
       Leiden und traurigem Los." Drei Tage würde er mit dickem Kopf im Bett
       bleiben müssen, und Oma betete derweil.
       
       Früher wurden alte Frauen fromm und alte Männer erzählten vom Krieg. Früher
       begann jeder zweite Satz mit dem Wort "früher". Heute, da Siebzig das neue
       Fünfzig ist, sind alte Frauen zwar immer noch religiös, aber ihre Götter
       heißen Pilates und Vegan. Nur Opa spricht nicht mehr vom Krieg, er war
       nicht dabei.
       
       Heute sind die literarischen Kriegsopas tot - wie Günter Grass, der sich
       bis zuletzt zurechtfanterte, es sei bereits der "Dritte Weltkrieg"
       ausgebrochen, den er allein mahnend und warnend beenden könne. Da wollte
       man doch fast den anderen großen, alten Mann des Kriegs zurückhaben: Ernst
       Jünger war im Gegensatz zum SS-Vertuscher Grass wenigstens sein ganzes
       Methusalem-Leben lang so ehrlich, vom "Stahlgewitter" zu schwärmen.
       
       Heute existiert der Opa, der vom Krieg erzählt, nicht einmal mehr als
       Witzfigur. Nachdem der Kabarettist Georg Schramm im Jahr 2013 seine
       Karriere für beendet erklärte, starb auch seine legendäre Figur "Lothar
       Dombrowski", der renitente Rentner mit der schwarzen Handprothese, ein
       Zetergreis vor dem Herrn. Unsterblich hingegen ist die wahrscheinlich beste
       Darstellung eines Kriegsopas in der Film- und Fernsehwelt: die Figur des
       Briten "Higgins" in der amerikanischen Fernsehserie "Magnum", die bereits
       aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stammt und derzeit
       ausgerechnet auf dem Nachwuchssender ZDFneo nachmittags wiederholt wird.
       Der Veteran Jonathan Quayle Higgins III., den es aus unerfindlichen Gründen
       nach Hawaii verschlagen hat, ist angeblich auf jedem Schauplatz des Zweiten
       Weltkriegs aktiv gewesen und seither ein Meister der Warstory: "Ich werde
       nie vergessen, wie wir einmal vor El Alamein lagen und …" Und in dem Moment
       verdrehen Magnum, Rick und T. C. die Augen und beschäftigen sich plötzlich
       mit ganz, ganz wichtigen Dingen, während "Higgie-Baby" redet und redet und
       …
       
       ## Parfümierte Hordenbärte
       
       Heute will der Publizist Michael Rutschky, der mittlerweile auch schon
       einundsiebzig Jahre alt ist und den man zufällig beim Bier in einer
       Kreuzberger Kneipe trifft, wenigstens einmal noch persönlich einen Krieg
       erleben, wie der Altachtundsechziger allen Ernstes erklärt. Die gegenwärtig
       längste Friedensperiode der deutschen Geschichte müsse doch irgendwann ein
       Ende finden. Wo er recht hat, hat er recht. Historisch gab es immer
       irgendeinen Kleinkonflikt, und sei es ein deutsch-dänischer um die
       Schleswig-Holsteinische Frage im 19. Jahrhundert. Dagegen wird das heutige
       Verteidigen der Demokratie am Hindukusch eher überbewertet.
       Wohlstandsnationen führen Kriege eben liebend gern fern der Heimat. Einen
       waschechten Krieg mit Mobilisierung und Lebensmittelmarken, Heimatfront und
       Hungerwinter hat Michael Rutschky tatsächlich seit siebzig Jahren nicht
       durchstehen müssen.
       
       Heute leben wir in einer Mädchenwelt, in der die Pussys nicht unbedingt
       weiblich sind, sondern einen parfümierten Hordenbart tragen, während sie
       verwegen ihre pinkfarbenen Mädchengetränke schlürfen. Wenn man
       beispielsweise in der Mädchenzeitung, in der man selbst arbeitet, erzählt,
       dass man früher pöbelnden Nazis und ähnlichen Unholden gern die Fresse
       poliert hat, wird man bereits schief angesehen. Dann macht sich im
       Etepetete-Reich Entsetzen breit, dass man kein Pazifist ist, und es fallen
       Befindlichkeitsworte, die einer Betschwester wie Margot Luther Käßmann in
       der Bild am Sonntag zur Ehre gereichen würden: "Gewalt ist doch keine
       Lösung!"
       
       ## Leckerer Schwedentrunk
       
       Heute vermisst man einen Journalisten wie Heinrich von Kleist, dessen
       Storys immer noch zum Besten gehören, was über den Krieg geschrieben wurde
       - wie die "Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege", in der ein Wirt
       von einem Offizier berichtet, der, direkt vom Schlachtfeld kommend, bei ihm
       einkehrt, "Branntewein" säuft, eine "Pfeife Taback" schmaucht und
       anschließend drei Feinde zu Pferde niedermacht. Ganz nebenbei erfindet
       Kleist in dieser und anderen Anekdoten und Novellen das dramatisierende
       Präsens, oder wie man heute sagt: den Actionstil. Dass sich ein solch
       kriegserfahrenes Genie wie Kleist in Friedenszeiten, geplagt von Geld- und
       Liebessorgen, die Kugel geben musste, ist immer noch zum Heulen. "Bassa
       manelka", möchte man da mit Kleists preußischem Offizier auf Husarisch
       fluchen.
       
       Heute wünscht man sich mitunter ein reinigendes Stahlgewitter. Denn wie zu
       allen Zeiten gilt: Wenn der Krieg nicht irgendetwas an sich hätte, dann
       würden die Menschen ihn auch nicht dauernd führen. Ja, so ein kleiner
       Deutsch-Dänischer Krieg für zwischendurch hätte schon was. In Lübeck
       könnten die Dänen das Grass-Haus schleifen, und die verbündeten Schweden
       würden mal wieder ihren leckeren Schwedentrunk einsetzen. Endlich dürfte
       man ruhigen Gewissens alter Sack sein und Geschichten vom Krieg erzählen.
       Die Mädchen können dann ja so lange beten gehen.
       
       8 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Ringel
       
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