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       # taz.de -- 70 Jahre nach dem Tag der Befreiung: Rappen gegen das Vergessen
       
       > Die Microphone Mafia steht mit der KZ-Überlebenden Esther Bejarano auf
       > der Bühne – für eine Zukunft, in der wir Verantwortung übernehmen.
       
   IMG Bild: Sechs Lieder wollten sie zusammen aufnehmen – inzwischen sind es zwei Alben.
       
       Kutlu Yurtseven steht in den Hochhausschluchten am Kottbusser Tor in
       Berlin-Kreuzberg. Der Fotograf tänzelt um ihn herum, platziert ihn für ein
       Foto vor einem der Plattenbauten. Er fragt: „Ist die Straße dein Ding?“. Es
       gibt viele Schubladen, in die der Rapper mit Migrationshintergrund gesteckt
       wird, gegen die er versucht vorzugehen, doch diese ist in Ordnung für den
       42-Jährigen. Ganz frei von Klischees ist man nie.
       
       „Rassistische oder sexistische Vorurteile haben wir alle“, sagt er. Aber es
       sei wichtig, sich dieser Vorurteile bewusst zu sein, an ihnen zu arbeiten.
       Yurtseven arbeitet an ihnen: in seinem Job als Ganztagskoordinator mit den
       Schülern der Sekundarschule Hilden bei Düsseldorf. Und auf der Bühne mit
       der Rapkombo Microphone Mafia.
       
       Sie waren zu sechst, als sie Ende der 80er Jahre in Köln anfingen, [1][als
       Microphone Mafia zu rappen]. Auf Deutsch, Türkisch, Italienisch,
       Neapolitanisch. Spätestens als sie sich mit dem Lied „Stop" gegen Rassismus
       positionierten, hätten sie den Stempel der „Multikulti-Band“ aufgedrückt
       bekommen, sagt Yurtseven. „Eine politische Band waren wir damals aber noch
       nicht.“
       
       Denn gegen Rassismus zu sein, sei für sie nur logisch gewesen, sagt er –
       aufgewachsen als Kinder von türkischen und italienischen Migranten in der
       Zeit der Brandanschläge in Solingen und des Pogroms in Rostock
       Lichtenhagen. „Ein politischer Mensch ist aber der, der über seine eigene
       Betroffenheit hinausdenkt und Ungerechtigkeit und Diskriminierung
       anprangert“, sagt Yurtseven heute.
       
       ## Über den Mikrokosmos hinaus
       
       Ein politischer Mensch ist für Yurtseven die Frau, mit der er seit einigen
       Jahren auf der Bühne steht. [2][Esther Bejarano, eine der letzten
       Überlebenden des Mädchenorchesters im Konzentrationslager Auschwitz], die
       trotz ihrer 90 Jahre noch immer als Zeitzeugin auftritt. Die sich aber auch
       auf eine Demo für die Rechte von Geflüchteten stellt oder die
       Polizeiaktionen gegen die Lampedusa-Gruppe in Hamburg eine „Schande für die
       Stadt“ und die europäische Asylpolitik „unmenschlich und inakzeptabel“
       nennt.
       
       Mit ihren Kindern Edna und Joram Bejarano bringt Esther Bejarano seit
       Jahren ein Programm aus jüdischen und politischen Liedern auf der Bühne.
       „Sie ist eine Frau, die nicht nur in ihren Mikrokosmos guckt – obwohl sie
       alles Recht dazu hätte“, sagt Yurtseven.
       
       Der Rapper sitzt im [3][Südblock, einem queeren Café am Kottbusser Tor] und
       trinkt Cappuccino. Am 8. Mai hat die Microphone Mafia hier mit Esther
       Bejerano ihren nächsten Auftritt. Inzwischen besteht die Band nur noch aus
       Yurtseven und seinem Kollegen Rossi Pennino. Das Datum ist für Yurtseven
       ein Feiertag. „Der Tag der Befreiung Deutschlands und des Beginns der
       Menschlichkeit. Oder viel mehr: Es hätte der Tag sein können, an dem die
       Welt menschlicher wird“, sagt er. Denn dass wir Erfolg hatten, daran
       zweifelt Yurtseven. „Der 8. Mai wird uns immer daran erinnern, was für eine
       einmalige Chance wir vertan haben.“
       
       Am Nebentisch trinken junge Männer in Sportjacken Pils, Discokugeln funkeln
       im Hintergrund. Es ist ein symbolischer Akt für die Microphone Mafia, an
       einem Ort wie diesem spielen zu können. Der Rapkombo wurde schon
       vorgeworfen, homophobe Texte zu verbreiten. „Wir haben Sprüche wie
       'Schwuchtel MC' oder 'In deinen Arsch, dummer Junge' in unseren Liedern
       benutzt“ – ohne sie zu reflektieren.
       
       ## Ein politisches Gesamtpaket
       
       Yurtseven erinnert sich an ein Gespräch, als sie vor vielen Jahren nach
       einem Konzert ein Bekannter angesprochen hat: „Ihr seid eine super Band“,
       soll er gesagt haben. „Aber ,In deinen Arsch', das ist für mich keine
       Bestrafung. Für mich ist das Liebe.“ Das Lied mit der Zeile flog aus dem
       Programm der Band.
       
       Seitdem ist für Yurtseven die politische Arbeit ein Gesamtpaket über den
       eigenen Tellerrand hinaus. Er ist aktiv in der [4][Initiative „Keupstraße
       ist überall“], die die Betroffenen des NSU-Anschlags in Köln von 2004
       unterstützt, er ist auch Teil des [5][Theaterprojekts „Lücke. Ein Stück
       Keupstraße“], zudem arbeitet er mit Jugendlichen, im
       Deutschförderunterricht, in Rap-AGs und anderen Workshops. „Da sitzen
       lauter kleine Kutlus“, sagt Yurtseven, „die einfach in der falschen Zeit
       groß geworden sind“ – und nicht so behütet wie er aufwachsen konnten.
       
       Es geht um die Vermittlung von Wissen zwischen den Generationen. Auch bei
       seiner Musik. „Sobald man Verbrechen wie den Holocaust vergisst, können sie
       wieder passieren“, sagt Yurtseven. Dabei spielt es für ihn keine Rolle, ob
       seine eigene Familiengeschichte mit Nazi-Deutschland verbunden ist oder
       nicht.
       
       Auch geht es bei seiner Arbeit mit Jugendlichen nicht um die Schuld der
       heutigen Generation. „Von meinen Schülern hat keiner Schuld an Hoyerswerda
       oder Rostock Lichtenhagen, geschweige denn am Holocaust“, sagt Yurtseven.
       Es gehe aber darum, diese Dinge zu benennen. „Esther sagt immer, ihr seid
       nicht schuld an dem, was passiert ist. Aber ihr macht euch schuldig, wenn
       ihr euch nicht informiert.“
       
       ## „Ein bekloppter Bandname“
       
       Die Geschichte dieser Bühnenkombo mit den Bejaranos beginnt im Jahr 2009,
       als sich der [6][Deutsche Gewerkschaftsbund in Nordrhein-Westfalen an
       Yurtseven wendet]. Dieser hat damals im Förderunterricht mit seinen
       Schülern Texte von Schiller und Brecht gerappt. Man wolle über Rassismus
       und Rechtsextremismus in der Jugendkultur aufklären. Aber auch
       antifaschistische Musik vorstellen und die Erinnerungsarbeit modernisieren.
       Und Kutlu Yurtseven solle dabei sein.
       
       Die erste Idee: Lieder und Texte aus den Ghettos und Konzentrationslager zu
       rappen. Für Yurtseven stand aber von vornherein fest: „Ich mache das nur,
       wenn jemand dabei ist, der mir sagt, was ich machen kann, und was nicht.“
       Auf Rap habe er eigentlich gar keine Lust, soll Esthers Sohn Joram Bejarano
       damals am Telefon zu ihm gesagt haben. Doch Yurtseven und Pennino ließen
       nicht locker.
       
       Zusammen arbeiteten sie an einigen Liedern mit der Bejarano-Band. „Ruf mal
       Mutti an“, sagte Joram Bejarano beim nächsten Telefonat zu Yurtseven. Beim
       ersten Gespräch verstand Esther Bejarano nicht. Mit „der Mafia“ wolle sie
       nichts zu tun haben, sagte am Telefon. Und kurz darauf: „Das ist ja ein
       bekloppter Bandname.“
       
       ## Mehr als 200 Konzerte
       
       Zwischen Esther Bejarano und Yurtseven liegen knapp 50 Jahre, zusammen mit
       ihren Kindern stehen drei Generationen gemeinsam auf der Bühne. „Mit euch
       erreiche ich die Jugend“, soll Esther Bejarano damals zu den Rappern gesagt
       haben. „Damals war ich schon 35“, sagt Yurtseven und lacht. Aus den
       ursprünglich angedachten sechs Liedern wurden inzwischen zwei Alben, aus
       ein paar geplanten Konzerten allein in den letzten drei Jahren mehr als
       200.
       
       Beim ersten gemeinsamen Studiotermin hat Esther Bejarano geweint. „Ihr
       erzählt genau das, was ich gefühlt habe“, sagte sie damals. Und dass sie
       nicht gedacht hätte, dass so etwas möglich sei, 60 Jahre nach ihren eigenen
       Erlebnissen.
       
       Es ist eine besondere Form der Erinnerungsarbeit. „Als wir in der
       linksautonomen Szene spielten, wurde uns gesagt, wir sind nicht richtig
       linksradikal“, erinnert der Rapper sich. „Wir sind mit dem Projekt 'Lücke.
       Ein Stück Keupstraße' im Schauspiel, dann wird uns gesagt, wir seien keine
       richtigen Schauspieler. Und auch in der Erinnerungsarbeit wird uns gesagt,
       hier würden wir nicht reinpassen“, so Yurtseven. „Doch genau das ist
       vielleicht unser Vorteil.“
       
       7 May 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.microphone-mafia.com/
   DIR [2] /!97244/
   DIR [3] http://www.suedblock.org/wp/
   DIR [4] http://keupstrasse-ist-ueberall.de/
   DIR [5] http://www.residenztheater.de/inszenierung/die-l%C3%BCcke-ein-st%C3%BCck-keupstra%C3%9Fe
   DIR [6] http://nrw.dgb.de/presse/++co++1ade70c8-a81d-11e0-4bb9-00188b4dc422
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dinah Riese
   DIR Svenja Bednarczyk
       
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