URI: 
       # taz.de -- Ombudsfrau über NSU-Opfer: „Nichts kann die Morde sühnen“
       
       > Barbara John erklärt, warum die Familien weiter auf eine Aussage Zschäpes
       > hoffen – und einen neuen U-Ausschuss im Bundestag fordern.
       
   IMG Bild: Der Gedenkstein für die NSU-Opfer am Halitplatz in Kassel
       
       taz: Frau John, seit genau zwei Jahren wird vor dem Münchner
       Oberlandesgericht der NSU-Prozess verhandelt. Sie kümmern sich um die
       Angehörigen der Opfer. Was ist für diese die wichtigste Erkenntnis nach
       mehr als 200 Verhandlungstagen? 
       
       Barbara John: Es ist die Gründlichkeit, mit der das Gericht und besonders
       der Vorsitzende Richter Manfred Götzl Indizien zusammenträgt. Da die
       Angeklagte, Beate Zschäpe, und einige der Mitangeklagten bis heute nichts
       sagen, ist das eine ungeheure Aufgabe. Das merken auch die Familien.
       
       Anfangs gab es durchaus Kritik, dass Götzl wenig sensibel mit den
       Angehörigen im Prozess umgehe. 
       
       Das ist richtig. Aber da stellen die meisten doch fest, dass er dazugelernt
       hat, wie wenig die Familien bisher mit solch einem Gerichtsprozess vertraut
       sind. So kann heute von den Angehörigen häufiger eine persönliche Erklärung
       abgegeben werden als noch am Anfang.
       
       Vor dem Prozess war das Hauptanliegen aller Opferfamilien, die Frage
       aufzuklären, warum die Mörder ausgerechnet ihren Angehörigen töteten.
       Konnte diese Hoffnung eingelöst werden? 
       
       Nein. Solange die Mittäterin darüber schweigt, warum etwa die Opfer und
       bestimmte Orte für die Morde ausgesucht wurden, kann das nicht
       aufgearbeitet werden. Erst am Wochenende haben sich einige Familien in
       München getroffen, um an den dortigen Tatorten der Ermordeten zu gedenken:
       Habil Kilic und Theodoros Boulgarides. Wieder war Thema, wie erleichternd
       es wäre, wenn Frau Zschäpe doch noch etwas sagte und die Familien aus der
       Ungewissheit erlöst: Warum wir?
       
       Der Rechtsstaat gewährt Zschäpe die Möglichkeit, nichts zu sagen. 
       
       Ja, das wird den Familien immer wieder erklärt. Aber viele antworten: Das
       verstehen wir nicht, das finden wir falsch. Für die Angehörigen sitzt dort
       eine Person, die daran beteiligt war, zehn Menschen zu ermorden und andere
       schwer zu verletzen. Diese Person tut so, als hätte sie nichts damit zu
       tun, und übernimmt keinen Funken Verantwortung. Wer kann das begreifen? Mir
       selbst geht es auch so, dass ich das angelsächsische Rechtsmodell
       überzeugender finde. Dort wird das Schweigen eines Angeklagten zu Taten,
       die später durch Zeugenaussagen oder Indizien glasklar bewiesen sind, als
       strafverschärfend gewertet.
       
       202 Prozesstage, mehr als 500 Zeugen: Wie genau verfolgen die Angehörigen
       den Prozess überhaupt noch? 
       
       Es gibt keinen, der sich abgewendet hätte. Aber natürlich haben die
       Familien Verpflichtungen – Arbeit, Kinder oder ältere Angehörige, die
       versorgt werden müssen. Häufige Teilnahme am Prozess ist oft gar nicht
       möglich. Dazu kommt die Prozessrealität mit den vielen Unterbrechungen und
       der langen Dauer. Es gibt aber zwei, drei Familien, die bis heute
       regelmäßig kommen.
       
       Zuletzt sagten frühere Szenefreunde des Trios aus, die sich teils an nichts
       mehr erinnern mochten. Wie belastend ist das für die Familien? 
       
       Der ganz, ganz große Schock ist das nicht für sie. Dass einige Menschen
       sich für besser und wertvoller als andere halten, weil sie deutsch sind,
       wissen die Familien. Alle haben ja nach den Morden und Anschlägen den
       Ermittlern gesagt: Wir halten Rechtsextreme für die Täter. Das Entsetzen
       kam, als sie dann von diesen Ermittlern selbst verdächtigt wurden. In der
       Zeit, als die Betroffenen die größtmögliche Hilfe aus der Gesellschaft
       brauchten, haben sie das größtmögliche Misstrauen erhalten. Das hat sie
       zusätzlich in einen Abgrund gestürzt.
       
       Mit einem Urteil wird derzeit im Frühjahr 2016 gerechnet. Wie blicken die
       Angehörigen auf diesen Tag? 
       
       Viele wären erleichtert, wenn der Prozess bald zu Ende ginge. Auf das
       Urteil blicken sie natürlich mit bangen Gefühlen. Das Urteil wird im Namen
       des Volkes gefällt, also auch in ihrem Namen. Die Frage ist: Gibt es eine
       Strafe, die der Ungeheuerlichkeit der Taten gerecht wird?
       
       Was wäre für die Familien eine gerechte Strafe für Frau Zschäpe? 
       
       Da gibt es keine einheitliche Meinung. Aber eine dauerhafte Gefängnisstrafe
       kommt dem wohl am nächsten. Die Familien und viele andere wissen aber, dass
       mit keinem Strafmaß die grausamen Morde gesühnt werden können.
       
       Ein wiederholter Wunsch der Familien ist es, nicht auf Dauer als Opfer
       dazustehen. Hilft in diesem Punkt der Prozess oder manifestiert er eher
       diese Rolle? 
       
       Der Prozess hilft ganz entscheidend – weil er die Rollen vertauscht. Vorher
       waren die Familien die Angehörigen eines Mordopfers, die dann auch noch von
       der Polizei verdächtigt wurden. So wurde ihnen die Kontrolle über ihr Leben
       entzogen. Nicht nur, aber auch mit dem Prozess gewinnen sie die Kontrolle
       wieder zurück. Sie sind jetzt als Nebenkläger auch die Ankläger, längst
       nicht mehr nur Opfer.
       
       Einen Schlussstrich wird der Prozess den Angehörigen dennoch nicht
       verschaffen können – oder? 
       
       Nein. Dafür bleiben zu viele Fragen offen. Warum haben sich die
       Sicherheitsbehörden in keinem Fall aus der Denkblockade befreien können,
       dass bei den Morden Netzwerke von Migranten beteiligt gewesen seien? Das
       ist bis heute unbeantwortet. Deshalb hoffen viele Angehörige, dass der
       Bundestag doch noch mal einen Untersuchungsausschuss zum NSU einrichtet.
       
       Was ist dabei die Erwartung? Immerhin laufen noch in fünf Bundesländern
       solche Ausschüsse. 
       
       Es ist der Wunsch, dass tiefer geschürft wird, warum bei den
       Sicherheitsbehörden und der Justiz bis zur Enttarnung des NSU am 4.
       November 2011, die ja einem aufmerksamen Bürger zu verdanken ist, die
       rechtsradikalen Täter und ihr Umfeld auch nicht ansatzweise ins Blickfeld
       gerieten. Dafür gibt es bis heute keinerlei öffentliche Erklärung.
       
       6 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Konrad Litschko
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Prozess
   DIR Schwerpunkt Rechter Terror
   DIR Opfer
   DIR Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
   DIR Schwerpunkt Rechter Terror
   DIR Rechtsextremismus
   DIR Schwerpunkt Rechter Terror
   DIR Schwerpunkt Rechter Terror
   DIR Grüne
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR NSU-Prozess in München: Zschäpe will Anwältin Sturm entlassen
       
       Schon einmal hat Beate Zschäpe ihren Anwälten das Misstrauen ausgesprochen.
       Jetzt will sie eine Verteidigerin nicht mehr an ihrer Seite sehen.
       
   DIR Untersuchungsausschuss zur NSU-Affäre: Beweise nur gegen Gewähr
       
       Die Familie eines toten Zeugen fühlt sich vom Ausschuss in
       Baden-Württemberg diffamiert. Ein Vertrag soll die Übergabe von Asservaten
       regeln.
       
   DIR Strategie im NSU-Prozess: Belastende Sprachlosigkeit
       
       Im Verfahren fällt Beate Zschäpe das Schweigen immer schwerer. Die
       Opferanwälte sehen die Anklage bestätigt.
       
   DIR NSU-Untersuchungsausschuss: Im Steinbruch mit Präzisionsgewehr
       
       Ein toter Zeuge im Mordfall Kiesewetter: Nicht Polizisten fanden Waffen bei
       ihm, sondern die Eltern. Die Kritik an der Arbeit der Beamten wird lauter.
       
   DIR Neuer NSU-Ausschuss: Grüne dafür, SPD zögert
       
       Muss der Bundestag einen zweiten NSU-Untersuchungsausschuss ins Leben
       rufen? Die SPD vermisst die große neue Frage.