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       # taz.de -- Gentrifizierung in London: 14 Millionen für ein Zimmer
       
       > Milliardeninvestitionen aus dem Ausland fließen in immer größere
       > Städtebauprojekte. Doch selbst Normalverdiener leiden unter Wohnungsnot.
       
   IMG Bild: Schöne, neue Welt? Falsch. Schöne, teure Welt.
       
       Seit drei Jahren ragt eine 309 Meter hohe gläserne Pyramide über London.
       Der derzeit höchste Turm Europas am Bahnhof London Bridge wurde von
       Investoren aus Katar gebaut. Bei Sonnenschein glitzert die Konstruktion,
       nachts leuchtet sie. Der „Shard“, also „der Splitter“, wie das Gebäude im
       Volksmund heißt, sprengte, als er vor zehn Jahren konzipiert wurde, alle
       baulichen Regeln in der Hauptstadt; die damalige Labour-Regierung musste
       eine Sondergenehmigung erlassen.
       
       Das war noch vor dem Finanzcrash von 2008, der die Londoner City besonders
       hart traf. Aber sie hat in der Stadt einen Bauboom ohnegleichen
       angekurbelt. Wer investieren konnte, kaufte zu stark gesunkenen Preisen.
       Heute gilt London als wichtigste europäische Stadt auf dem weltweiten
       Immobilienmarkt. Sie ist die drittbeliebteste Stadt weltweit, sagt ein
       Geschäftsführer eines großen deutschen Investmentfonds, der lieber anonym
       bleiben will, der taz.
       
       Nicht nur der unübersehbare Shard verweist darauf. In jeder Einkaufsstraße
       von London drängeln sich die Immobilienmakler. Londons Immobilienpreise
       haben sich seit 2008 verdoppelt oder verdreifacht, in manchen Stadtteilen
       ist jeder Eigentümer einer Wohnung, in die mehr als ein Mensch hineinpasst,
       schon fast Millionär. Mieten sind für viele Normalverdiener unerschwinglich
       geworden, manche pendeln bis zu sechs Stunden pro Tag, um weiter in London
       arbeiten zu können.
       
       Im Januar wurde eine Einzimmerwohnung aus dem Jahr 2009 in Londons
       Reichenviertel Knightsbridge für 10 Millionen Pfund verkauft, fast 14
       Millionen Euro. Wer da wohnen will, muss noch 2.000 Pfund Grundgebühr und
       32.000 Pfund Nebenkosten im Jahr abdrücken. Dafür gibt es gleich im
       Erdgeschoss links den Kleinwagenverkaufsraum von McLaren und rechts einen
       vom Uhrenkonzern Rolex.
       
       ## Sicherheit bei Krisen
       
       Was geht hier vor? London, sagt Peter Rees, der ehemalige Planungschef des
       Finanzbezirks City of London, sei als jahrtausendealte Weltstadt, aber auch
       als traditioneller Zufluchtsort für soziale und kulturelle Außenseiter,
       unschlagbar. Für den Chef des erwähnten deutschen Investmentfonds ist
       London hingegen „einer der transparentesten, liquiden, professionellen und
       zuverlässigen Märkte, wo alle für den Kauf wichtigen Dienstleistungen
       schnell verfügbar sind“.
       
       Beide Sichtweisen zusammen erklären, dass gerade die Krisen der Welt
       Kapital nach London ziehen, wo es in sicheren und renditekräftigen
       Immobilien angelegt wird: die Eurokrise, die Revolutionen in der arabischen
       Welt, jetzt die Russlandkrise, morgen vielleicht ein Wirtschaftskollaps in
       einem Schwellenland.
       
       „Wer sich seines Geldes in Schweizer oder Überseekonten nicht mehr sicher
       ist oder wessen Staat am Kollabieren ist oder wer in China sein Geld
       anlegen will, bevor der Staat es sich krallt, ergattert sich gern ein paar
       Quadratmeter in London“, sagt Peter Rees. Laut der Immobilienfirma Black
       Brick kommen bei Londoner Immobilien mit Kaufpreisen unter 2 Millionen
       Pfund (2,75 Millionen Euro) 40 Prozent der Käufer aus dem Ausland, bei
       Preisen darüber sogar 60 Prozent. Londoner Neuprojekte kommen in Hongkong
       zum gleichen Zeitpunkt auf den Markt wie in London, manche schon vorher.
       Camilla Dell von Black Brick nennt London eine sehr sichere Geldanlage mit
       garantiertem Wachstum, weil die Stadt selber weiter wachse: Bis zum Jahr
       2030 sollen hier 10 Millionen Menschen leben. Heute sind es 8.3 Millionen.
       
       So schlagen sich Bauunternehmen aus aller Welt mit allen legalen und
       illegalen Mitteln um neue Bauprojekte und ziehen dabei gern die durch die
       Wirtschaftskrise finanziell belasteten Stadtbehörden über den Tisch.
       
       ## Buy-to-Leave-Wohnungen
       
       In einem Projekt in Camden wird ein altes fünfstöckiges Bürogebäude gerade
       in nahezu hundert 40 Quadratmeter große Wohnparzellen umgebaut. Der Grad
       der Beziehbarkeit laut Experten: nahezu null. „Buy to Leave“, nennt man
       das: reine Spekulation. Rees will gehört haben, dass manche chinesische
       Käufer ihre Wohnungen mit Klarsichtfolie versiegeln und auf Küchen
       verzichten, da die sowieso wieder rausmüssen, wenn der nächste Verkauf
       ansteht. So bleibe die Neuwertigkeit erhalten.
       
       „Sollte es immer mehr Buy-to-Leave-Wohnungen geben, wäre das für eine enge
       Stadt wie London fatal, denn für Neues gäbe es bald keinen Platz mehr“,
       warnt Rees. „Es könnte dazu führen, dass ganze Stadtteile zu unbewohnten
       Brachland werden, ohne das jemand dagegen einschreiten könnte“.
       
       Für den Grünen Darren Johnson, Vorsitzender des Wohnausschusses im Stadtrat
       von Großlondon, ist das Hauptproblem die Erschwinglichkeit von Wohnungen
       für diejenigen, die sie bräuchten. Gerade Sozialwohnungen fehlten. „Es wird
       zu viel Energie in Luxusapartments gesteckt“, sagt er.
       
       Es geht dabei nicht nur um einzelne Objekte in besonders begehrten
       Adressen. Ganze, neue Stadtteile entstehen an Orten, wo der öffentliche
       Nahverkehr massiv ausgebaut wird: zum Beispiel der Stadtteil Battersea im
       Südwesten der Stadt, wo – gestützt von einer U-Bahn-Erweiterung – auf
       bisherigem Brachland das neue Viertel Nine Elms entsteht. Hier wollen die
       Vereinigten Staaten ihre neue Botschaft errichten; ihnen folgen nun andere
       wie die der Niederlanden.
       
       ## Die „Hongkongisierung“ Londons
       
       Für die alteingesessene, eher ärmliche Bevölkerung wachsen nun im Umfeld
       Tausende größtenteils unerschwingliche Wohnblöcke, zum Teil schon im
       Überseebesitz. Hauptfinanzier ist die staatliche Investitionsfirma von
       Malaysia, die zuschlug, als der ursprünglich irische Hauptinvestor in Folge
       der Finanzkrise pleiteging. Von der „Hongkongisierung“ Londons sprechen in
       Bezug auf das Nine-Elms-Projekt manche Kritiker.
       
       Zu rechnen ist mit einer weiteren sozialen Verdrängung: London und sein
       Umland werden für die Reichen reserviert und umgestaltet. So wurde letztes
       Jahr nach langem Zerren der Sozialwohnungskomplex Heygate Estate nahe dem
       Verkehrsknotenpunkt Elephant & Castle im Innenstadtbezirk Southwark, wo
       3.000 Menschen lebten, abgerissen. Seit 1999 plant der labour-regierte
       Bezirk, der direkt gegenüber der City of London am Südufer der Themse
       liegt, stattdessen teure Neubauten.
       
       Der Zuzug Besserverdienender, so die Bezirksverwaltung, werde „die
       Leistungen der einheimischen Kinder in den Schulen erhöhen und die
       Kriminalität senken“. In Wirklichkeit lag die Kriminalitätsrate im Heygate
       Estate mit seinen über 1.200 Sozialwohnungen unter dem Bezirksdurchschnitt
       und stieg erst dann, als der Bezirk alteingesessene Mieter umsiedelte und
       neue Kurzzeitbewohner in die dem Abriss geweihten Wohnungen verfrachtete.
       
       Dass viele der Wohnungen mittlerweile ihren Mietern gehören, nach dem unter
       Margaret Thatcher eingeführten Recht auf Erwerb der eigenen Sozialwohnung,
       konnte den Gebäudekomplex nicht retten. Die Quote für Sozialwohnungen in
       dem geplanten Ersatzgebäudekomplex Elephant Park ist schrittweise von 50
       auf 35 und schließlich auf 25 Prozent heruntergehandelt worden; es soll
       insgesamt noch 585 „erschwingliche“ Eigentumswohnungen und nur noch 79
       statt bisher 1.200 Sozialwohnungen geben.
       
       Der 72-jährige Wohnrechtler Bob Colenutt, der sich stark für die Bewohner
       von Heygate Estate einsetzt, spricht von „sozialer Säuberung“. Ein Bericht
       des vom Grünen Johnson geführten städtischen Wohnausschusses bestätigt
       diesen Trend für ganz London: Die Zahl der echten Sozialwohnungen geht
       immer weiter zurück.
       
       ## Geheime Deals
       
       Das Geld für den Neubau Elephant Park in Southwark kommt aus Australien:
       Der Bauunternehmer Land Lease zahlt für das Gelände gerade mal 50 Millionen
       Pfund (70 Millionen Euro). Die 1.950 Wohneinheiten, die er darauf für den
       freien Wohnungsmarkt bauen wird, dürften insgesamt mindestens rund eine
       Milliarde Pfund einbringen; die kleinste Einheit, ein Studioapartment,
       kostet 415.000 Pfund (circa 570.000 Euro). Für ihren Einsatz für dieses
       Projekt haben einige Angestellte des Bezirks nach Ende ihrer Amtszeit Jobs
       von Land Lease bekommen.
       
       Solche anrüchigen Geschäfte, bestätigt Peter Rees, seien in diesem Sektor
       ganz normal. „Alle guten Planer arbeiten irgendwann auf der anderen Seite.
       Stadtbehörden haben deshalb einen Mangel an wehrhaftem Personal.“ Das
       Problem sei ein korruptes, zu schwaches politisches System auf kommunaler
       Ebene.
       
       Eines der größten Bauunternehmen Großbritanniens verrät der taz, wie das
       Spiel läuft. Viele kommunale Politiker bauten gar nicht mehr selbst. Als
       Auflage für die Gewährung großzügiger Konditionen im Wohnungsbau zulasten
       sozial Schwacher verlangen sie von Immobilieninvestoren die Errichtung
       öffentlicher Gebäude. Ein typisches Bauunternehmen versucht, diese Auflagen
       möglichst billig zu erfüllen. Laut Gesetz dürfen die Bauunternehmer jeden
       Plan zurückweisen, der nicht mindestens 20 Prozent Profit für sie vorsieht.
       Die zugrunde liegenden Planungen und Berechnungen sind vertraulich, es gibt
       für die Öffentlichkeit kein Recht auf Einsicht.
       
       Immerhin schafften es die Kampagnenführer gegen Elephant Park, eine
       Freigabe der Pläne gerichtlich zu erzwingen. Der befragte Bauunternehmer
       kritisiert, dass vielerorts „nur fürs schnelle Abzocken gebaut wird“. Die
       Regierung müsste mehr auf Qualität pochen, lokaler Input in die Planungen
       müsse gewährleistet sein und man dürfe den Anwohnern nicht einen bereits
       fertigen Deal vorsetzen, an dem die gewählten Kommunalpolitiker mangels
       Macht gar nichts mehr ändern können.
       
       5 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Zylbersztajn
       
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