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       # taz.de -- St. Pauli: Pfeifen am Millerntor
       
       > Ein neuer Präsident, ein neuer Sportchef und ein neuer Trainer – sie alle
       > konnten nicht verhindern, dass dem Zweitligisten die Drittklassigkeit
       > droht.
       
   IMG Bild: Wie sich Anhänglichkeit darstellt: Fantum, bekundet im Hamburger Stadtbild
       
       HAMBURG taz | Im November betrat er mit der flotten Parole die Bühne, er
       wolle „den Erfolg umzingeln“: Mit mehr Professionalisierung, modernem
       Management, besserer Kommunikation, einem Ausbau des Nachwuchsbereichs und
       einer Stärkung der Fankultur wollte St. Paulis neuer Präsident Oke Göttlich
       alles tun, um dem „etwas anderen Klub“ vom Kiez seine Andersartigkeit zu
       bewahren – und ihn gleichzeitig dauerhaft fit zu machen für das
       Haifischbecken Profifußball.
       
       All diese Themen sind in den Hintergrund getreten: Ein halbes Jahr später
       droht der sportliche Abstieg in die Dritte Liga – verbunden mit immensen
       finanziellen Einbußen – dem neuen Präsidenten und seiner Führungscrew einen
       Strich durch die Rechnung zu machen. Und der Abstieg würde den Verein um
       Jahre zurückwerfen.
       
       Als Göttlich und die Seinen im November ihr Amt antraten, befand sich das
       Team bereits auf rapider Talfahrt. Die Gründe, warum der Verein, der
       vergangene Saison noch lange um den Aufstieg in die Erste Liga mitgespielt
       hatte, sich nun in den Niederungen der Tabelle wiederfand, waren
       vielfältig: Trainer Roland Vrabec, der keinen Rückhalt mehr in der
       Führungsspitze des Klubs hatte, trug Verunsicherung in die Mannschaft
       hinein. Seinem Nachfolger Thomas Meggle, bis September noch Coach des
       Nachwuchsteams, fehlte die Erfahrung, den Abwärtstrend zu stoppen. Dazu kam
       die übersteigerte Erwartung der Klubführung, den Bundesligaaufstieg zu
       schaffen, gepaart mit einer ellenlangen Verletzungsliste.
       
       Kurz vor Weihnachten versuchten Präsidium und Aufsichtsrat, mit einer
       Personalrochade das Blatt noch zu wenden. Der routinierte Ewald Lienen, 61,
       ersetzte Interims-Coach Meggle auf dem Trainerstuhl, der wiederum Sportchef
       Rachid Azzouzi beerbte, der wegen seiner unglücklichen Transfer-Politik in
       die Kritik geraten war.
       
       Der Personalwechsel zeitigte immerhin bescheidene Erfolge: Holte die
       Zweitligamannschaft in der Hinrunde nur magere 13 Punkte in 17 Spielen und
       belegte damit den letzten Tabellenplatz, so sieht die Bilanz unter Lienen
       deutlich besser aus: Platz 11 in der Rückrundentabelle bei 15 Punkten in 13
       Spielen. Zusammengerechnet bedeuten die Ergebnisse der bisherigen Saison
       aber noch immer Abstiegsplatz 17.
       
       Hoffnung ist kaum in Sicht: Die letzten beiden Auswärtspartien müssen die
       Hamburger ausgerechnet bei den heimstarken Spitzenteams von Kaiserslautern
       und Darmstadt bestreiten, eine Heimniederlage gegen Leipzig an diesem
       Wochenende könnte den Abstieg so gut wie besiegeln.
       
       Für diesen Worst Case liegen zwar Notfallpläne in der Schublade, doch die
       bedeuten, dass der Gürtel extrem eng geschnallt werden muss: Um mehr als 45
       Prozent muss der Liga-Etat voraussichtlich abgesenkt werden. Vor allem die
       Kredite für das neue, bundesligataugliche Millerntor-Stadion, das nun
       ausgerechnet zur Rückkehr in die dritte Liga fertig zu werden droht,
       schmälern die Spielräume.
       
       Obwohl der Klub aufgrund seiner treuen Anhänger auch in Liga drei auf einen
       einen eher überdurchschnittlichen Etat hoffen darf, wird es eng. Keiner der
       amtierenden Profis hat einen Drittliga-Vertrag, der Neuaufbau soll mit
       Spielern angepackt werden, die mit Herz bei der Sache sind und ihr
       Engagement nicht nur als Sprungbrett für höhere Aufgaben empfinden – genau
       solche Charaktere sind im Big Business Profifußball aber rar gesät. Klar
       ist: Sollte der Abstieg kommen, wird von einem sofortigem Wiederaufstieg
       keine Rede sein. Ein neues Team soll Zeit bekommen, sich zu finden.
       
       Doch auch, wenn es der Mannschaft gelingen sollte, in der Zweiten Liga zu
       bleiben, soll es im Sommer eine Frischzellenkur geben – verbunden mit einem
       personellen Schnitt. Misslich ist, dass der schon mitten im Abstiegskampf
       eingeleitet wurde, als Mittelfeldspieler Dennis Daube ankündigte, im Sommer
       nach Berlin zu wechseln. Denn der Hamburger Jung ist neben Jan-Philipp
       Kalla das einzige St.-Pauli-Urgestein, das schon seit Jahren im
       braun-weißen Sweater kickt – und damit eine Identifikationsfigur auch für
       die Fans ist.
       
       Dass neue „Daubes“ aus dem – in den vergangenen Jahren stark ausgebauten –
       Jugendnachwuchszentrum des Vereins hervorgehen, wird immer
       unwahrscheinlicher. Zwar steht im Moment gleich ein halbes Dutzend
       Jugendspieler wie Andrej Startsev oder Okan Kurt auf der Schwelle zum
       Profiteam, ob das dem Verein aber zugute kommt, ist fraglich: Längst wedeln
       die Talentsucher von Klubs wie Rasensport Leipzig oder auch dem HSV mit
       Geldscheinen vor der Nase jedes überdurchschnittlich talentiert kickenden
       Teenie-St.-Paulianers herum und fressen die Nachwuchsabteilung kahl wie
       sprichwörtlich die Heuschrecken das Kornfeld.
       
       Personelle Kontinuität dürfte es zumindest in der neuen Führungsspitze
       geben: Das Präsidium wurde gerade erst gewählt, Sportchef Thomas Meggle
       wird von den Vereinsgremien immens geschätzt und auch Ewald Lienen, der
       sich stark mit seinem neuen Klub identifiziert, wird im Abstiegsfall den
       Weg in die Niederungen der Dritten Liga wohl mitgehen, um dort ein Team mit
       Perspektive zu formen.
       
       Für Präsident Göttlich geht es nun darum, dem Verein in der sportlichen
       Krise ein neues Gesicht zu geben. Schrecken tut den Musikunternehmer diese
       Aufgabe nicht. „Hier wird nicht gejammert, sondern wir packen als Team die
       Probleme an“, gibt der 39-Jährige sich kämpferisch, „und kämpfen als Team
       für den Klassenerhalt.“
       
       3 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marco Carini
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