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       # taz.de -- Buch über Massaker von Katyn: Gemeinsame Beute
       
       > 1940 wurden 25.000 polnische Offiziere vom sowjetischen NKWD erschossen.
       > Thomas Urban schreibt über die Lüge von der deutschen Täterschaft.
       
   IMG Bild: Gedenken zum 75. Jahrestag am Ort des Verbrechens in Katyn.
       
       Am 7. April 2010 trafen sich in einem Wald nahe dem westrussischen Smolensk
       Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin und sein polnischer Kollege
       Donald Tusk. Gemeinsam gedachten sie der 25.000 polnischen Offiziere und
       Intellektuellen, die in Katyn und zwei weiteren Orten von der sowjetischen
       Geheimpolizei NKWD erschossen worden waren. Den Befehl hatte Stalin am 5.
       März 1940 unterzeichnet. Im April 1940, vor 75 Jahren, war mit den
       Massenexekutionen begonnen worden.
       
       Es war das erste Mal, dass ein russischer Regierungschef an den Ort dieses
       grausamen Massenmords gekommen war. Doch ein Durchbruch in den
       polnisch-russischen Beziehungen war das nicht. Putin sprach in Katyn ganz
       allgemein von den Opfern eines „totalitären Regimes“. Auf ein Bekenntnis
       zur Schuld der Sowjetunion, eine juristische Aufarbeitung oder eine Bitte
       um Vergebung warteten die Angehörigen der Opfer vergeblich. „Katyn“,
       resümiert der Polenkenner und SZ-Korrespondent Urban, „blieb ein
       ungesühntes Verbrechen.“
       
       Nun hat Urban ein lesenswertes Buch über Katyn als „Geschichte eines
       Verbrechens“ vorgelegt. Es ist zugleich eine Studie über eine der größten
       Propagandaschlachten des 20. Jahrhunderts. Denn bis in die neunziger Jahre
       hinein beharrte Moskau auf der sowjetischen Behauptung, derzufolge
       Nazi-Deutschland für die Ermordung der Polen verantwortlich gewesen sei.
       
       Auch Gorbatschow, für Glasnost und Perestroika hierzulande verehrt, wollte
       zunächst nicht an dieser Lüge rütteln. Lange blieb er seiner Haltung treu,
       die er im April 1989 – da waren ihm gerade die Erschießungsbefehle
       vorgelegt worden – gegenüber einem Vertrauten formuliert hatte: „Kannst du
       dir vorstellen, was diese Dokumente nun bedeuten? Niemandem darf etwas
       darüber gesagt werden.“
       
       ## Propagandasieg vermeiden
       
       Es ist das Verdienst von Thomas Urban, die Geschichte von Katyn auch als
       Geschichte um die schwierige Suche nach Wahrheit in einem von
       Totalitarismus geprägten Europa zu schreiben. Denn Hitlers und Stalins
       Expansionsstreben kannte zunächst eine gemeinsame Beute – Polen. Ganz im
       Geiste des Hitler-Stalin-Pakts marschierte die Rote Armee kurz nach dem
       deutschen Überfall auf Polen am 17. September 1939 in Ostpolen ein und nahm
       Hunderttausende Gefangene.
       
       25.000 waren dem NKWD in die Hände gefallen. Sie wurden der
       „konterrevolutionären Tätigkeit“ und der „antisowjetischen Agitation“
       bezichtigt. Stalins Geheimdienstchef Lawrenti Beria forderte „die Anwendung
       des höchsten Strafmaßes – Erschießung“. Das Motiv: Mit den
       Reserveoffizieren, in bürgerlichen Berufen Hochschullehrer, Ärzte und
       Juristen, sollte die polnische Intelligenz dezimiert werden.
       
       Kaum waren die Toten in den Massengräbern verscharrt, begann das
       Versteckspiel. Der polnischen Exilregierung in London erklärten die
       Sowjets, die vermissten Polen seien in die Mandschurei geflohen. Erst nach
       dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion und der Entdeckung der
       Massengräber kam die Wahrheit 1943 ans Licht. Freilich beschuldigte
       Goebbels nicht nur den NKWD, sondern die „jüdischen Bolschewisten“. Nach
       dem Rückzug der Deutschen schlug das Propagandapendel zurück. Statt auf den
       April 1940 datierte die Moskauer Führung die Tatzeit auf den Sommer 1941 –
       und gab den Deutschen die Schuld.
       
       ## Verschleierung durch Bündniszwänge
       
       Dass sich die Lüge so lange halten konnte, hat auch mit
       Anti-Hitler-Koalition und ihren Bündniszwängen zu tun. Ausführlich
       schildert Urban die Bemühungen der polnischen Exilregierung, Großbritannien
       und die USA zu einer Untersuchung des Internationalen Roten Kreuzes zu
       bewegen. Doch Churchill und Roosevelt war das Bündnis mit Stalin wichtiger
       als ein Massenmord an polnischen Offizieren. Außerdem wollte man den Nazis
       keinen Propagandasieg gönnen.
       
       Ein solcher wäre es tatsächlich gewesen, denn Goebbels versuchte
       unermüdlich, einen Keil zwischen die Alliierten zu treiben. Urban nun
       unterläuft dieses Dilemma, indem er in seiner Untersuchung das
       Hauptaugenmerk auf die polnische Perspektive legt. Er beschreibt unter
       anderem das Schicksal des Historikers und Biologen Józef Mackiewicz, der
       bei der Exhumierung unter Aufsicht der Deutschen dabei war. Die polnische
       Untergrundarmee AK verurteilte ihn deshalb wegen Kollaboration mit den
       Nazis zum Tode. Doch der AK-Kommandeur von Wilna, der selbst Zeuge der
       NKWD-Verbrechen gewesen war, hob das Urteil wieder auf.
       
       ## Vor und zurück
       
       Auch nach Kriegsende kam die Wahrheit nicht ans Licht. Die polnischen
       Kommunisten hatten sich Stalins Propagandalüge zu eigen gemacht. Und auch
       in der DDR war das Thematisieren der NKWD-Täterschaft als „faschistische
       Propaganda“ unter Strafe gestellt. Allerdings scheiterte Moskau daran,
       Katyn zu einem Anklagepunkt bei den Nürnberger Prozessen zu machen, und
       auch in der polnischen Opposition kursierten Dokumente, die die NKWD-Schuld
       belegten.
       
       Aber erst nach der Wende in Polen gelang es Lech Walesa, Moskau zu einem
       Eingeständnis zu drängen. Er machte als polnischer Staatspräsident 1991
       seinen Antrittsbesuch bei Boris Jelzin abhängig von der Veröffentlichung
       der russischen Akten.
       
       Heute sind die russischen Archive wieder geschlossen. Und als drei Tage
       nach dem Treffen von Putin und Tusk die polnische Präsidentenmaschine beim
       Anflug auf Smolensk abstürzte, war der Nährboden für weitere
       Propagandaschlachten geschaffen. Thomas Urban schlägt auch einen Bogen zum
       Ukrainekrieg der Gegenwart. „Schon Stalin begründete die Annexion des
       damaligen Ostpolens mit dem Schutz von Minderheiten. Schon er ließ Gegner
       seiner Eroberungspolitik als ’Faschisten‘ brandmarken.“
       
       1 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uwe Rada
       
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