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       # taz.de -- Blogger über Protestformen: Beleidige nicht meine Generation
       
       > Unser Autor ist gelangweilt von den Feuilletonkritiken an seiner
       > Generation. Ständig soll sie sich empören. Warum denn?
       
   IMG Bild: Occupy-Demonstrant mit Trillerpfeife ruft zu Empörung auf, Frankfurt 2012.
       
       Empört euch, posaunen die Wortführer! Protestiert richtig, schreien die
       Lehrmeister! Warum unsere Protestbewegungen keine Früchte tragen, fragen
       sich Kulturschaffende. Halbherzigkeit und Konzeptlosigkeit sind die
       Diagnosen. [1][Occupy-Bewegung] begann vielversprechend und ebbte ab.
       [2][Der Arabische Frühling] sprühte Hoffnungsfunken, um bald wieder zu
       verglühen. Was läuft bei uns schief? Rein gar nichts. Im Gegenteil, wir
       üben uns in Gleichgewicht, um historische Schiefen zu korrigieren.
       
       Was genau wird von uns erwartet, wenn man in den Feuilletons aufschreit:
       „Empört euch richtig!“? Zwischen den Zeilen beschwört man eine
       Revolutionsromantik, für die unsere Generation nicht mehr empfänglich ist.
       1968, 1918, 1848, alles Jahrgänge, in denen die Jugend mit Eisen und Blut
       Widerstand leistete, sich richtig empörte. Und wir nehmen unsere
       Kuscheltiere mit auf die Demo anstelle einer Steinschleuder, schlürfen
       unsere Cocktails, anstatt Molotowcocktails zu bauen. Warmduscher,
       Weicheier, Windelträger? Nein! Schüler, die ihre Geschichtshausaufgaben
       nachholen.
       
       Wir haben gelernt, dass Revolutionen ihre Kinder fressen. Unsere
       Revolutionen sind samtig, sanft und seidig. Wir wissen, dass Gewalt
       Spiralen erzeugt. Wir bleiben kompromisslos friedlich. Das heißt aber
       nicht, dass wir uns nicht empören können. Wir suchen neue Wege, um unserer
       Wut Ausdruck zu verleihen. Wir besetzen öffentliche Plätze, sammeln
       Unterschriften, politisieren Graffiti, und [3][erringen am Ende die
       Freiheit der Tempelhofer Freiheit.] Wir sind wohl in der Lage, da
       hinzugehen, wo es wehtut, ohne jemandem wehzutun. Wir sind Aktivisten des
       passiven Widerstands.
       
       Warum unterstellt man uns Halbherzigkeit? Weil wir den Zweifel zu einem
       Grundpfeiler unseres Denkens erkoren haben. Wir zweifeln alles an, was
       Gefahr läuft, sich schwarz-weiß zu färben. Freund-Feind-Unterscheidung
       gehört dem letzten Jahrhundert an, wir widmen uns der
       Freund-Freund-Gleichheit. Ideologien, Religionen und Lehransätze sind ein
       Teil vom Ganzen. Absolute Wahrheiten bewahrheiten sich nie. Eine einzige
       Richtung gibt es für uns nicht. Die alte Leier vom neuzeitlichen Menschen,
       der nach einer klaren Weltanschauung lechzt, ist ausgefranst. Die
       Kinderschuhe sind zu eng geworden. Das wissen wir.
       
       ## Rosinenpicken im theoretischen Kuchen
       
       Geschlossene Weltbilder haben ausgedient. Wir sind im Begriff, den Ismen
       die Allgemeingültigkeit abzusprechen. Ismus ist für uns kein Ist-Muss,
       sondern ein -Kann. Kapitalismus, Marxismus, Anarchismus, Liberalismus sind
       nur Teile eines theoretischen Kuchens. Wir picken uns die Rosinen aus. Wir
       scheuen uns nicht davor, Gedanken verschiedener Denkansätze
       zusammenzudenken. Wir lieben die „win hoch n situations“. Ein Banker, der
       Yoga macht, abends persisch isst und Brecht doch nicht so übel findet. Ja!
       Warum nicht?
       
       Wir lassen uns auf Vielfalt ein, selbst wenn Merkel und Sarrazin sie für
       gescheitert erklären. Althergebrachte Grenzen öden uns an. Eine neue
       Internationale braut sich zusammen, die sich intuitiv organisiert. Ein
       Gespenst geht um in der Welt, das tanzt, singt, feiert und lacht. Wir
       wollen zurück zu den Wurzeln der Menschlichkeit. „Leben, leben lassen und
       zusammenleben“ heißt unsere Maxime.
       
       Wir wollen die soziale Gerechtigkeit, ohne uns auf Marx berufen zu müssen.
       Wir sind echte Demokraten, ohne aus Überzeugung wählen zu gehen. Wir sind
       das politische Spektrum jenseits von links und rechts. Wir werden unsere
       Ideale zugunsten einer Ideologie nicht verraten. Darum halten wir an
       flachen Hierarchien fest. Darum geben wir lieber auf, bevor Menschlichkeit
       in Theorien verpackt wird.
       
       Das ist der Unterschied zu den Generationen vor uns. 
       
       Wir sind eins, und doch sind wir viele. 
       
       Ihr seid argwöhnisch genug, um diesen Text als zu pathetisch geraten zu
       belächeln. Ihr seid friedfertig genug, um den Poeten nicht von der Bühne zu
       prügeln. 
       
       Und ich 
       
       sage mit geschwellter Brust 
       
       Wir.
       
       1 May 2015
       
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