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       # taz.de -- Theaterstücke über Flucht und Migration: Die Frage, wer wir sein wollen
       
       > „Die Schutzbefohlenen“ und „Common Ground“ werden beim Berliner
       > Theatertreffen inszeniert. Beide gehören zu den besten Stücken der
       > letzten Spielzeit.
       
   IMG Bild: Szene aus „Common Ground“ von Yael Ronen.
       
       Das Schreckliche zu sehen, vom Schrecklichen zu erzählen und zu erleben,
       dass sich kaum etwas zum Besseren ändert, das ist oft Alltag in einer
       Zeitungsredaktion. Jetzt zum Beispiel wieder, wenn es um die Flüchtlinge
       geht, die in diesem April im Mittelmeer ertrunken sind, und um die
       Beschlüsse in der Flüchtlingspolitik von Europa, die anstelle der
       Hilfeleistung die Abschottung Europas wichtiger nehmen.
       
       In dieser Situation eröffnet das [1][Theatertreffen in Berlin am 1. Mai]
       mit einer Inszenierung, in der Migranten und Asylbewerber aus Hamburg neben
       Schauspielern des Thalia-Theaters auf der Bühne stehen. Von schmerzhafter
       Aktualität ist die Inszenierung „Die Schutzbefohlenen“: Sie knüpft an eine
       Geschichte von nach Europa Geflüchteten an, die in Wien Kirchenasyl
       suchten.
       
       Die Sätze von Elfriede Jelinek brennen auch deshalb, weil immer wieder
       passiert, wovon ihr Text handelt. Und jedes Mal scheint schwerer zu wiegen,
       dass man die Geschichte schon kennt, ihre vorhersehbare Tragik, die
       anspringenden Reaktionen und die wieder einsetzenden Argumentationsmuster
       zur Abwehr derer, die nicht gewollt und zurückgedrängt werden, weg aus
       Europa. Die Sprache des Textes und die Bilder der Inszenierung helfen
       dabei, die Erzählung dessen auszuhalten, was eigentlich nicht auszuhalten
       ist. Sie zwingen, die Augen aufzuhalten.
       
       Die Uraufführung der „Schutzbefohlenen“ brachte Nicolas Stemann 2014 beim
       Festival Theater der Welt in Mannheim heraus. Seitdem haben mehrere
       Theater, unter anderem in Bremen und Wien, das Stück nachinszeniert. Der
       eindringliche Text, der erst in der Aufführung wechselnde Sprecher erhält,
       ohne durchgehende Rollen zu verkörpern, ist ein Tanz der Rhetorik, der
       Annahmen, der Projektionen.
       
       Es wird immer über Bande gesprochen; was denkt einer, der in Europa nicht
       gewollt ist, über das, was in den Köpfen der ihn Ablehnenden vorgeht, und
       umgekehrt. So entsteht das Protokoll einer zynischen Haltung; von Gedanken,
       mit denen man nicht erwischt werden will; von rassistischen Mustern, die
       sich in einem bürokratischen Regelwerk tarnen; von Floskeln, die sich die
       Sprache der Verteidigung aussucht.
       
       Nicolas Stemann riskiert viel in der Inszenierung mit dem Nebeneinander von
       Schauspielern und Laien, von stellvertretendem Sprechen und der Existenz
       der Migranten und ihren Berichten. Eine sehr artifizielle
       Sprachkonstruktion trifft auf Naturalismus. Das Unbehagen, das dabei
       entsteht, aber nimmt er in Kauf. Für ihn hat all das Unausbalancierte, wie
       er dem Berliner tip sagte, „mit unserer Hilflosigkeit zu tun, auf das
       schreiende Unrecht, das sich in der Flüchtlingsthematik zeigt, eine
       adäquate Antwort zu finden. Es reicht nicht, darüber nur Theater zu machen.
       Dennoch muss man es tun!“.
       
       ## Erschreckendes Spiegelbild
       
       „Wer wir sein wollen, entscheidet sich auch daran, wie wir jene behandeln,
       die uns brauchen“, schrieb die Autorin Carolin Emcke in einem Kommentar zum
       Umgang mit den Geflüchteten in der Süddeutschen Zeitung. Das Bild der
       Gesellschaft, wie es aus Jelineks Text schaut, ist eine von hässlichen
       Egoismen durchzogene Fratze. Ein Spiegel, in dem man sich nicht erkennen
       will.
       
       Um das Aushandeln des Miteinander-Lebens in einer Gesellschaft von
       Einwanderern geht es in einer zweiten großartigen Inszenierung, die Teil
       des Theatertreffens ist: In „Common Ground“, von der Regisseurin Yael Ronen
       und einem Ensemble aus Schauspielern am Berliner Maxim Gorki Theater
       entwickelt. Das Stück hat etwas Utopisches.
       
       Die meisten der Schauspieler sind Migranten, die als Kinder, Jugendliche
       und Erwachsene während der Balkankriege nach Deutschland kamen. Sie
       erzählen im Stück von einer gemeinsamen Reise nach Bosnien, vom Besuch auf
       den Schauplätzen von Massakern und Massengräbern, von der Arbeit mit
       Trauma-Opfern und der Suche nach Formen des Gedenkens. Immer wieder
       konfrontiert sie die Reise mit Erinnerungen und mit Feindschaften, die sie
       sich nicht gesucht haben, sondern in die sie hineingeboren wurden.
       
       Stark ist „Common Ground“ durch die Reflexionen der eigenen Biografien und
       Empfindungen der Schauspieler. Emotional geht es unter die Haut, wie junge
       Männer und Frauen mit Scham für etwas kämpfen, dessen ihre Väter
       verdächtigt werden. Oder vom schlechten Gewissen geplagt werden, weil sie
       in Sicherheit aufwuchsen, während ihre Familie im Krieg lebte.
       
       ## Intensive und beglückende Anteilnahme
       
       Wie sich der Status, geflohen und in einem anderen Land aufgewachsen zu
       sein, einschreibt in die Wahrnehmung und Urteile beeinflusst, wird in
       diesem Stück von beinahe allen Teilnehmenden beobachtet. Die Geschichte der
       Kriege zwischen Serben, Kroaten und Bosniern belasten sie; aber im Umgang,
       den sie damit finden, entsteht zwischen ihnen eine neue Bindung und
       Anhänglichkeit. Man steht als Zuschauer diesen fordernden Prozess mit ihnen
       durch und auch die Erleichterung am Ende. Selten ist Anteilnahme im Theater
       so intensiv und beglückend.
       
       Deutschland spielt in „Common Ground“ eine Rolle als der Ort, an dem diese
       Begegnung stattfinden kann: Jeder der Schauspieler ist froh, auch einen
       deutschen Pass zu haben. Das Stück ist auch wie ein großartiges Geschenk,
       das die Schauspieler dem Land, das sie aufgenommen hat, zurückgeben.
       
       Insofern gehören diese Inszenierungen nicht nur zu den interessantesten der
       letzten Spielzeit, die zu Recht für das Theatertreffen ausgewählt wurden;
       sondern sie zeichnen auch unterschiedliche Bilder von dem, was Gesellschaft
       in Zeiten der Migration sein kann. Und stellen damit die Frage, wer wir
       sein wollen.
       
       30 Apr 2015
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/theatertreffen/auswahl_tt/auswahl_tt_1.php
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Bettina Müller
       
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