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       # taz.de -- Quellensammlung zur NS-Forschung: Das unwahrscheinliche Überleben
       
       > Ein neuer Band über die Ermordung der europäischen Juden beschreibt die
       > Deportationen aus Dänemark, Belgien und den Niederlanden.
       
   IMG Bild: Das Jüdische Museum in Kopenhagen erinnert an die Geschichte der Verfolgten.
       
       Am 10. September 1942 wartet der jüdische Niederländer Sam Goudsmit auf
       sein Ende, wie an jedem Abend. Es ist halb elf und der Schriftsteller
       notiert in sein Tagebuch – verblüfft, erleichtert, deprimiert –, dass er
       noch lebt. „Wieder sitzen tausende Juden in Amsterdam mit kleinen Augen und
       bleichen Gesichtern beieinander und warten, ob sie heute Nacht in ihrer
       Wohnung schlafen werden oder, wenn ihnen die Klingel mitten durch das Herz
       schneidet, sie in ihrer Wohnung überfallen werden.“
       
       Fast verwundert bemerkt Goudsmit, dass das Geschehen, obwohl bedrängend
       real, etwas Unfassbares hat. „Wir wissen es, aber das ist noch kein
       Verstehen. Verstehen ist, sich in die Täter hineinversetzen zu können, und
       das können wir nicht.“ Um zwei Uhr nachts schreibt er: „Sie sind nicht
       gekommen. Ich wache noch, schreibe noch.“ Er trinkt einen Kaffee und raucht
       eine Zigarre, Feier des unwahrscheinlichen Überlebens. „Weil sie nicht
       gekommen sind und wir wahrscheinlich noch bis morgen Abend acht Uhr frei
       sein werden, das sind 20 Stunden.“
       
       Diese Notizen zeigen etwas, das immer wieder aufs Neue frappierend ist: wie
       präzise manche Opfer den Naziterror begriffen, vielmehr zu verstehen
       suchten, was unbegreiflich schien.
       
       Goudsmits Tagebuchnotiz findet sich in dem kürzlich erschienenen 12. Band
       der Quellenedition zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden.
       Dieser Band zeigt, was in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und
       Skandinavien von 1942 bis 1945 geschah. Zu finden sind Flugblätter des
       Widerstands, Briefe, Befehle des Judenreferates. Keine Rückblicke, keine
       Memoiren. Es ist eine strenge Chronik des Geschehens anhand der Texte von
       Opfern, Tätern und Zuschauern.
       
       ## Die Bedingungen der Vernichtung
       
       Die Einleitung beschreibt genau und instruktiv die Bedingungen der
       Vernichtung, ohne Moralisierung oder den Versuch, originell zu sein. Alles
       ist auf das Wesentliche ausgerichtet – die Dokumente zur Geltung zu
       bringen, die Grundlage unseres Wissens sind. Es gibt in diesen 336
       Schriftstücken Grauen, Schrecken, Tod, Qual, mitunter in Briefen oder auf
       Zetteln in Andeutungen, die wir uns auszumalen haben. Ende 1942 werfen
       Salomon und Hanna Gotlib eine Karte aus einem Zug. Darauf steht: „Liebe
       Kinder, wir sind auf dem Weg nach Birkenau, glauben wir. Kopf hoch! Vater
       und ich sind zusammen und kommen wieder zurück. Verliert nicht den Mut!“
       
       Diese Texte zu lesen, hat etwas von einem Exerzitium. Was man im Groben
       weiß, führt man sich, um es zu begreifen, dicht vor Augen. Die Lektüre
       machte durchaus klar, dass diese 800 Seiten umfassende Sammlung selbst eine
       elliptische Erzählung ist. Die allermeisten der 100.000 holländischen
       Juden, die von Westerbork aus deportiert wurden, hatten keine Karte, die
       sie aus dem Zug werfen konnten, die gefunden und aufgehoben wurde.
       
       Es gibt in den Texten einige wenige Beispiele der Rettung. So schreibt der
       Amsterdamer Berufssoldat Gerrit Vinke am 10. September 1942 in sein
       Tagebuch, dass er „mit dem Kopf voll Sorgen ins Bett“ geht. Er soll acht
       Juden verstecken, „arme Schlucker“, wie er notiert. Vinke zögert. Das
       Risiko, entdeckt zu werden, ist groß, eigentlich zu groß. Abends fasst er
       einen Entschluss: „Wir müssen diesen Menschen helfen, und der Herr wird
       über uns wachen.“ Die acht überleben, ebenso wie der Schriftsteller Sam
       Goudsmit, der in einem anderen Versteck überlebte.
       
       Warum fielen in manchen besetzten Ländern fast alle Juden dem Naziterror
       zum Opfer, während sich andernorts ein Großteil, in Dänemark fast alle,
       retten konnte? Diese Frage ist nicht neu. Hannah Arendt hat bereits
       versucht, sie zu beantworten. Die Antwort ist kompliziert, weil die Politik
       der deutschen Besatzer von Land zu Land verschieden war. Die Deutschen
       verfolgten zwar seit der Wannseekonferenz Anfang 1942 das Ziel, überall und
       umfassend die Juden zu ermorden. Doch die Methoden waren unterschiedlich –
       mal blanker Terror, mal mit mehr Vorsicht.
       
       Die SS und das Reichssicherheitshauptamt hatten auch Unterstützer. Es gab,
       nicht nur in Frankreich und den Niederlanden, Denunzianten, die Verfolgte
       für Geld verrieten. Es gab, nicht nur in Oslo und Antwerpen, nichtdeutsche
       Antisemiten, die den Nazis aus Überzeugung bei der Vernichtung halfen. Mag
       sein, dass der in Frankreich Jahrzehnte währende Unwille, die eigene
       Kollaboration kritisch zu untersuchen, den Eindruck provozierte, dass der
       Holocaust kein deutsches, sondern ein europäisches Verbrechen war. Doch das
       ist überzogen, verzerrt.
       
       ## Widerständige Behörden
       
       Die Frage bleibt: Welchen Einfluss hatte die Textur der besetzten
       Gesellschaften auf die Verfolgung der Juden? Dänemark gilt als leuchtendes,
       solitäres Beispiel einer von Zivilcourage durchwobenen Gesellschaft, die
       den Verfolgten wirksam half. Bischöfe und Arbeiter, Studenten und Beamte,
       fast alle sozialen Gruppen hatten daran Anteil. Allerdings ist es eine
       Illusion zu glauben, Dänemark wäre ein übertragbares Modell des Widerstands
       gewesen.
       
       Die Rettung der dänischen Juden war möglich, weil das neutrale Schweden nah
       war und, anders als die Schweiz, jüdische Flüchtlinge aufnahm. Vor allem
       aber hielt der NS-Statthalter in Dänemark, der SS-Intellektuelle Werner
       Best, eine ruhige Besatzung ohne viel Widerstand für das NS-Regime für
       vorteilhaft. Diese wollte Best nicht durch Deportationen gefährden.
       
       Gewiss gibt es Beispiele, dass widerständige Behörden das Leben von Juden
       schützen konnten. In Antwerpen beteiligten sich belgische Polizisten an
       Razzien – in Brüssel, wo die Administration sich weigerte, bei Razzien zu
       kollaborieren, hatte es die SS auch deshalb schwerer.
       
       Allerdings ist die Gleichung, dass ein vitaler Antisemitismus und handfeste
       Kollaboration in den besetzten Ländern automatisch dafür sorgten, dass der
       Judenmord dort besonders effektiv funktionierte, verkürzt, ja falsch. Auch
       umgekehrt konnten sich Verfolgte in toleranten Gesellschaften ohne
       antijüdische Traditionen nicht überall eher vor dem Transport in die
       Vernichtungslager im Osten retten. Es war komplizierter.
       
       Im April 1944 schrieb die illegale holländische protestantische Zeitung
       Trouw, dass „es Antisemitismus, wie man ihn aus anderen Ländern kennt, bei
       uns in den Niederlanden bis 1940 praktisch nicht gab“. So war es. Dennoch
       war es den deutschen Besatzern bis 1944 gelungen, die Deportation der rund
       140.000 holländischen Juden in die Vernichtungslager im Osten fast
       reibungslos abzuwickeln. „Die Judenfrage kann für die Niederlande als
       gelöst betrachtet werden“, notierte der Vertreter des Auswärtigen Amtes,
       Otto Bene, im Juli 1944. Bei Kriegsende waren drei Viertel aller
       niederländischen Juden von den Nazis ermordet worden, drei Mal so viel wie
       in Frankreich. In keinem westeuropäischen Land war die Vernichtung so
       umfassend wie zwischen Amsterdam und Venlo.
       
       ## Die tödliche Illusion
       
       In Belgien konnten sich zwei Drittel der Juden vor dem Terror retten –
       obwohl dort kaum eine jüdische Familie die belgische Staatsangehörigkeit
       besaß und gerade Staatenlose die bevorzugten, ersten Opfer des NS-Terror
       waren. Warum war die Judenverfolgung in den Niederlanden effektiver als in
       Belgien?
       
       „Wir alle, sogar viele Juden, waren Helfer bei der vollständigen
       Registrierung“ schrieb Trouw 1944. Auch die Judenräte versuchten, die
       Bedrohung durch die Nazis durch Kooperation zu entschärfen – genau diese
       war Voraussetzung der störungsfreien Vernichtung.
       
       Als die Nazis 1941 in Amsterdam die ersten Juden deportierten, inszenierte
       die holländische Linke einen Generalstreik – eine in der Geschichte des
       Holocaust einzigartige, kollektive Solidarisierung mit den Juden. Die
       holländischen Kommunisten sahen 1942 kristallklar den kommenden Massenmord
       und forderten: „Schützt die Juden, wo ihr nur könnt. Versteckt sie.“ Doch
       als die Mehrheit der Niederländer begriff, wie die NS-Bürokratie gearbeitet
       hatte, war es zu spät.
       
       Die holländischen Juden empfanden sich als selbstverständlicher Teil ihrer
       Gesellschaft. Auch daher rührte die tödliche Illusion, geschützt zu sein.
       In den Niederlanden war es nicht der gesellschaftliche Antisemitismus, der
       die Vernichtung beschleunigte. Sondern das Gegenteil.
       
       28 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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