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       # taz.de -- Diskussion um Genozid an Armeniern: Es war „Völkermord“
       
       > Den Tod von bis zu 1,5 Millionen Armeniern 1915 hat Bundespräsident
       > Joachim Gauck als „Völkermord“ benannt. Bundestagspräsident Lammert
       > wiederholt die Worte.
       
   IMG Bild: Mit Rücksicht auf die Türkei hat die Bundesregierung den Begriff „Völkermord“ bisher vermieden.
       
       BERLIN/ERIWAN/ISTANBUL dpa/afp/ap | Nach den klaren Worten von
       Bundespräsident Joachim Gauck zu den Massakern an Armeniern im Osmanischen
       Reich ist nun der Bundestag am Zug. Zum 100. Jahrestag der Gräueltaten
       berät das Parlament am Freitag erstmals über eine Erklärung, in der das
       Geschehen als Völkermord bezeichnet wird. Mit Rücksicht auf die Türkei
       hatte Deutschland bislang auf diesen Begriff verzichtet.
       Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) sagte am Freitagmorgen im
       Bundestag, das Verbrechen an den Armeniern „war ein Völkermord“. Die neue
       Linie dürfte zur Belastungsprobe für das deutsch-türkische Verhältnis
       werden.
       
       Am Donnerstagabend sprach Gauck bei einem ökumenischen Gedenkgottesdienst
       in Berlin von Völkermord. Das Staatsoberhaupt setzte sich damit über
       Bedenken hinweg, dass diese Einordnung die Beziehungen zur Türkei
       beschädigen könnte. Zugleich räumte Gauck - ebenso wie die christlichen
       Kirchen - deutsche Mitverantwortung für die Gräueltaten an den Armeniern
       ein.
       
       Im Ersten Weltkrieg waren Armenier im Osmanischen Reich als vermeintliche
       Kollaborateure systematisch vertrieben und umgebracht worden. Nach
       Schätzungen kamen dabei zwischen 200.000 und 1,5 Millionen Menschen ums
       Leben. Die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs lehnt die
       Bezeichnung Völkermord vehement ab.
       
       In Armeniens Hauptstadt Eriwan findet am Freitag eine große Gedenkfeier
       statt, an der auch ausländische Staatsgäste teilnehmen. Die
       Ex-Sowjetrepublik bezeichnet die Gräueltaten als Völkermord. Zu einer
       zentralen Zeremonie mit Staatschef Sersch Sargsjan werden unter anderem
       Kremlchef Wladimir Putin und der französische Präsident François Hollande
       erwartet. Hunderttausende Armenier wollen an einer Gedenkstätte in Eriwan
       Blumen niederlegen. Die armenische Kirche sprach die Opfer am
       Donnerstagabend kollektiv heilig und erhob sie zu Märtyrern.
       
       Gauck sagte: „Das Schicksal der Armenier steht beispielhaft für die
       Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der
       Vertreibungen, ja der Völkermorde, von der das 20. Jahrhundert auf so
       schreckliche Weise gezeichnet ist.“ Er ergänzte: „In diesem Fall müssen
       auch wir Deutsche insgesamt uns noch einmal der Aufarbeitung stellen, wenn
       es nämlich um eine Mitverantwortung - unter Umständen gar eine Mitschuld -
       am Völkermord an den Armeniern geht.“
       
       ## Streit um die Wortwahl im Bundestag
       
       Wegen des Streits um die Wortwahl hatte es in den vergangenen Tagen
       zwischen Bundesregierung, Koalitionsparteien und Präsidialamt einiges Hin
       und Her gegeben. Die Bundesregierung wollte den Begriff vermeiden. Gauck
       benutzte nun nahezu wortgleich die Formulierung, auf die man sich für die
       Erklärung im Bundestag geeinigt hatte. Dieser Text geht nach der ersten
       Beratung im Plenum in die Ausschüsse und soll bis zur Sommerpause endgültig
       verabschiedet werden. Der Opposition aus Grünen und Linkspartei geht der
       Text nicht weit genug.
       
       Der Zentralrat der Juden in Deutschland bewertet die neue Linie der
       deutschen Politik positiv. „Es ist richtig, dass jetzt nach dem Papst auch
       der Bundestag dieses schreckliche Verbrechen klar beim Namen nennt“, sagte
       Präsident Josef Schuster der Passauer Neue Presse (Freitag). „Was vor
       hundert Jahren im Osmanischen Reich geschehen ist, die Deportation und
       Ermordung von mehr als einer Million Armenier, war ein Völkermord.“ Nun
       müsse sich auch die Türkei offen und ehrlich damit auseinandersetzen.
       
       Wegen einer Armenien-Erklärung des österreichischen Parlaments, in der von
       Genozid die Rede ist, beorderte Ankara den türkischen Botschafter in Wien
       zu Beratungen zurück. Die Erklärung werde die türkisch-österreichische
       Freundschaft „dauerhaft beflecken“, kritisierte das türkische
       Außenministerium am Donnerstag.
       
       ## Kritik türkischer Medien an Gauck
       
       Und auch auf die Armenier-Rede von Bundespräsident Joachim Gauck reagierten
       türkische Medien teils mit scharfer Kritik. Gaucks Äußerungen seien
       „schockierend“ gewesen, schrieb die Onlineausgabe der Zeitung Hürriyet am
       Freitag. Die regierungsnahe Zeitung Sabah warf Gauck vor, das Osmanische
       Reich mit „hässlichen Worten“ beschrieben zu haben. Beim ebenfalls
       regierungsfreundlichen Blatt Yeni Safak hieß es, Gauck habe mit seiner Rede
       seine Befugnisse überschritten. Die Zeitung Star kommentierte, der deutsche
       Präsident habe die Osmanen beinahe als Terroristen bezeichnet.
       
       Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan schloss kategorisch aus, dass
       die Vorfahren seines Landes im Osmanischen Reich einen Genozid begangen
       hätten. „Die armenischen Behauptungen zu den Ereignissen von 1915 entbehren
       jeder Grundlage“, sagte er am Donnerstag auf einer als Friedensgipfel
       angekündigten Veranstaltung in Istanbul. „Ich sage, wir sind bereit, unsere
       Militärarchive zu öffnen. Wir haben keine Angst, keine Sorgen bei diesem
       Thema. Unsere Vorfahren haben keine Verfolgung begangen.“ Die Türkei wehrt
       sich als Nachfolgerin des Osmanischen Reichs seit Jahrzehnten vehement
       gegen die Genozid-Vorwürfe. Ankara hält die Opferzahlen für überzogen und
       bestreitet das systematische Töten.
       
       US-Präsident Barack Obama verpflichtete sich der Solidarität mit den
       Armeniern, verwendete den Begriff „Genozid“ jedoch nicht. „An dieser
       ernsten Hundertjahrfeier, stehen wir dem armenischen Volk bei der
       Erinnerung an der Seite, was verloren wurde“, sagte Obama. „Wir schwören,
       dass diejenigen, die gelitten haben, nicht vergessen werden.“ Als Senator
       und Präsidentschaftskandidat hatte Obama die Massaker noch als Völkermord
       bezeichnet. Seit seinem Amtsantritt schreckt er jedoch davor zurück, vor
       allem aus Rücksichtnahme auf die Türkei, einem wichtigen Verbündeten der
       USA.
       
       24 Apr 2015
       
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