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       # taz.de -- Neues Album von Blur: Über den Wert der Freundschaft
       
       > Echte Lads lügen nie: Blur, das Londoner Popquartett, zeigt sich mit „The
       > Magical Whip“ mal wieder von seiner beseelten Seite.
       
   IMG Bild: Seit 2003 hatte Funkstille geherrscht. Nun gibt's ein neues Album.
       
       Für einen Fall von „serendipity“ hält es Damon Albarn, weitgereister
       Renaissancemensch des britischen Pop, dass am Freitag, allen Dementis und
       Zweifeln zum Trotz, ein neues Blur-Album namens „The Magic Whip“ erscheint.
       Das Serendipitätsprinzip, wie dieses Phänomen hierzulande etwas ungelenk
       genannt wird, bezeichnet eine Fügung, für das der oft beschworene
       „glückliche Zufall“ ein zu prosaisches Synonym ist – fällt dabei doch unter
       den Tisch, dass das, was sich fügt, nicht beabsichtigt, ja nicht einmal
       erwünscht war.
       
       In einer Band, so erklärte Albarn unlängst in einem Promo-Interview zum
       neuen Werk, möchte er nämlich eigentlich nicht mehr sein. Nach einem
       Zerwürfnis mit dem Gitarristen Graham Coxon während der Aufnahmen zu „Think
       Tank“ (2003), dem bislang letzten Album unter dem Namen Blur, hatte
       Funkstille geherrscht. Doch seit 2009 standen die vier Londoner wieder
       gelegentlich zusammen auf der Bühne – und spielten erstaunlicherweise die
       besten Konzerte ihrer Laufbahn. 2013 dann hatte ein abgesagtes Konzert dazu
       geführt, dass Blur ein paar freie Tage in Hongkong hatten.
       
       Spontan mieteten sie sich ein schrottiges Studio im
       klaustrophobisch-wuseligen Stadtteil Kowloon und jammten. Diese Sessions
       blieben kein Geheimnis, doch zumindest Albarn sah darin so wenig Potenzial,
       dass er noch vergangenen Sommer behauptete, daraus werde never ever ein
       Album. Nun ist doch eines daraus entstanden. Und was für eins! Mit so
       großartiger, warmer Musik, dass man sich kaum erinnern kann, wann Blur
       zuletzt so stimmig geklungen hatten.
       
       Klar, in den Neunzigern hatte es viele gute Blur-Momente gegeben, für einen
       Moment war seinerzeit sogar der Zeitgeist auf ihrer Seite. Jetzt stehen sie
       einfach für sich, mit einem erkennbaren, aber weiterentwickelten Sound:
       melancholisch, manchmal euphorisch und vor allem luftig. „Ghost Ship“ etwa
       strahlt eine geradezu Steely-Dan-hafte Aufgeräumtheit aus. Die neuen Songs
       machen so große Räume auf, dass darin sogar Platz für dystopische Momente
       ist.
       
       „There Are Too Many Of Us“, der wohl ungewöhnlichste Song des Albums,
       entwickelt aus einem Marsch-Beat einen ganz eigenwilligen, verstörenden
       Sog. Coxon hatte die Sache in die Hand genommen, die Hongkong-Demos
       zerpflückt und neu zusammengesetzt – und sich Stephen Street als
       Verstärkung geholt. Bis zum 1997er-Album „Blur“, bei dem die Band
       versuchte, mit einen dreckigeren „amerikanischen“ Indie-Sound aus der
       Britpop-Sackgasse herauszukommen, war Street ihr Hausproduzent gewesen.
       
       Coxon wollte seinerzeit lieber Richtung Noiserock gehen, Albarn erwärmte
       sich für elektronische Sounds, HipHop-Beats und afrikanischen Rhythmen. Man
       versuchte es mit anderen Produzenten, durch die Experimentierfreude wuchsen
       auch die Spannungen in der Band. Wer nun wen sitzen ließ, ob Coxon
       ausstieg, weil er genug hatte von Albarns Diktatur oder vom Popstarsein
       allgemein, oder ob die Band Coxon wegen seines Alkoholproblems hinauswarf:
       Mit seinem Abgang war Blur tot, auch wenn auf „Think Tank“ noch eine Tour
       folgte.
       
       ## Fast wie Brüder
       
       Dass man 2009 wieder auf der Bühne zusammenfand, geschah anscheinend aus
       therapeutischen Gründen. In dem atmosphärischen Bandporträt „No Distance
       Left To Run“ von 2010 erzählte Coxon, dass er schlicht und ergreifend
       „seine Freunde zurück wollte“. Und Albarn schwärmt davon, wie sie einander
       die Brüder waren, die sie in ihren Herkunftsfamilien nicht hatten – ein
       Thema, das er auch auf „The Magic Whip“ aufnimmt: „Back in the summertime /
       When we were more like brothers / But that was years ago“, heißt es im
       filigranen, geradezu zärtlichen „My Terracotta Heart“.
       
       Heilsam war das Touren wohl allemal, doch ein neues Album – das schien den
       frisch aufgezogenen Bogen zu überspannen. Zumindest, bis Street und Coxon
       ihre aus den Demos entwickelten Skizzen Albarn vorspielten. Beide Seiten
       waren so aufgeregt, erzählte der später, dass sie vor Nervosität Händchen
       hielten. Albarn war angefixt.
       
       All das Reden über den Wert von Freundschaft ließe sich als Sympathie
       heischende Promotion abtun – irgendwas müssen Bands ja sagen, wenn sie sich
       wiedervereinen –, wäre da nicht dieses Album, das genau diese Geschichte zu
       erzählen scheint: Dass Blur eben wirklich mehr ist als die Summe ihrer
       Teile. Ja sogar, dass mehr zur Bandchemie gehört als die produktive Reibung
       zwischen Albarn und Coxon – etwa, wie wichtig der in jeder Hinsicht solide
       Drummer Dave Rowntree ist, der mittlerweile hauptberuflich als Anwalt und
       Lokalpolitiker arbeitet – als eine Art Rückgrat.
       
       Den Bassisten Alex James allerdings hätte wohl so mancher Fan gerne aus der
       Band gewählt, ist er doch der Lackaffe, der damit prahlte, in drei Jahren
       Champagner und Kokain im Wert von einer Million Pfund weggeputzt zu haben.
       Heute schreibt er Kolumnen über sein Leben als Käsebauer im konservativen
       Daily Telegraph und lädt zur Silvesterparty auch mal Premier David Cameron
       ein. Doch James erdet die versponnenen Ideen von Coxon und Albarn und lässt
       sie so nonchalant grooven, wie es vielleicht nur ein in die Jahre
       gekommener Playboy kann.
       
       Den Vieren ist der Spagat gelungen, neue Ideen in ihren Kosmos zu lassen,
       und zugleich mehr wie Blur zu klingen als seit Langem. „The Magic Whip“
       zeigt, wie es sich anhört, wenn diese vier so unterschiedlichen Charaktere
       ohne rivalitätsbedingte Reibungsverluste zusammenarbeiten. Für die Band mag
       dieses Album ein weiteres Kapitel in ihrer Familientherapie sein. Oder ein
       würdigerer Abschluss ihrer Bandgeschichte, als er seinerzeit gelang. Für
       den geneigten Hörer ist „The Magic Whip“ der perfekte Soundtrack zum
       Frühsommer – und vielleicht tatsächlich Echoraum für so manchen
       Serendipitätsmoment.
       
       22 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stephanie Grimm
       
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