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       # taz.de -- Synthiepop von Jam City: Zeuge des Untergangs
       
       > Wider die Kapitulation: der Londoner Produzent Jack Latham alias Jam City
       > und seine Dancefloor-Popsongs auf dem Album „Dream A Garden“.
       
   IMG Bild: Eher Nachtmensch, als Nacktschnecke: Jam City.
       
       Postdemokratie, Pegida und Cola Zero. Gibt es da einen Zusammenhang? Ja,
       alle drei Phänomene stehen für eine Zeit, in der nichts mehr eigentlich,
       aber alles uneigentlich ist. Und in der das Versprechen von einer besseren,
       gerechteren Welt in einem See aus zynischen Kommentaren und fair
       gehandeltem Kaffee ertränkt werden.
       
       Fast niemand kann sich heute noch eine Welt fernab der totalen Gegenwart
       des neoliberalen Regimes vorstellen. Selbst Popmusik als Hort für Träume
       und Gesellschaftskritik verharrt heute in der Lethargie der Großen
       Koalitionen.
       
       Doch es gibt Gegenbewegungen. Während der US-Soulsänger D’Angelo zuletzt
       mit „Black Messiah“ ans politische Bewusstsein appellierte, begehrt der
       Londoner Produzent Jack Latham alias Jam City mit seinem neuen Album „Dream
       A Garden“ nun gegen die Kapitulation vor den ökonomischen und sozialen
       Krisen auf.
       
       ## Gegen Normcore
       
       „Ich bin in einer Kultur aufgewachsen, die sexistisch, xenophob und radikal
       konsumfixiert ist“, sagte der 25-Jährige kürzlich in einem Interview. Eine
       wichtige Feststellung angesichts der steigenden Zahl restaurativer
       politischer Kräfte und einer zunehmend an Rassismus und Statusverlustangst
       verblödenden Mittelschicht, die sich in ihrer Wohlstandsblase von
       asylsuchenden Flüchtlingen oder vor dem „Islam“ bedroht fühlt.
       
       Latham hält der Gesellschaft dabei aber keinen Spiegel vor, sondern
       erschafft eine Parallelwelt, die Möglichkeitsräume aufzeigt. So setzt er,
       der unter dem Eindruck der eigenen Ohnmacht vor der staatlichen Gewalt bei
       den Londoner Riots 2011 politisiert wurde, weniger auf Parolen als auf
       Selbstermächtigung. Besonders Musik sei ihm zufolge dazu in der Lage,
       kritische Energien zu bündeln – sei es bei ekstatischen Momenten im Club
       oder durch die Ergriffenheit eines Popsongs.
       
       Musikalisch klingt das weit weniger agitatorisch. Jam City hat sich von
       seinen Dancefloor-Produktionen zwischen Dubstep-affinen Subbässen,
       unterkühlten Funk-Drums und überdrehtem House weitgehend verabschiedet –
       zugunsten eines genauso verträumten wie seltsamen Synthiepop-Sounds, der
       jegliche Haudrauf-Metaphorik und Diskurspop-Rhetorik vermeidet.
       
       ## Valium, geringe Dosis
       
       Stattdessen: Musik wie eine geringe Dosis Valium. Eine Blase aus
       zeitgenössischem Achtziger-Retro-Signatur, Electronica und obskur-discoidem
       Ambient, die über allem schwebt – vom sorglos-radiotauglichen „Today“ bis
       zum beatlosen „Damage“, in dem sich ein paar angefunkte Gitarrenakkorde
       durch das Klangdickicht eines melancholischen Drones schlagen.
       
       In mehreren Songs, ein Novum, greift Latham selbst zum Mikrofon, wobei
       seine Stimme unter dem Sounddesgin vergraben bleibt, als singe er hinter
       einer Wand, die Distanz schafft zwischen Musik und Welt.
       
       Trotz aller Glaubwürdigkeit bewegt sich Latham auf symbolischer Ebene auf
       dünnem Eis, etwa wenn er sich, wie im Video von „Unhappy“, mit den
       Insignien eines längst ausgefochtenen Klassenkampfs schmückt. Der
       Trenchcoat mit den Sicherheitsnadeln und handgeschriebenen Slogans (zum
       Beispiel „Protest & Survive“) wirkt angesichts der postmodernen
       Abgestorbenheit dieser Symbole unzeitgemäß.
       
       Ganz anders die Coverkunst des Albums, eine in dunkles Rot getauchte
       Nahaufnahme von kaputtem Beton, zwischen dem sich verbogene Metalldrähte
       emporschlängeln, als versuchten sie – als Zeugen des Untergangs –endlich
       ihren Weg in eine neue Freiheit zu bahnen. Es ist eine passende Metapher
       für die gegenwärtige Krise, die ja vor allem eine Krise der Träume und
       Alternativen ist.
       
       „Dream A Garden“ – der Albumtitel lässt sich somit auch als subversiver
       Imperativ verstehen. Denn ohne Vision auch keine Revolution.
       
       21 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Philipp Rhensius
       
       ## TAGS
       
   DIR Synthiepop
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   DIR Festival CTM
   DIR DJ
   DIR House
       
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