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       # taz.de -- Verdienst unter Existenzminimum: „Gehen Sie doch zur Tafel“
       
       > Flüchtlinge sollen schneller in Arbeit kommen – doch das heißt manchmal,
       > mit einem Lohn unter der Armutsgrenze zu leben.
       
   IMG Bild: Muss als Lehrling in einem fremden Land mit 521 Euro im Monat auskommen: Joma Sharifi.
       
       KIEL taz | Joma Sharifi hat alles richtig gemacht: Deutsch gelernt, lesen
       und schreiben gelernt, eine Ausbildung angefangen. Aber der 27-Jährige, der
       aus Afghanistan geflohen ist und heute in Rendsburg in Schleswig-Holstein
       lebt, ist trotz Vollzeitarbeit ärmer als ohne Job. Dabei will die Politik
       eigentlich mehr Flüchtlinge in Ausbildung und Arbeit bringen – dieses Ziel
       verkündeten am Montag die Beteiligten eines Spitzengesprächs von
       Gewerkschaften, den Unternehmensverbänden, Kammern, der Bundesagentur für
       Arbeit und des Flüchtlingsrates sowie der Landesregierung in Kiel.
       
       Bis zu 15.000 Flüchtlinge könnten bis Jahresende allein in
       Schleswig-Holstein Schutz suchen, sagte Wirtschaftsminister Reinhard Meyer
       (SPD). Es sei wichtig, diesen Menschen den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu
       erleichtern. Zentrale Aspekte seien der Spracherwerb,
       Beschäftigungsangebote und berufliche Bildung. Dass Karrieren aber ganz
       schnöde an der Bürokratie und am Geld scheitern können, zeigt der Fall
       Sharifi.
       
       Der Flüchtling, der dank seiner „besonderen Integrationsleistungen“ vom
       Petitionsausschuss des Landes das Bleiberecht zugesprochen bekam, verdient
       im Monat 411 Euro netto. Die 110 Euro, die er als Zuschuss von der
       staatlichen Berufsausbildungsbeihilfe erhält, reichen nicht, um auf den
       Betrag aufzustocken, der als Minimum für das Leben in Deutschland gilt. Der
       liegt bei knapp 1.000 Euro, denn schließlich müssen nicht nur Lebensmittel
       und Kleidung, sondern auch die Wohnung bezahlt werden. Joma Sharifi, der
       Dachdeckerlehrling, erkauft seine Ausbildung durch Schulden.
       
       Joma Sharifi floh aus seiner Heimat in einer Bergregion unweit von Kabul
       wegen einer Familienfehde, in die ein örtlicher Warlord verwickelt war. Der
       27-Jährige gehört den Hazara an, einer ethnischen Gruppe in Afghanistan.
       Als sein Schwager sich in eine Paschtunin verliebte, geriet Sharifi in den
       Konflikt, wurde entführt, geprügelt und bedroht. Er floh, erhielt nach drei
       Jahren in Deutschland das Bleiberecht und die Arbeitserlaubnis.
       
       Seit vergangenem Sommer verlegt Sharifi Dachziegel, hat aber weniger Geld
       in der Tasche als vorher als Flüchtling im Wartestand oder ein
       Arbeitslosengeld-Empfänger. Denn Azubis, egal ob deutsche Jugendliche oder
       Flüchtlinge, dürfen nicht bis zur Grundsicherung „aufstocken“, sondern
       erhalten individuell Geld aus der Beihilfe (siehe Kasten). Wird es eng,
       können deutsche Azubis meist auf die Hilfe ihrer Eltern zählen. Diese
       Chance haben Flüchtlinge nicht.
       
       Christoph Franke hilft Sharifi bei den Gesprächen mit dem Ausländeramt, der
       Arge und dem Sozialamt – für Briefwechsel im Behördendeutsch reicht
       Sharifis flüssiges Umgangsdeutsch dann doch nicht. Franke hat mit Sharifi
       die Ämter abgeklappert und dabei Dinge gehört, die er als Hohn empfand:
       „Joma solle Essen von einer ,Tafel’ holen – wie denn, wenn er arbeitet?
       Oder er solle einen Zweitjob übernehmen – wie denn, wenn er aufgrund der
       Sprachbarriere mehr Zeit für die Berufsschule braucht?“
       
       Serpil Midyatli, Sprecherin der SPD-Fraktion für Migration, kennt das
       Problem: Ähnliche Fälle gab es in Lübeck, wo die Handwerkskammer
       Flüchtlinge in Ausbildungen vermittelt. „Schleswig-Holstein hat dazu eine
       Bundesratsinitiative gestartet und war erfolgreich“, sagt Midyatli. Der
       Passus, die Ausbildungsbeihilfen aufstocken zu können, ist im neuen
       Bafög-Gesetz enthalten. Das tritt aber erst zum Sommer 2016 in Kraft.
       
       Für Joma Sharifi, dem zurzeit seine ehrenamtlichen Unterstützer Geld für
       die Miete vorstrecken, kommt das zu spät. Auch andere junge Flüchtlinge
       sind betroffen – oder trauen sich gar nicht, eine Ausbildung anzufangen,
       fürchtet Franke. Auf taz-Anfrage sagte Midyatli: „Wir sollten eine
       Zwischenlösung schaffen.“ Denkbar wäre ein Fonds, aus dem Flüchtlinge einen
       Mini-Kredit erhalten. Die Politikerin hofft, schon bis zur
       Flüchtlingskonferenz des Landes im Mai eine Lösung vorlegen zu können.
       
       13 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Esther Geißlinger
       
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