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       # taz.de -- Ode an die Meinungslosigkeit: Denkt grau!
       
       > Jeder hat zu allem eine Meinung und plärrt sie in die Welt hinaus. Ein
       > Plädoyer gegen den Meinungszwang, gegen das Schwarz-Weiß-Denken.
       
   IMG Bild: Graudenker sind empathisch und deshalb sympathisch.
       
       Wer keine feste Meinung hat zur Ukraine, zu Griechenland, dem
       Nahostkonflikt oder dem Kopftuchstreit, ist unpolitisch. Ein unwissender,
       uninteressanter, unreflektierter Trottel. Ohne Standpunkt, ohne Rückgrat
       gibt er sich der Welt hin, lässt sie passiv auf sich wirken, ohne selbst
       gestalten zu wollen. Nur wer eine Meinung hat, wird gehört.
       
       Putin ist böse, Tsipras ist gut. Die Troika ist schlecht, die Hamas noch
       schlechter. Und Atomstrom? Der Untergang der Menschheit. Es ist einfach, in
       Kategorien zu denken. Jemand ist schön oder hässlich, etwas ist schwarz
       oder weiß, und immer ist alles einzuordnen – wichtig: die Meinung nicht
       vergessen und sie in die Welt plärren.
       
       Meinung ist Wissen, so wird uns suggeriert. In Zeitungen können wir
       mitlesen, im Radio mithören, vorm Fernseher zusehen, wie die Welt in
       Ja-Nein-Fragen gepresst wird. Hilfspaket für Griechenland – ja oder nein?
       Kopftuchverbot an Schulen – ja oder nein? 46 Prozent dafür. 49 Prozent
       dagegen. 95 Prozent haben eine Meinung. Wer sich nicht dazuzählt, existiert
       nicht: Der hat ja keine Ahnung. Meinung ist Wissen? Meinung ist Zwang.
       
       Wann saß zuletzt ein Spitzenpolitiker in einer Talkshow und gab zu, dass er
       zur Sterbehilfe oder Energiewende keine Meinung hat? Eingeladen wird, wer
       zugespitzt formuliert seinen Standpunkt äußert. Und der trifft auf seinen
       Gegenpart. Du sagst das, ich sag das, und ich hab recht – nein, ich. Als
       Zuschauer pickt man sich einen raus, und schon, huch!, hat man auch eine
       Haltung.
       
       Und die wird dann in die Welt gesendet. Facebook, Twitter, die
       Online-Kommentarspalten. Gefallen findet dort, wer Haltung zeigt. Wer
       abwägt, ist langweilig. Wer „Birdman“ nicht gut oder schlecht findet, nicht
       weiß, ob Jan Böhmermann grandios oder peinlich ist, oder der Name des
       Co-Piloten nun genannt werden muss oder nicht, ist raus. Meinung ist zum
       Fetisch geworden.
       
       ## Reflektiert, offen und interessiert
       
       Dabei wäre es erfrischend, wenn sich mehr Menschen ihre Meinungslosigkeit
       eingestehen, sich hinstellen und sagen: Griechenland? Zu komplexes Thema,
       hab ich doch keine Ahnung, keine Meinung. Denn die gibt es noch, diese
       komplexen Themen, zu denen sich 99,98 Prozent der Menschen keine Meinung
       bilden können, weil ihnen das Wissen fehlt – oder? Das Gefühl, dass man
       allenfalls eine Ahnung hat, in eine Richtung tendiert. Klar: Es gibt rote
       Linien, die auch graues Denken nicht erlaubt. Rassismus, Sexismus, Terror.
       Aber sonst? Der große Rest lässt sich nicht in Schwarz und Weiß einteilen.
       
       Graudenker lassen sich nicht vom Massengeschmack beeindrucken. Sie sind
       reflektiert. Sie haben keine Meinung, sie versuchen, sich eine zu bilden.
       Etwa dann, wenn sie Dinge selbst gesehen und erlebt haben. Sie fahren nach
       Israel und Palästina, sie kommen wieder und sagen: „Ich verstehe das noch
       immer nicht, aber ich verstehe es jetzt besser.“
       
       Sie sind nicht unpolitisch. Sie sind offen für alle Seiten, interessiert an
       allen Argumenten. Sind undogmatisch, machen nicht alles mit, was „die
       Linken“ oder „die Konservativen“ für gut oder schlecht befinden – auch auf
       die Gefahr hin, als verdächtig zu gelten. Ihre Haltung ist Neugier. Das
       macht sie anstrengend, aber auch anregend. Sie sind empathisch und deshalb
       sympathisch.
       
       Sie versuchen, die Motive ihrer Freunde, Partner, Kollegen zu verstehen.
       Sie stellen Fragen, statt sofort Antworten zu geben. „Warum magst du deinen
       neuen Job nicht?“ statt „Kündige lieber.“ Sie sind keine Egozentriker,
       sondern wissen, dass Schweigen manchmal das stärkere Statement ist als
       Plärren. Es gehört Mut dazu, sich als meinungslos zu outen. Es ist unbequem
       und anstrengend, grau zu denken. Aber es lohnt sich.
       
       10 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paul Wrusch
       
       ## TAGS
       
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