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       # taz.de -- ZDF-Doku über Pariser Banlieues: Das andere Frankreich
       
       > Sie sind verrufen, heruntergekommen und gefährlich: die Pariser
       > Vorstädte. Die ZDF-Korrespondentin Susanne Freitag hat sie besucht.
       
   IMG Bild: Rapstar Alibi Montana setzt sich für die Jugendlichen der französischen Vorstädte ein
       
       Ein französischer Bekannter hat einmal fasziniert davon erzählt, wie er mit
       dem ICE nach Frankfurt gefahren sei. Gerade eben noch sei der Zug durch den
       Wald gerollt und dann schon mitten durch die Innenstadt. Ob es denn in
       Deutschland überhaupt keine Banlieue gebe?
       
       Natürlich gibt es hierzulande die weniger zentralen Orte in oder außerhalb
       der Stadtgrenzen, die dann Vorstadt oder Vorort genannt werden. Mit diesen
       Begriffen wird „banlieue“ gemeinhin ins Deutsche übersetzt - ohne dass sie
       deshalb das besagen könnten, was ein Franzose meint, wenn er sagt:
       Banlieue.
       
       Armut, Arbeitslosigkeit, Migration, Integration, Bildungschancen,
       Islamismus, Kriminalität, Drogendealer... Die Schlagworte, die Susanne
       Freitag in ihrem Film über „Frankreichs Vorstädte zwischen Revolte und
       Religion“ verhandelt, werden auch in Deutschland diskutiert. Zum Beispiel
       anhand der Berliner Ortsteile Kreuzberg und Neukölln.
       
       ## Definitiv keine No-Go-Area
       
       Das aber sind zentrale Gebiete, statistisch arm, gleichwohl zunehmend
       gentrifiziert - definitiv keine No-go-Areas, als welche Susanne Freitag die
       Banlieue qualifiziert: „Paris ist nur durch die Stadtautobahn von den
       Problembezirken getrennt. Aber dazwischen liegen Welten.“ Und: „Das hier
       ist ein anderes Frankreich. Mit anderen Regeln.“ Und: „Die Gesetze der
       Republik hören da auf, wo der Bandenbezirk beginnt.“
       
       Susanne Freitag ist seit 2002 Korrespondentin im ZDF-Studio Paris. In
       diesen Jahren hat sie also nicht nur den für die politischen TV-Magazine
       typischen, die Grenze zum Reißerischen gelegentlich austestenden Duktus
       verinnerlicht. Sie hat auch Kontakte geknüpft.
       
       Drehs in der Banlieue seien sehr gefährlich, sagt sie. Aber sie kennt zum
       Beispiel den Rapper und ehemaligen Dealer Alibi Montana, der Autorität
       genießt, die Lage für sie sondiert. In La Courneuve und Le Mirail und in
       Clichy-sous-Bois - wo es im Oktober 2005 zu Ausschreitungen kam, die bald
       auf andere Banlieues übergriffen. Bilder aus dem Internet zeigen Männer mit
       Gesichtsmasken und Maschinenpistolen vor dem „Balzac“, einem berüchtigten
       Sozialbau in La Courneuve, über den das staatliche Gewaltmonopol
       schließlich nur durch eine Maßnahme zurückzugewinnen war: Abriss.
       
       ## Heimat der „Charlie-Hebdo“-Attentäter
       
       So wie diese Männer sahen auch die Charlie-Hebdo-Attentäter aus, als sie am
       7. Januar zwölf Menschen ermordeten. Kein europäisches Land hat so viele
       Dschihadisten hervorgebracht wie Frankreich. Alibi Montanas Bruder hat mit
       Amedy Coulibaly, der am 8. Januar eine Polizistin und 9. Januar in einem
       jüdischen Supermarkt vier weitere Menschen erschoss, – der aus der Banlieue
       Grigny stammt –, im Gefängnis gesessen.
       
       Er erzählt, wie die Islamisten dort missionieren: „Sie suchen sich die
       Leute aus, die labil sind und nie Besuch bekommen. Sie machen ihnen klar,
       die da draußen haben dich hängenlassen, wir sind deine Familie. Sie geben
       ihnen zu essen und helfen, wo es geht. Solange bis der Gefangene wirklich
       glaubt, dass diese Leute die Wahrheit sagen. Und dann fangen sie an.“
       
       Foudil Benabadji ist muslimischer Gefängnisseelsorger. Für Leute wie ihn,
       die erste Generation algerischer Einwanderer wurden die Wohnblöcke der
       „cités“ einst aus dem Boden gestampft. Er sieht die Probleme der Religionen
       miteinander vor allem als Folge großer Unkenntnis. In Frankreich gibt es –
       anders als in Deutschland – keinen schulischen Religionsunterricht. Das
       laizistische Dogma in der Verfassung verbietet das. Sollte hierin wirklich
       ein Grund liegen für die Eskalation der Gewalt?
       
       Susanne Freitag stellt darüber hinaus leider keine Vergleiche an - es mag
       in der Natur ihres Jobs als Paris-Korrespondentin liegen, dass sie allein
       in Frankreich unterwegs war. Nach mehr als 30 gescheiterten Rettungsplänen
       haben die Menschen in der Banlieue kaum Hoffnung, Susanne Freitag am Ende
       ihres Films auch nicht: „In den Vorstädten hat sich viel verändert – aber
       nicht viel verbessert.“
       
       Ob der französische Bekannte wohl schon einmal von dem deutschen Wort
       „Speckgürtel“ gehört hat?
       
       8 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Müller
       
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