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       # taz.de -- Geburtstag der Jazzikone Billie Holiday: Hymnen ans verstörte Herz
       
       > Vor 100 Jahren wurde Billie Holiday geboren. Die afroamerikanische
       > Sängerin wusste viel von Trost, Einsamkeit und Scham.
       
   IMG Bild: Billie Holiday: Für jeden Zustand von Liebe gibt es einen Song.
       
       Das vereiste Herz wird wieder auftauen, ganz gewiss, in irgendeinem anderen
       Frühling. Es wird wieder erwachen und bereit sein, ein neues Liebeslied
       anzustimmen. In ihrem Song „Some Other Spring“ verströmt Billie Holidays
       Gesang die Wärme der Frühlingssonne und die Zuversicht, dass tiefe Wunden
       der Seele heilen und Liebe wieder möglich sein wird. Ihre Stimme erblüht
       zart und gemächlich, sie beflügelt das Versprechen auf das Vergehen von
       Schmerz.
       
       So einsam man sich auch fühlen mag, Billie Holidays Stimme spendet Trost.
       Sie hat es gerne gesungen, dieses Lied ihrer Jahreszeit, in welche sie am
       7. April 1915 in Philadelphia geboren wird. Doch die Zeit, in der sie
       aufwächst und sich für den Gesang entscheidet, ist geprägt von
       Erbarmungslosigkeit gegenüber afroamerikanischen Mädchen und Frauen.
       
       Von der Mutter alleingelassen, wird die Elfjährige, die damals noch
       Eleonora Fagan heißt, in Baltimore von einem Nachbarn vergewaltigt, zwei
       Jahre später zwingen sie die Lebensumstände, sich zu prostituieren. Sie hat
       mehrere Aufenthalte in Erziehungsheimen hinter sich, als sie 1929 nach New
       York kommt und dort mit ihrer Mutter bis zu deren Tod 1945 in wechselnden
       Absteigen lebt.
       
       Anfangs singt sie in Kaschemmen, wird 1933 von weißen Produzenten entdeckt,
       nimmt mit einem weißen Bandleader auf; ihre Hautfarbe wird vor den weißen
       Plattenkäufern aber geleugnet. Ohne die toxische Mischung aus Rassismus und
       Misogynie, ohne all die Widerlinge in Holidays Umfeld, die sie
       verprügelnden und ihr Geld verschleudernden Männer, karrieregeilen
       Drogenfahnder, Schmierenautoren und „Managern“, wäre ihre Karriere
       wahrscheinlich anders verlaufen. Wegen Herz- und Leberleiden kommt Holiday
       im Mai 1959 ins Krankenhaus, dort wird sie wegen angeblichen Drogenbesitzes
       verhaftet und polizeilich überwacht. Sie stirbt einsam im Krankenbett an
       Leberzirrhose, nur 44 Jahre alt. Ihre Musik lebt fort.
       
       ## Zwiegespräche mit dem Tenorsaxofon
       
       Die wundersamsten musikalischen Zwiegespräche führte Billie Holiday mit dem
       Tenorsaxofonisten Lester Young. Wie beide Stimmen einander abtasten,
       umschmeicheln und zuhören, sich gegenseitig Referenz erweisen und den Weg
       ebnen, klingt auch heute noch nach vertrautem Flüstern, unbeschwerter
       Verspieltheit und innigem Beistand. Es sind vor allem die Blasinstrumente,
       an den unzähligen Nuancen der menschlichen Stimme erprobt, die Holidays
       untrüglichem Gespür für die Zeitlichkeit gesungener Worte ein beredtes
       akustisches Umfeld bereiten.
       
       Aber auch die Pianisten sind ihre engen Partner, denn am Klavier des Café
       Society im New Yorker Greenwich Village, in dem die Rassentrennung nicht
       gilt, wird 1939 Holidays Signaturstück geboren, „Strange Fruit“. Der junge
       jüdische Lehrer Abel Meeropol hatte Holiday seinen gleichnamigen Song
       zugetragen, eine fundamentale Anklage gegen die Lynchmorde an
       Afroamerikanern, die bei Holiday zu einer intimen und todtraurigen
       Erzählung himmelschreienden Unrechts wurde.
       
       In einer Reihe von Songs thematisiert Holiday die weibliche
       Selbstgeißelung: das zermürbende Gefühl und die Scham, sich trotz der
       erfahrenen Brutalität und Entwürdigung nicht vom Partner trennen zu können.
       Ein einziger Funke Aufmerksamkeit wiegt jede neuerliche Selbsttäuschung auf
       und hilft, den Betrug des Partners weiter auszuhalten, ihn zu entschuldigen
       und wegzuschauen. Zu diesen Songs zählt „Fine and Mellow“, den Holiday
       selbst schrieb. Lester Young und Mal Waldron sind nur zwei von den „All
       Stars“, die sie 1957 durch die bewegende Filmaufzeichnung des Liedes
       tragen.
       
       ## Hommage von Cassandra Wilson
       
       Seit Generationen vereint Billie Holiday Hörende unabhängig von Hautfarbe,
       Alter, Geschlecht und sexueller Orientierung. Denn für wirklich jeden
       menschlichen Zustand von Liebe gibt es einen Song, dem sie ihre Stimme
       verliehen hat. Zum Beispiel ihr schelmischer Wink, das Gegenüber möge sich
       nun bitte mal verlieben, „Now baby or never“.
       
       Von jeglicher Hoffnung enttäuscht, singt sie „Who wants love“ als Hymne an
       das verstörte Herz. Wenn die Einsamkeit das Dasein auszehrt, hilft nur noch
       Beten, wie in „In my solitude“. Holiday war gläubig und abergläubisch
       zugleich, ihr Song „God bless the Child“ ist liebevolle Umarmung und
       Fürbitte um Schutz eines jungen Lebensweges. Das Solo von Eric Dolphy auf
       der Bassklarinette nach diesem Lied von 1963 ist eine der berührendsten
       Huldigungen Holidays.
       
       Die größte zeitgenössische Jazzsängerin, Cassandra Wilson, hat Billie
       Holiday kürzlich ein Album gewidmet. Der langjährige Produzent von Nick
       Cave, Nick Launay, war der Richtige für die Umsetzung von Wilsons Vorhaben,
       die Texte Holidays in einer modernen Klangumgebung neu entstehen zu lassen.
       Mit dabei sind der Schlagzeuger Thomas Wydler und Bassist Martyn Casey von
       Caves Band The Bad Seeds, ihr langjähriger Gitarrist Kevin Breit und der
       Pianist Jon Cowherd. Kein Zufall, dass bei Wilson eine dunkel geerdete
       Bassklarinette ertönt und sie ihre Stimme in sechs von zwölf Stücken auf
       einen Teppich aus Streichern betten kann.
       
       Ihre Neuschöpfungen auf „Coming Forth by Day“ atmen jene Mellowness, die
       Holidays Gesang so eigen war: Die untrügliche Verbindung aus Gelassenheit,
       Empfänglichkeit für Sinneseindrücke und Gefühle, die Fähigkeit, Stimme,
       Text und Stimmung in ein und demselben Moment zu erzeugen.
       
       7 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Franziska Buhre
       
       ## TAGS
       
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