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       # taz.de -- Politikwissenschaftler über Smartphones: „Die Perversion des Fortschritts“
       
       > Fortschritt sei eine gute Sache, auch wenn er Rückschritte enthalten
       > könne, so Claus Leggewie. Weltverbesserung dank Facebook hält er für eine
       > Lüge.
       
   IMG Bild: Manchmal führt der Fortschritt nicht so weit: auf der Cebit in Hannover.
       
       taz: Herr Leggewie, heute besitzt die Hälfte der Erwachsenen weltweit ein
       Smartphone. Im Jahr 2020 wird es fast jedermann sein. Diese Geräte rechnen
       jeweils schneller als die Computer, die 1969 die Mondlandung bewältigten.
       Ist das Smartphone Fortschritt? 
       
       Claus Leggewie: Nach solchen Kriterien schon, aber was sagen die aus? Man
       vergleicht nur quantitative Indikatoren im Zeitablauf, stellt eine
       exponentielle Steigerung fest – und nennt es Fortschritt.
       
       Was fehlt? 
       
       Die Frage: Was bringt uns das Smartphone? Ein unverkennbarer Vorteil
       besteht darin, dass wir in der Lage sind, weltweit jederzeit in Echtzeit zu
       kommunizieren. Das kann für das Zusammenwachsen der Weltgesellschaft sehr
       nützlich sein.
       
       Außerdem hat man immer das Weltwissen parat. Die modernen Minicomputer sind
       auch Instrumente für Entwicklung. Leute in entlegenen Dörfern Afrikas
       können damit ihre Bankgeschäfte erledigen. Und das Smartphone kann ein
       Mittel für Revolutionen sein. 
       
       Aber auch für die Diktaturen. In Syrien hat der Geheimdienst mitgelesen,
       was und wer sich auf Facebook geäußert hat. Ein zeitgemäßes, angemessenes
       Verständnis von Fortschritt bedeutet, das Smartphone als mögliches Mittel
       für eine bessere Lebensqualität zu beschreiben, sich aber auch die
       Nachteile klarzumachen.
       
       Welche muss man noch nennen? 
       
       Zerstreuung. Es ist schwer, konzentriert am Stück zu arbeiten, weil ständig
       neue Pseudoinformationen zugänglich sind. Und Stress: Die Arbeitszeit wird
       grenzenlos, damit unmenschlich. Dritter Punkt: Wir saßen unlängst in einem
       Restaurant in Frankfurt, neben uns ein Tisch mit zwanzig Leuten, schweigend
       ins Gespräch mit virtuellen Partnern vertieft. Es herrschte Totenstille.
       Smartphones können Kommunikation individualisieren – und zerstören. Gerade
       sehe ich übrigens der Elternversammlung der fünften Klasse meiner Tochter
       entgegen. Es wird diskutiert, warum die Schule das Handyverbot in den
       Pausen aufhebt.
       
       Sie sind dagegen? 
       
       Aber wie! Damit wäre das kindliche Spiel auf dem Schulhof beendet.
       
       Doch Sie werden sich nicht durchsetzen? 
       
       Nein, und wissen Sie warum? Weil die Helikoptereltern ihre Kinder ständig
       kontrollieren und erreichen zu müssen meinen. Und weil sie die Dinger
       selbst für modern und fortschrittlich halten.
       
       Auf dem Firmengelände von Facebook im kalifornischen Ort Menlo Park ist das
       Wort „hack“ so groß in das Pflaster gelegt, dass man es aus dem Flugzeug
       lesen kann. Der Begriff postuliert die positive Weltveränderung durch
       Technik. Ist dieses Versprechen ein Irrtum? 
       
       Es ist eine Lüge. Wer ein derart eindimensionales Verständnis von
       Fortschritt propagiert, betreibt blanke Ideologie. Sie wird dadurch so
       schlimm, dass die Medienkonzerne so mächtig sind. Sie bringen eine
       affirmative Vorstellung von Fortschritt zum Tragen, die gemeingefährlich
       ist und totalitäre Qualität annehmen kann.
       
       Weil die Macher von Facebook behaupten, sie machten das Leben ihrer Nutzer
       angenehmer und die Welt besser, ohne sich Rechenschaft über die Gefahren
       und Rückschritte abzulegen? 
       
       Wer die Ambivalenz von Technik ignoriert, vertritt ein veraltetes Konzept.
       Nennen wir es Fortschritt 1.0. Dabei sollten wir heute wissen, dass man die
       nicht beabsichtigten Kehrseiten des Fortschritts – Niedergang und
       Rückschritt – immer mitdenken muss. Das wäre Fortschritt 2.0, ein
       selbstkritisches, reflexives Modell.
       
       Von der alten Vorstellung loszukommen ist schwierig. Sie hat uns sehr lange
       begleitet. 
       
       Immerhin über 200 Jahre lang. Im 18. Jahrhundert verließen die Menschen das
       zyklische Weltbild des Mittelalters, das an den saisonalen Kreislauf der
       Natur angelehnt war. Damit entstand die Idee einer Geschichte, die sich vom
       konkreten Erfahrungsraum der Altvorderen löst und eine unbegrenzte
       kollektive Entwicklung propagiert. Der Erwartungshorizont öffnete sich. Und
       in diesem Bild war die Zukunft nun besser als die Vergangenheit. Motoren
       dieses Fortschritts sind Technik, Wissenschaft, irgendwann auch Demokratie.
       Zentral an dieser neuen Vorstellung: So schlecht es einzelnen Menschen oder
       Gruppen jeweils auch gehen mag, so viele Rückschläge auch zu verkraften
       sind, die Geschichte wird doch insgesamt als Vervollkommnung der Menschheit
       betrachtet. In dieser Sicht erlaubt der Fortschritt auch den Kulturbruch:
       Selbst der Massenmord an den Juden kann den allgemeinen Fortschritt nur
       bremsen, nicht grundsätzlich aufhalten.
       
       Das verbirgt sich hinter dem Begriff „Dialektik der Aufklärung“? 
       
       Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die diesen Begriff in ihrem
       gleichnamigen Buch geprägt haben, erklärten den Zivilisationsbruch nicht
       als etwas radikal Antimodernes, sondern als Perversion eines sich selbst
       nicht verstehenden Fortschrittsdenkens.
       
       Kann Fortschritt vor diesem Hintergrund heute überhaupt noch ein Ziel sein? 
       
       Unbedingt, es wäre töricht, die Fortschrittsidee postmodern zu beerdigen!
       Die Aufklärer von Jacques Turgot, Nicolas Condorcet über Gottfried Herder
       bis Adam Smith plädierten ja nie für einen einseitigen, abgekoppelten, bloß
       technischen Fortschritt, sie wollten immer auch moralische Veredelung. Erst
       wenn wir Zivilisationsbrüche nicht übergehen und technische
       Großkatastrophen reflektieren, kommen wir zu einem vollständigeren Begriff
       von Fortschritt.
       
       Was muss ein zeitgemäßes Konzept beinhalten? 
       
       Im Gegensatz zur Vorstellung des 19. und 20. Jahrhunderts müssen wir
       unseren linearen Erwartungshorizont enger spannen. Die Natur setzt Grenzen,
       weil wir sie in den vergangenen 200 Jahren überstrapaziert haben. Denken
       Sie an das Artensterben, die Überfischung der Meere oder den Klimawandel.
       Es darf keine Fortschrittsdebatte geben, die die planetarischen Grenzen
       nicht zur Kenntnis nimmt und den belebten und unbelebten Dingen keine
       Stimme gibt. Das ist der Kern des Anthropozän-Begriffs, der ein neues
       Fortschrittsverständnis einschließt.
       
       Und was ist nun praktisch zu tun? 
       
       Eine Politik der Nachhaltigkeit bedeutet, der Natur nur so viele Ressourcen
       zu entnehmen, wie sich erneuern lassen. Fortschritt ist nicht mehr
       identisch mit Wirtschaftswachstum und zusätzlicher Technik. Es geht nur
       noch das, was die planetarischen Grenzen nicht sprengt.
       
       Nun ist die Transformation in die grüne Zukunft kein schmerzfreier Prozess.
       Wenn Kohlekraftwerke abgeschaltet werden, droht den Beschäftigten der
       Verlust ihrer Jobs. Viele Bundesbürger wollen auf Konsum nicht verzichten.
       Was sagen Sie denen? 
       
       Ein ressourcenstarkes Land wie unseres kann Verlierer kompensieren. Auch
       global schafft die Energiewende so viele neue Chancen, dass man die
       Kohlepfade der Vergangenheit verlassen kann. Wir stellen Alternativen zur
       Diskussion und geben den Bürgern die Möglichkeit der Abwägung. Nehmen Sie
       als Beispiel das Opel-Werk in Bochum, hier in der Nachbarschaft. Kürzlich
       wurde es geschlossen. Dieses Ende drohte aber schon seit 15 Jahren. Damals,
       um das Jahr 2000, haben fantasievolle Leute dem Management und der
       Gewerkschaft gesagt: Schult die Arbeiter und Ingenieure um, macht aus ihnen
       Fachleute für intelligente Mobilität. Entwerft für das Ruhrgebiet ein
       integriertes Mobilitätskonzept mit öffentlichem Nahverkehr, Carsharing und
       anderen Formen modernen Verkehrs.
       
       Dafür braucht man nicht Tausende ehemalige Fließbandarbeiter, sondern
       vielleicht ein paar hundert Entwickler. 
       
       Die jetzt aber auch im Vorruhestand sind und Däumchen drehen. Mit unserem
       Konzept hätte eine größere Zahl der Opel-Beschäftigten vor Jahren eine neue
       Perspektive erhalten – und müsste jetzt nicht in der Transfergesellschaft
       des TÜV Bewerbungstrainings über sich ergehen lassen. Denn es geht um nicht
       weniger als die umwelt- und sozialverträgliche Reindustrialisierung des
       Ruhrgebiets. Mit Elektrofahrzeugen, sauberer Industrie, erneuerbaren
       Energien. Das wäre Fortschritt 2.0. Wenn es weiterläuft wie im Augenblick,
       wird auch die nächste Generation, die an den Ruhr-Unis ausgebildet wird,
       von den Hütern der Regression betrogen.
       
       Werfen wir noch einen Blick zurück in die 1950er Jahre. Leben wir heute als
       Gesellschaft in Deutschland besser als damals? 
       
       Ja. Beispielsweise sind die Beziehungen sowohl zwischen den Geschlechtern
       als auch zwischen den Generationen viel gleichberechtigter. Kinder werden
       ernster genommen. In Bezug auf Fremde – damals hießen sie Gastarbeiter –
       hat sich die Bundesrepublik ebenfalls vorwärts bewegt.
       
       Jemand, der jetzt Asyl beantragt, wird angemessener behandelt als ein
       Gastarbeiter in den 1960er Jahren? 
       
       Das wäre jedenfalls klug. Ich habe kürzlich einer afghanischen
       Flüchtlingsfrau zugehört, die sagte: Ja, manche Deutsche sind unfreundlich
       zu mir. Aber insgesamt ist das hier ein fantastisches Land – besonders im
       Vergleich zu den Verhältnissen, aus denen ich komme.
       
       Wird es unseren Kindern besser gehen als uns? 
       
       Es gibt Anzeichen, dass die Entwicklung auch bei uns nicht mehr so positiv
       verlaufen wird wie in den vergangenen Jahrzehnten. Die nächste Generation
       hat schon Glück, wenn es ihr nicht schlechter geht. Wir hinterlassen
       schwierige Verhältnisse. Soziale Ungleichheit könnte sich verschärfen. Die
       Erdatmosphäre ist bedroht. Außerdem wird Europa, dessen Einigung einen
       kosmopolitischen Fortschritt darstellt, von einem autoritären, expansiven
       Russland und islamistischen Terroristen bedroht.
       
       Ich dachte, Sie seien Optimist. 
       
       Bleibe ich auch. Bevor uns der Pessimismus einholt, müssen wir uns umso
       stärker für die nächste Generation einsetzen – in dem Bewusstsein, was für
       eine gute Zeit wir in den vergangenen sechzig friedlichen und wohlhabenden
       Jahren hatten.
       
       7 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hannes Koch
       
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