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       # taz.de -- Neuköllns neue Bezirksbürgermeisterin: „Kopftuch ist kein Massenphänomen“
       
       > Franziska Giffey, 36, bislang Bildungsstadträtin, wird im April die
       > Nachfolgerin von Heinz Buschkowsky, dem berühmtestem Bezirksbürgermeister
       > Berlins.
       
   IMG Bild: Kaum Ähnlichkeit mit ihrem Vorgänger: Neuköllns neue Bürgermeisterin Franziska Giffey.
       
       taz: Frau Giffey, der Bürgermeisterwechsel in Neukölln hat weit über Berlin
       hinaus großes Interesse erregt, selbst Deutschlandradio, die Zeit und die
       Süddeutsche Zeitung haben berichtet – ungewöhnlich für ein Bezirksthema.
       Wie erklären Sie sich das? 
       
       Franziska Giffey: Ja, allein am Tag, nachdem der Wechsel bekannt wurde,
       sind über 200 Medienberichte erschienen. Es ist eben so, dass nicht
       irgendein Bürgermeister aufgehört hat. Heinz Buschkowsky ist ja eine
       besondere Person.
       
       In vielen Berichten wurden Vergleiche zwischen Ihnen und Buschkowsky
       gezogen. Haben Sie da öfter gelacht oder sich mehr geärgert? 
       
       Oft wurde auf seine poltrige Art abgezielt und die Frage gestellt, ob ich
       das wohl auch kann, weil ich doch eher leiser sei. Als ob man nicht auch
       klar in der Sache sein könnte, wenn man Dinge anders sagt. Er hat seine
       Art, ich habe meine. Zwischen uns liegen 30 Jahre, er ist ein Mann, ich bin
       eine Frau. Logisch gibt es da Unterschiede.
       
       Erklären Sie uns einen. 
       
       Für mich ist Neukölln mehr als die Summe seiner Probleme. Das sieht man ja
       auch daran, wie viele Menschen aus der ganzen Welt jetzt hierherkommen, die
       sehr wohl etwas Gutes an Neukölln finden können, und die diesen Bezirk und
       seine auch positive Entwicklung als Chance sehen.
       
       Dass diese Leute nach Neukölln kommen: Ist das nicht auch Buschkowskys
       etwas düsterer PR zu verdanken? 
       
       Ich glaube nicht, dass die Menschen hierherkommen, weil sie es spannend
       finden, in einem sozialen Brennpunkt zu leben. Sie kommen, weil sie von der
       kulturellen Vielfalt und der Kulturszene gehört haben, von den neuen
       Kreativen, die sich hier bewegen, aber auch, weil das Mietniveau hier in
       den vergangenen Jahren immer noch niedriger war als an vielen anderen Orten
       Berlins, auch wenn es in Nord-Neukölln schon enger wird, wo die
       Mietpreissteigerungen enorm sind.
       
       Wer bildet die größte Gruppe unter den Neu-NeuköllnerInnen? 
       
       Aktuell sind das vor allem Südosteuropäer, vor allem Bulgaren und Rumänen,
       aber auch Italiener und Spanier, die hierherkommen, weil sie in ihren
       Herkunftsländern keine Arbeit finden. Aber es ist eine große Bandbreite von
       Menschen, die neu nach Neukölln kommen – dazu gehören auch Flüchtlinge und
       Menschen aus arabischen Ländern. Und natürlich kommen auch Menschen aus
       anderen Teilen Deutschlands, etwa StudentInnen, die hier dem Land- oder
       Kleinstadtleben entkommen wollen und gehört haben, hier ist was los. Es ist
       in, nach Neukölln zu ziehen.
       
       Dabei kann man ja auch in Neukölln piefiges Landleben haben: etwa in Rudow
       oder Bukow, wo Heinz Buschkowsky herkam. Er hat mit diesen Neuzuzüglern
       nicht so viel anfangen können, oder? 
       
       Er hat den Fokus sehr stark auf das Thema Islam und die Zuwanderer aus der
       Türkei und den arabischen Ländern gelegt. Und das ist ja auch nicht falsch:
       Wir haben in Neukölln mittlerweile ebenso viele Moscheevereine wie
       evangelische Kirchengemeinden – jeweils 18. Und das ist schon eine starke
       Komponente, das war vor 50 Jahren nicht annähernd so. Wir haben Menschen,
       die in ihrer eigenen Welt und nach ganz anderen Regeln und Werten leben,
       als es in Mitteleuropa üblich ist. Aber parallel dazu haben wir eben auch
       noch andere Veränderungstendenzen und zwar im selben Stadtraum. Sicher gibt
       es die, die verschleiert gehen, Mädchen, die schon in den Grundschulen
       Kopftuch tragen. Aber es gibt eben auch die Entwicklung, dass ich in der
       Boddinstraße zunehmend Spanisch, Portugiesisch, Englisch oder Bulgarisch
       höre. Und wenn Sie den Club Klunkerkranich auf der Dachterrasse der
       Neukölln Arcaden besuchen, dann werden Sie sehen, dass dort all diese
       Menschen zusammen sitzen. Das ist auch ein Teil der Veränderung in
       Neukölln.
       
       Sie sind selbst auch keine eingeborene Neuköllnerin. 
       
       Ja, und das kann ich auch nicht mehr nachholen. Ich habe nie in Buckow
       Kartoffeln gestoppelt. Ich habe zwar als Kind auch auf dem Feld gespielt.
       Das war aber in einem anderen Land. Ich bin eine Zuwanderin, und da geht es
       mir wie ganz vielen NeuköllnerInnen. Aber das ist ja kein Grund zu sagen,
       dass diese Menschen die Stadt nicht mitgestalten können. Ich halte mich an
       den Spruch: Wichtig ist nicht, woher du kommst, sondern wer du sein willst.
       Das müssen wir unseren Kindern klarmachen, die in den Schulen immer noch
       nach deutscher und nichtdeutscher Herkunft eingeteilt werden - was
       Letzteren ein Defizit unterstellt.
       
       Das finden Sie nicht richtig? 
       
       Das finde ich obsolet: wir haben in Nord-Neukölln längst Klassen mit 100
       Prozent Kindern nichtdeutscher Herkunft. Da kann man sich doch nicht mehr
       hinstellen und sagen, das ist grundsätzlich ein Problem. Ein Problem ist,
       wenn Kinder keine Schere richtig halten oder sich nicht selber anziehen
       können. Aber dass ihre familiären Wurzeln woanders sind, ist doch erst mal
       völlig unerheblich für die Frage, ob diese Kinder Fähigkeiten und damit
       Chancen haben.
       
       Der noch amtierende Bürgermeister hat sich kurz vor seinem Weggang über
       kopftuchtragende Dreijährige und vor Schulen herumlungernde Islamisten
       aufgeregt. Ist das ein klassischer Buschkowsky oder ein echtes Problem? 
       
       Ich kann nicht sagen, dass es das nicht gibt. Es gibt solche Vorfälle. Ich
       kann aber auch nicht sagen, wie hoch die Zahlen tatsächlich sind. Wir haben
       62 Schulen in Neukölln und fast 30.000 Schülerinnen und Schüler. Ich erlebe
       selbst, dass muslimische Schüler mir aus Glaubensgründen nicht die Hand
       geben wollen, obwohl sie wissen, dass ich viel für ihre Schule getan habe.
       Und ich erlebe dann auch, dass sie von anderen muslimischen Schülern dafür
       kritisiert werden. Im Bereich der Kitas entwickelt sich derzeit eine
       Landschaft muslimisch geprägter Träger, die dann häufig die Kinder aus
       stark religiös geprägten Familien anziehen. Das bedeutet, dass das Kopftuch
       in vielen Kitas kein Thema ist, in anderen aber mehr. Aber auch das ist
       kein Massenphänomen. Trotzdem ist es ein Thema: Mich schockiert es, wenn
       ich bei Einschulungsfeiern Erstklässlerinnen, Fünfeinhalbjährige, mit
       Kopftuch sehe. Da gibt es in meinen Augen auch keine wirkliche Begründung
       für. Wir haben aber auch keine Handhabe dafür, das zu verbieten.
       
       Sie haben sich sehr kritisch zu dem Bundesverfassungsgerichtsurteil
       geäußert, dass das pauschale Verbot kopftuchtragender Lehrerinnen lockert. 
       
       Ich finde das dramatisch. Was passiert in einer Klasse, wo die Hälfte der
       muslimischen Mädchen Kopftuch trägt, die andere Hälfte nicht, wenn da eine
       Lehrerin Kopftuch trägt? Die Mädchen ohne Tuch stehen sowieso schon oft
       unter sozialem Druck des Umfelds, der Familien. Wir haben hier einen Ort,
       der heißt Schule, und der steht für Neutralität und Offenheit. Das müssen
       auch die Menschen, die dort arbeiten, verkörpern. Für mich gibt eine
       Lehrerin, die mit Kopftuch vor ihrer Klasse steht, ihre Neutralität auf.
       Ich sehe das mit Sorge und bin gespannt, wie sich das Land Berlin dazu
       verhält.
       
       Jetzt aber Schluss mit Schule: Das war Ihr Gebiet als Stadträtin. Welche
       Schwerpunkte wollen Sie als Bürgermeisterin setzen? 
       
       Ich werde das Bildungsressort abgeben und stattdessen das Ressort Finanzen
       und Wirtschaft übernehmen, mich also einerseits mit den Themen Haushalt und
       Personalausstattung befassen, aber auch mit der Frage der
       Wirtschaftsförderung und des Standortmarketings von Neukölln. Wir haben ja
       hier viele Wirtschaftsunternehmen, auch viele, die sagen, sie würden zur
       Entwicklung gerne was beisteuern - die sehen, dass die Lage schwierig ist,
       aber von alleine nicht wissen, wo sie anknüpfen können. Meine Vorstellung
       ist, möglichst viele Unternehmen zu besuchen und mir anzuhören, wie sie die
       Neuköllner Situation sehen und was sie sich für die Stärkung der
       Wirtschaftsstruktur hier wünschen. Wir haben große Entwicklungsprojekte:
       Die Karl-Marx-Straße, die Hauptverkehrsader des Bezirks, soll eine
       attraktive Einkaufsstraße mit Kulturangeboten und einer guten
       Verkehrsanbindung werden. Auch die Zusammenarbeit mit Künstlern und
       Kreativen möchte ich aus der Bürgermeistersicht begleiten. Das ist auch als
       Stadtentwicklungspotenzial interessant. Hier auf dem Kindl-Areal, das ein
       Schweizer Banker gekauft hat, entsteht ein Zentrum für zeitgenössische
       Kunst, das bereits enorme Aufmerksamkeit weit über Neukölln hinaus erregt.
       Auch das ist ein Standortfaktor. Und dann natürlich das große Thema Wohnen,
       das den Leuten hier zunehmend auf der Seele brennt.
       
       Was steht da auf Ihrem Plan? 
       
       Wir haben beschlossen, in zwei Gebieten prüfen zu lassen, ob die Einführung
       des Milieuschutzes möglich ist: im Schiller- und im Reuterkiez. Für
       Letzteren sollen die Ergebnisse vor der Sommerpause vorliegen. Dort ist der
       Wandel aktuell am stärksten zu spüren, und dort gehören die Häuser
       überwiegend privaten Einzeleigentümern, sodass wir keinen Einfluss auf die
       Preise haben, die da für Wohnungen aufgerufen werden.
       
       Was kann der Milieuschutz da bewirken? 
       
       Er wird den Trend mindern, wenn auch nicht aufhalten können. Die Nachfrage
       nach Wohnungen in den Gebieten ist so groß, dass Vermieter die Preise
       diktieren können. Aber zur sozialen Stadtentwicklung gehört auch, dass die
       Instrumente, die es gibt, geprüft und umgesetzt werden.
       
       Gibt es Neubaupläne in Neukölln? 
       
       Auf dem Kindl-Gelände wird gerade gebaut. Allerdings nur Eigentumswohnungen
       - übrigens alle verkauft und zwei Drittel davon an NeuköllnerInnen. Die
       größten Areale, die wir sonst haben, sind das ehemalige Blubb-Gelände und
       am Mariendorfer Weg das Gebiet der ehemaligen Frauenklinik. Da sollen 1.000
       Mietwohnungen entstehen.
       
       Und wann ziehen Sie nach Neukölln? 
       
       Wir gucken nach einer Wohnung.
       
       Im Norden oder im Süden des Bezirks? 
       
       Ich möchte nicht so weit weg vom Rathaus wohnen, und wenn ich schon in der
       Stadt wohne, will ich auch Stadtfeeling haben.
       
       1 Apr 2015
       
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