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       # taz.de -- Yacht Rock – eine Begriffsbestimmung: Unter der Kuscheldecke ist Morast
       
       > Popgeschichte umcodiert: „Yacht Rock“ oszilliert zwischen Rock, Jazz,
       > Folk Funk und Disco. So entstehen Referenzen für Gourmets wie Daft Punk.
       
   IMG Bild: Sieht harmlos aus, ist aber ein schlimmer Finger: Ned Doheny.
       
       Sie haben die Musik meiner Jugend genommen, Ma. Und sie haben sie „Yacht
       Rock“ genannt! Warum tun Menschen so etwas? Nur ein neuer Name für ein
       altes Phänomen? Nein, der neue Name musste her, weil Popgeschichte quasi
       umgeschrieben, zumindest neu bewertet wird. Unter „Yacht Rock“ werden jetzt
       Dinge zusammengefasst, die bislang nichts von ihrer Verwandtschaft wussten.
       Kern des Ganzen sind die siebziger Jahre, jene Phase, in der den Hippies
       die revolutionäre Energie ausgegangen war und sie den Rückzug in die
       Innerlichkeit antraten.
       
       Die Gemütslage war geprägt von bittersüßer Melancholie (in den besten
       Momenten), weinerlichem Selbstmitleid (in den mediokren Momenten) bis hin
       zu knallhartem Zynismus. Mit dieser Kombination wurde eine heterogene Horde
       aus gealterten und nachgewachsenen Nicht-mehr-Hippies zu einer der
       bestimmenden Kraft im Mainstream.
       
       Charakteristische musikalische Figur dieses Phänomens war der (oder die –
       im Englischen geschlechtslos) Singer/ Songwriter. Und da es diese Spezies
       auf der Bühne und im Studio nicht gut allein aushielt, wurde sein Sound
       damals ganz entscheidend von einigen Session-Musikern definiert. Sie
       schlugen Brücken zwischen Folk, Folk-Rock, Rock, Jazz, Funk und Disco und
       hatten ihre Heimat nicht selten in der Fusion-Szene: Zu den begehrtesten
       Kräften gehörten etwa Mitglieder der Band The Crusaders oder von Tom Scotts
       L.A. Express.
       
       Wo diese Leute auf Alben auftauchen, ist heute das Y-Wort schnell zur Hand.
       Seinerzeit fühlten Singer/Songwriter wie James Taylor oder Joni Mitchell
       wahrscheinlich keine enge Verwandtschaft zu Rockbands mit Jazz-Funk-Neigung
       wie Steely Dan oder den Doobie Brothers, zum Blue-eyed Soul von Hall &
       Oates oder Boz Scaggs oder zum Country-Pop von Loggins & Messina oder Mac
       Gayden.
       
       Der Begriff Yacht Rock macht es nun möglich, diesen in vielerlei Hinsicht
       höchst unterschiedlichen musikalischen Konzeptionen ein gemeinsames
       Anliegen zu unterstellen. Die kürzlich veröffentlichte Compilation „Yacht
       Rock – 60 Smooth Rock Classics from The 70s And 80s“ geht mit Beiträgen von
       Elton John oder Lionel Richie sogar noch weiter. Doch diese Gleichsetzung
       mit sämtlichen Radiohits der Siebziger und Achtziger zeigt, dass die
       Compilation-Macher die Idee hinter der neuen Sortierung nicht verstanden
       haben.
       
       ## Verbotene Zone
       
       Denn eigentlich ist Yacht Rock etwas für Connaisseurs, die sich in
       gefährliche und verbotene Zonen hervorwagen wollen. Leute wie den Berliner
       DJ und Produzenten Marcus Liesenfeld alias DJ Supermarkt etwa, der in den
       neunziger Jahren mit seiner Crew Le Hammond Inferno und dem Label Bungalow
       maßgeblich zur Rehabilitation von „Easy Listening“ der Sechziger
       beigetragen hat und letztes Jahr auf seinem Label How Do You Are (auch der
       Name seines Yacht-Rock-Blogs) die Compilation „Too Slow To Disco“
       veröffentlicht hat.
       
       Neben Hit-Maschinen wie Fleetwood Mac, Chicago oder den Doobie Brothers
       finden sich hier vor allem obskure Singer/Songwriter wie Brian Elliott,
       Browning Bryant und Ned Doheny. Doheny veröffentlichte zwischen 1972 und
       1977 drei Alben, die mit ihrer dezent funky Mischung aus Folk-Rock und
       Blue-eyed Soul eigentlich genau hineinpassten zwischen Boz Scaggs und James
       Taylor, sich kommerziell jedoch nicht durchsetzen konnten.
       
       Als Songschreiber war er erfolgreicher, seine Titel wurden von prominenten
       Künstlern aufgenommen, darunter Chaka Khan, George Benson und die Average
       White Band. Ab den Achtzigern kamen Sampling-Tantiemen hinzu, außerdem
       hatte Doheny treue Fans in Japan, die ihn nicht nur regelmäßig auf
       Konzertreise einluden, sondern auch eine eigene Radiosendung ermöglichten.
       So schlug er sich durch, bis dank Yacht Rock seine Alben begehrte
       Sammlerobjekte wurden und sein komplettes Schaffen digital
       wiederveröffentlicht wurde. Schließlich organisierte die internationale
       Yacht-Rock-Gemeinde eine Europatournee für ihn, die ihn nun auch erstmalig
       nach Deutschland führt.
       
       ## Dekadenzphase des Mainstream
       
       Dem Typus des wenig erfolgreichen Singer/Songwriters, den auch musikalisch
       interessantere Charaktere wie Andy Pratt, Peter Gallway und Hirth Martinez
       verkörpern, stehen vor allem zwei Bands gegenüber, die wie kaum jemand
       sonst die Dekadenzphase des Musikgeschäfts charakterisieren: Fleetwood Mac
       und die Eagles. Erstere waren schon Has-beens des britischen Blues- und
       Psychedelic-Booms als sie den neuen L.A.-Sound mit zu formen halfen. Und
       die vertrauten Sounds der Sixties waren ja alle noch da: verzerrte
       Gitarren, Rockbeats, Blues- und Folk-geschulter Gesang, Beatles-Harmonien.
       All das klang dank Neuentwicklungen in der Studiotechnik ganz anders: Als
       wären die geliebten alten Sounds in eine flauschige Kuscheldecke eingewebt.
       Der neue Westcoast-Rock war nett, freundlich und emotional nicht sonderlich
       intensiv; er forderte keine Aufmerksamkeit und beruhigte eher, statt
       aufzuputschen.
       
       Er entsprach dem Wertewandel innerhalb der Hippie-Generation, die nun im
       Berufsleben stand, Geld verdiente, womöglich Karriere machte.
       Weltverbesserung war abgehakt, nun galt es, das Leben zu genießen. Für die
       Bandmitglieder war es mit dem Genuss jedoch nicht so weit her. Private
       Dramen und exzessiver Kokainverbrauch bestimmten das
       Fleetwood-Mac-Erfolgsalbum „Rumours“ (1977), weswegen Hauptsongschreiber
       Lindsey Buckingham einmal äußerte: „Man kann sagen, ’Rumours’ sei glatt,
       sauber und sonnig. Aber darunter ist Düsternis und Morast.“
       
       ## Süß und sorglos
       
       Die Mischung aus einschmeichelnder Süße und Sorglosigkeit in der Musik und
       Drama und Betroffenheit in den Texten kennzeichnet auch das Schaffen der
       Eagles in ihrer erfolgreichsten Zeit. Ihr Megaseller „Hotel California“
       (1977) thematisiert nach den Worten von Bandleader Don Henley den „Verlust
       der Unschuld, verblichenen Ruhm und Dekadenz“. Das Werk porträtiere „nicht
       nur Kalifornien, sondern die Kehrseite der gesamten amerikanischen Kultur“.
       
       Es entstand eine wahre Sinfonie der Wehleidigkeit und des Gejammers: Wie
       alles den Bach runtergeht! Wie viel besser alles früher doch war! Und dass
       es keinen Anstand mehr unter den Menschen gibt!
       
       Wobei kaum jemand viele der Entwicklungen, die hier in schönstem
       Harmoniegesang beklagt wurden, besser verkörperte als die Eagles selbst.
       „In mancherlei Hinsicht waren die Eagles ein Mikrokosmos’ des
       amerikanischen Traums des späten 20. Jahrhunderts und seines Abstiegs in
       eine alptraumhafte, Kokain-angetriebene Welt“, schrieb das Musikmagazin
       Uncut. „Eine Welt, der jegliche moralische Richtung fehlte, in der Freiheit
       in Maßlosigkeit mündete, Idealismus von Egoismus übertrumpft wurde und
       Glanz und Glorie befleckt wurden von Gier und Exzessen.“
       
       ## Begehrlichkeit kapitalistischer Objekte
       
       Mit dem Abstand von 30 Jahren kann man Yacht Rock heute Retro-selig
       genießen. Zu ihrer Zeit aber feierte diese Musik zunächst vorsichtig, dann
       immer sorgloser die Freuden des Kapitalismus: Luxusleben im Sunshine State,
       üppige Versorgung mit materiellen Gütern, folgenloser Sex und Genussgifte –
       war das denn alles falsch? Nein, scheint einem das lasziv perlende E-Piano
       zuzuflüstern, leg dich wieder hin und genieße es, scheint die Botschaft des
       Dur-Akkords mit großer Septime zu sein, der die unverzichtbare harmonische
       Zauberzutat eines jeden großen Yacht-Rock-Tracks ist. Jazzige Eleganz,
       souverän exekutierte Mehrstimmigkeit und teure Gadgets wie ein Hohner
       Clavinet, ein analoger Synthesizer und die halbakustische Gibson ES-335
       schufen klangliche Analogien zur „shiny surface“, jener Metapher für die
       Begehrlichkeit kapitalistischer Objekte.
       
       Der sanfte Funk der meisten Yacht-Rock-Produktionen machte das Ganze dann
       auch noch sexy – eine Mischung, die es einem jeden Music Lover schwer
       macht, zu widerstehen. Auch Daft Punks „Random Access Memories“ hört man
       heute die Yacht-Rock-Faszination an, genauso den Arbeiten von Vertretern
       aktueller kalifornischer Musikkonzepte wie Ariel Pink oder dem
       Flying-Lotus-Sidekick Thundercat. Ganz besonders toll trieben es der
       Brasilianer Ed Motta auf seinem 2013-Album „AOR“ und das Projekt The Beauty
       Room des britischen Elektronikproduzenten Kirk Degiorgio, beide bauten den
       geliebten Seventies-Sound möglichst originalgetreu nach.
       
       Mehr Distanz bewiesen die Macher der US-TV-Miniserie „Yacht Rock“, die vor
       gut zehn Jahren den Begriff prägten: In den zwölf Folgen der „Mockumentary“
       wird das Privatleben der Genrehelden überzeichnet. Charakteristische
       Vertreter sind Michael McDonald (Doobie Brothers) und Kenny Loggins
       (Loggins & Messina), die als gierige, selbstverliebte und etwas beschränkte
       Kleingeister porträtiert werden – auch nicht schlimmer als der Rest des
       Casts. Interessanterweise hat nie jemand gegen diese Darstellung geklagt.
       
       28 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Detlef Diederichsen
       
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