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       # taz.de -- Netanjahu wittert Verschwörung: „Nur nicht Bibi“
       
       > Fremde Mächte wollen ihn stürzen, mutmaßt Israels Ministerpräsident
       > Benjamin Netanjahu. Dass er selbst Teil des Problems sein könnte, kommt
       > ihm nicht in den Sinn.
       
   IMG Bild: Washington D.C.: Demo gegen „Kriegstreiber“ Benjamin Netanjahu während dessen US-Besuch.
       
       JERUSALEM ap | Die bevorstehende Parlamentswahl in Israel wirkt wie ein
       Referendum über den langjährigen Ministerpräsidenten – den redegewandten
       Hardliner Benjamin Netanjahu. Da viele Israelis inzwischen an den
       festgefahrenen Friedensgesprächen mit den Palästinensern verzweifeln, liegt
       der Fokus vor der Abstimmung am Dienstag vor allem auf der Persönlichkeit
       Netanjahus, seinen Ausgaben-Skandalen und den steigenden
       Lebenshaltungskosten im Land.
       
       Vor der Wahl Netanjahu beklagt, fremde Mächte wollten ihn stürzen.
       Ausländische Regierungen hätten Millionen für eine konzertierte Kampagne
       gegen ihn ausgegeben, sagte er am Sonntag im Militärrundfunk. Er nannte
       keine Länder, meinte aber, die Regierungen hätten sich mit den Medien und
       linken Gruppen zusammengetan unter dem Motto: „Nur nicht Bibi.“ Das ist
       Netanjahus Spitzname. Er sagte, die ausländischen Mächte hätten nicht das
       Interesse Israels im Sinn. Ziel sei vielmehr eine schwache israelische
       Führung, die vor ausländischen Forderungen kapituliere.
       
       Weil es im wilden Durcheinander der politischen Landschaft Israels
       unwahrscheinlich ist, dass ein Kandidat den großen Sieg einfährt, könnte
       die Wahl sehr gut auf eine gemeinsame Regierung zwischen Netanjahu und
       seinem gemäßigten Herausforderer Izchak Herzog herauslaufen. Seit Netanjahu
       1996 erstmals Ministerpräsident wurde, hat sich in der Welt viel verändert,
       doch Israel beschäftigt sich noch immer mit derselben Frage: Was ist zu tun
       mit den strategisch wichtigen, biblisch bedeutsamen, von Palästinensern
       bevölkerten Territorien, die das Land vor fast einem halben Jahrhundert
       eingenommen hat?
       
       Für Israelis ist dies eine Existenzfrage, doch scheint sie für eine
       Demokratie fast schon zu komplex. Nach Jahrzehnten der gescheiterten
       Friedensgespräche ist dies ein derart wunder Punkt, dass Politiker sie zu
       fürchten scheinen - und Wähler sich davon abwenden. Als Netanjahu im
       November die vorzeitigen Wahlen ansetzte, sah es nach einem sicheren Sieg
       für ihn aus. Doch inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Der
       Regierungschef ist in seiner Heimat außerordentlich umstritten.
       
       ## Israel ist beinahe unregierbar
       
       In Umfragen wenige Tage vor der Wahl liegt Netanjahus nationalistische
       Likud-Partei knapp hinter dem Mitte-links-Bündnis Zionistische Union von
       Herzog. Es sind Szenarien denkbar, in denen Herzog neuer Ministerpräsident
       wird. Und das würde den Ton in Israel verändern. Denn Herzog ist ein
       Schlichter, der ein aufrichtiges Interesse an einem Ende der Besetzung von
       Gebieten hat, die Israel im Krieg von 1967 unter seine Kontrolle brachte.
       
       Das Land ist zersplittert – was sich im Parlament und dessen
       Verhältniswahlsystem widerspiegelt. Die zwei großen Parteien kommen
       zusammen auf weit weniger als die Hälfte der Stimmen. Zudem steckt in der
       Parteienlandschaft Israels eine kunterbunte Mischung: Zu finden sind unter
       anderem eine nationalistische Partei, die russischsprachige Wähler anzieht,
       eine weitere für säkulare Liberale und zwei für die Mittelschicht.
       
       Das Fünftel der Bevölkerung, das arabisch ist, wird in einer Einheitsliste
       repräsentiert und diese ist wiederum in kommunistische, nationalistische
       und islamistische Faktionen unterteilt. Es gibt vier religiöse Parteien –
       für Juden europäischer statt nahöstlicher Herkunft und für unterschiedliche
       Grade von Nationalismus.
       
       ## Der Königsmacher
       
       Durch die Parteienkonstellation hat sich über die Jahre eine Teilung in ein
       linkes Lager und ein rivalisierendes rechtes Lager ergeben. Dabei sind die
       arabischen Parteien mit den pazifistischen linken verbündet und die
       religiösen mit den nationalistischen rechten. Wenn einer dieser beiden
       Blöcke auf insgesamt 61 Sitze im Parlament kommt, regiert dessen wichtigste
       Partei.
       
       Erstmals seit Jahrzehnten gibt es eine neue Partei, die keinem Block
       zuzuordnen scheint: die Kulanu von Mosche Kachlon. Der Politiker
       libysch-jüdischer Herkunft, der sich von der Likud abspaltete, ist beliebt,
       weil er in vorherigen Regierungen die Kosten für Mobiltelefonie reduziert
       hat. Kachlon hat angekündigt, sich nach der Wahl mit demjenigen Lager
       zusammenzutun, das ihm den Posten des Finanzminister überträgt. Nach
       jüngsten Umfragen ist Kachlon das Zünglein an der Waage. Er kommt auf etwa
       zehn Sitze, während sich die beiden Blöcke den Rest teilen.
       
       ## Die zögerliche Rechte
       
       Der Block, der bei der Parlamentswahl die meisten Stimmen bekommt, regiert
       häufig in einem Bündnis mit Teilen des anderen Blocks. Derartige
       Koalitionen sorgen für eine breitere Basis und Mäßigung, allerdings sind
       sie auch durch Meinungsverschiedenheiten in ihrer Handlungsfähigkeit
       eingeschränkt und brechen leicht zusammen – so wie Netanjahus Koalition vor
       vier Monaten.
       
       Die Likud-Partei scheint ungern alleine zu regieren und zieht fast immer
       eine Große Koalition mit der Arbeitspartei oder zentristischen Parteien
       vor, statt nur mit den eigenen nationalistischen und religiösen Verbündeten
       zu koalieren. Diese Strategie wirkt wie ein Eingeständnis, dass echte
       nationalistische Politik, wie beispielsweise die Annexion des
       Westjordanlands, die Welt so schwer beleidigen und die Palästinenser so
       provozieren würde, dass dies den Ruin zur Folge hätte.
       
       Die israelische Rechte betrachtet das Westjordanland als Herzstück des
       biblischen Israel und als Ort von immensem strategischem Wert, da Israel
       ohne dieses Gebiet an seiner schmalsten Stelle auf eine Breite von etwa 15
       Kilometer reduziert würde. Das wichtigste Argument der Linken lautet
       hingegen, dass eine dauerhafte Kontrolle über Millionen weitere Araber
       Israel als mehrheitlich jüdischen Staat zerstören würde.
       
       ## Mögliche Einheitsregierung
       
       Weil die Wählerschaft verwirrt und fragmentiert ist, es bei den wichtigsten
       Themen keinen eindeutigen Weg nach vorn gibt und wahrscheinlich weder
       Netanjahu noch Herzog am Dienstag auf eine überzeugende Mehrheit kommen,
       ist eine Zusammenarbeit ihrer beiden Parteien ein plausibles Resultat. Es
       ist auch denkbar, dass Netanjahu und Herzog vereinbaren, das Amt des
       Ministerpräsidenten im Wechsel zu bekleiden.
       
       Ein solches Modell gab es bereits 1984. Damals arbeiteten Schimon Peres von
       der Arbeitspartei und Izchak Schamir von Likud in einem unruhigen Bündnis
       zusammen. Während dieser Zeit wurden zwar ein paar Dinge erledigt, doch
       beim Thema Westjordanland gingen sie auseinander. Peres verhandelte über
       die Angelegenheit mit Jordanien, dann wurden seine Friedenspläne vom
       skeptischen Schamir durchkreuzt. Kurze Zeit darauf kam es zum ersten
       palästinensischen Aufstand, der Intifada. Und manche befürchten, dass eine
       weitere Intifada bevorsteht.
       
       15 Mar 2015
       
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