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       # taz.de -- Stolpersteinerfinder Demnig über Kunst und Gedenken: „So ein Projekt ist größenwahnsinnig“
       
       > Der Künstler Gunter Demnig verlegt mittlerweile an 265 Tagen im Jahr
       > Stolpersteine. Trotzdem ist es für ihn nicht zur Routine geworden.
       
   IMG Bild: In Aktion: Gunter Demnig verlegt einen Stolperstein
       
       taz: Herr Demnig, meißeln Sie Grabsteine? 
       
       Gunter Demnig: Nein. Meine Stolpersteine können keine Grabsteine sein, denn
       von den Menschen, an die sie erinnern, ist ja buchstäblich nichts übrig
       geblieben. Sie wurden in Auschwitz und anderen KZ in Rauch aufgelöst, ihre
       Asche hat man in den Fluss oder im Winter auf die Wege gestreut.
       
       Sie haben früher andere Kunstwerke wie die US-Flagge mit Totenköpfen
       geschaffen – und seit 2001 ausschließlich Stolpersteine. Schmerzt Sie diese
       Reduktion auf nur ein Format? 
       
       Nein. Es kommt so viel zurück, meist positiv. Aber nicht nur, es gab auch
       drei Morddrohungen. Aber die freundlichen Reaktionen überwiegen. Und kein
       Künstler im Atelier erlebt, was ich erlebe – vor allem das Interesse von
       Jugendlichen.
       
       Sind Sie also ein Polit-Künstler? 
       
       Die Steine sind ein Kunst-Denkmal, ein Gesamtkunstwerk. Oder, wie Beuys es
       formulierte, ein soziale Skulptur.
       
       Was hat Sie politisiert? 
       
       Vor allem der Schock, als ich mit 18 erfuhr, dass mein Vater im spanischen
       Bürgerkrieg in der berüchtigten „Legion Condor“ gekämpft hatte, einer
       verdeckten Einheit der deutschen Wehrmacht. Ich fand einen Karton mit
       Fotos, auf denen er mit dem Kanonenrohr zwischen den Beinen posierte und
       ich dachte: Das kann nicht wahr sein! Aber er hat jedes Gespräch darüber
       verweigert.
       
       Für Ihre US-Flagge mit Totenköpfen, die Sie während des Vietnam-Kriegs
       geschaffen haben, sind Sie 1968 kurz ins Gefängnis gekommen. Wie politisch
       waren Ihre Klangskulpturen? 
       
       Ich habe da mit Infraschall gearbeitet, denn ich hatte erfahren, dass der
       Mensch sehr tiefe Töne von 16 Hertz zwar nicht hört, aber spürt. Pfiffige
       Kirchenorganisten benutzen die 16-Hertz-Pfeife, um bei den Gläubigen Demut
       zu erzeugen. Und ich dachte, wenn man diese Demut auch im Museum schaffen
       könnte, würden die Leute vor der Kunst auf die Knie fallen. Zeitgleich
       erfuhr ich, dass Militärs an einer noch stärkeren, der
       8-Hertz-Sinusschwingung arbeiteten, die die menschliche Lunge platzen
       lässt. Allerdings nicht nur die der Gegner und so wurde es nicht
       weiterverfolgt.
       
       Hat Ihr Demuts-Experiment im Museum funktioniert? 
       
       Nein. Es kam keine Sinusschwingung zustande, weil das irrsinnige Energien
       kostet und sehr aufwendig ist.
       
       Vor Ihren Stolpersteinen verbeugen sich viele Menschen ja tatsächlich.
       Andere fordern Gedenktafeln an der Wand. Hatten Sie das erwogen? 
       
       Vorläufer der Steine war ja die Farbspur „Mai 1940 – 1.000 Roma und Sinti“,
       die ich 1990 zum 60. Jahrestag der Deportation in Köln verlegt habe – von
       den Wohnhäusern bis zur Verladerampe. Dann kam die Idee, die Namen
       zurückzubringen, und ich dachte erst an Wandtafeln. Dann sagte ein
       Bekannter: „90 Prozent der Hausbesitzer würde einer Gedenktafel für
       jüdische Opfer aus ihrem Haus nie zustimmen!“ So bin ich auf die
       öffentlichen Gehwege gekommen.
       
       Auf Ihrem ersten Stolperstein vor dem Kölner Rathaus steht der Befehl von
       SS-Reichsführer Heinrich Himmler zur Vernichtung der Sinti und Roma. 
       
       Ja, und natürlich habe ich auch über das Drauftreten nachgedacht. Dabei
       fiel mir ein, dass man in katholischen Kirchen über Grabplatten läuft. Das
       Kasseler Institut für Sepukralkultur bestätigte mir: Je mehr Menschen über
       die Grabplatten laufen, desto höher die Ehre des dort Begrabenen.
       
       Wobei diese Verstorbenen das selbst entschieden haben. 
       
       Ja, aber man läuft trotzdem drüber. Meine künstlerische Idee war:
       Erinnerung wird blankpoliert, indem man drüberläuft.
       
       Und wie konzipieren Sie die Texte? In Hamburg gab es kürzlich den
       Streitfall Lieske: Die Enkelin wollte nicht, dass ihre Großmutter auf dem
       Stein „Gewohnheitsverbrecherin“ genannt wurde. Auf anderen Steinen steht
       „Rassenschande“ oder „Volksschädling“. 
       
       Ja, aber ich habe diese Verurteilungsgründe bewusst in Parenthesen gesetzt
       – also in einfache Anführungszeichen. Ich wollte klar machen, was da
       passiert ist. Ein umgekehrtes Beispiel: Neulich habe ich einen Stein
       verlegt für einen Mann, der im Zuchthaus einsaß. Die Familie hatte sich
       immer geschämt. Dann zeigte sich: Er war im Zuchthaus, weil er
       „Feindsender“ abgehört hatte – und plötzlich waren die Enkel stolz auf
       ihren „Widerstandskämpfer“.
       
       Frau Lieske ging es nicht um die Fakten, sondern um die kommentarlose
       Wiederholung des NS-Begriffs. Verstehen Sie das? 
       
       Nein, nicht immer. Aber ich bin bereit zum Gespräch, um eine Lösung zu
       finden.
       
       Sie haben sich mit Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der
       Juden, auf einen Kompromiss geeinigt. 
       
       Ja. Bei einer Stolperstein-Verlegung im Februar sagte Herr Schuster:
       „Vielleicht ist das mit den Parenthesen nicht so verständlich.“ Wir haben
       uns darauf geeinigt, dass ich künftig „sogenannt“ davor setze
       beziehungsweise „sog.“ Ich selbst fand die Parenthesen ausreichend – aber
       jetzt versteht jeder „Leser“, dass da etwas schief ist.
       
       Sie verlegen an 265 Tagen im Jahr Steine: Ist das zur Routine geworden? 
       
       Nein. In den Niederlanden habe ich 2013 Steine für eine Familie verlegt,
       deren Vater in Mauthausen ermordet wurde. Mutter und fünf Kinder sind am
       selben Tag ins Gas gegangen. Da ist nichts mit Routine. Und im Ausland ist
       es noch mal ein anderes Gefühl.
       
       Von Schuld? 
       
       Von Verantwortung. Und irgendwie kommst du dir scheiße vor. Andererseits
       sagte neulich ein Norweger zu mir: „Schön, dass ein Deutscher mit diesen
       Steinen zu uns kommt. Auch wenn es erst nach 70 Jahren ist.“
       
       In Norwegen liegen 300 Steine, in Polen drei. Anhand welcher Kriterien
       entscheiden Sie das? 
       
       Wie in Deutschland muss die Initiative von dort kommen – von Betroffenen,
       Angehörigen, Schülern, Hausbewohnern …
       
       Und wie aktiv ist Westeuropa? 
       
       In den Niederlanden gibt es nach anfänglichen Widerständen inzwischen
       Steine in über 100 Orten. Aber in Frankreich will man nicht gern erinnert
       werden …
       
       … an die Kollaboration ihrer eigenen Leute mit den Nazis? 
       
       Ja. Man kann zwar sagen, aus den Niederlanden sind 75 Prozent der Juden
       deportiert worden, aus Frankreich 25 Prozent, aber dieses Aufrechnen bringt
       nichts. Und für jüdische Opfer ist in Frankreich bis jetzt kein Stein
       genehmigt worden. Ich habe in der Normandie Steine für Zwangsarbeiter
       verlegt. Aber selbst das war ein Problem, weil sie von den älteren
       Franzosen als Kollaborateure angesehen werden – nach dem Motto: „Die waren
       in Deutschland, hatten Arbeit und zu essen und wir hier haben gehungert und
       waren alle in der Résistance.“
       
       Trotzdem liegen europaweit schon über 50.000 Steine. Wie lange wollen Sie
       weitermachen? 
       
       Anfangs habe ich nur an ein konzeptuelles Kunstwerk gedacht und nicht an
       die Zahl. Natürlich ist so ein Projekt größenwahnsinnig. Ich denke
       manchmal: sechs Millionen Juden, noch mal sechs Millionen weitere von den
       Nazis Ermordete – wann willst du das jemals machen? Aber man kann ja klein
       anfangen. Und wenn ich nicht mehr arbeitsfähig bin, führt meine neu
       gegründete Stiftung das Projekt in meinem Sinne weiter.
       
       Sie haben für die Stolpersteine Ihre Künstlerkarriere aufgegeben. 
       
       Nein. Ich muss keine Bilder malen, um Künstler zu sein. Außerdem hat bei
       mir eins ins andere gegriffen: Ohne meine Schriftspur „Duftmarken“, die ich
       1980 von Kassel nach Paris verlegt habe, hätte ich nie die
       „Roma-Sinti“-Spur gedruckt. Ohne sie wäre ich nicht auf die Idee gekommen,
       die Namen der Ermordeten an die Orte zurückzubringen. Vor Beginn der
       Stolperstein-Aktion habe ich beim Kölner Rabbi angefragt. Er sagte: „Vom
       Talmud her ist das kein Problem, auch das Drauftreten nicht, denn es sind
       keine Grabsteine. Aber machen müsst ihr das – als Nicht-Juden.“
       
       15 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
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