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       # taz.de -- Kunstsammler Peter Hess über Stolpersteine: „Das ist doch unglaublich!“
       
       > Peter Hess holte die Stolpersteine nach Hamburg. Damit hat er sich in
       > Behörden und seinem bürgerlichen Umfeld nicht nur Freunde gemacht.
       
   IMG Bild: Gedenken im Alltag: Peter Hess holte die Stolpersteine nach Hamburg.
       
       taz: Herr Hess, warum haben Sie die Stolpersteine 2001 nach Hamburg geholt? 
       
       Peter Hess: Letztlich aus Enttäuschung. Ich bin ein Nachkriegskind, und
       wann immer ich meine Eltern, Verwandten, Bekannten fragte, ob sie während
       des Dritten Reichs Juden gesehen hätten, sagten sie: „Nein, es gab hier
       keine Juden.“ Dann habe ich recherchiert und festgestellt, dass im
       Hamburger Grindelviertel sehr viele Juden gelebt hatten. 2001 erfuhr ich
       von Gunter Demnigs Projekt und dachte: Das muss ich nach Hamburg holen!
       Wenn hier irgendwann Tausende dieser Steine liegen, kann keiner mehr
       leugnen, dass diese ermordeten Nachbarn hier gewohnt haben.
       
       Demnig hat in Berlin und Köln jahrelang um die behördlichen Genehmigungen
       für die Verlegung gekämpft. Mussten Sie das auch? 
       
       Ja. Das Tiefbauamt Hamburg-Eimsbüttel reagierte zunächst gar nicht auf
       meine Anfrage. Später hieß es, ich müsse die Rutschfestigkeit der Steine
       nachweisen. In Gang gekommen ist die Sache erst durch den
       Bezirksbürgermeister, der – trotz Protesten einiger Abgeordneter der
       Schill-Partei, die damals mit im Senat saß – für das Projekt plädierte. Die
       Genehmigungen für die anderen Bezirke habe ich dann nach und nach
       eingeholt.
       
       Und parallel mit der Recherche begonnen. 
       
       Ja, und auch das war nicht einfach. Ich habe als Einzelkämpfer begonnen,
       bin kein Historiker und dachte: „Wie kommst du überhaupt an Namen und
       Adressen?“ Ich bin dann auf das offizielle Gedenkbuch des Senats gestoßen,
       in dem die fast 10.000 von den Nazis ermordeten Hamburger Juden aufgelistet
       sind. Die Adressen habe ich im Staatsarchiv aus den Einwohnermelde- und
       Deportationsakten herausgesucht. Und um die ersten Patenschaften zur
       Finanzierung der Steine habe ich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis
       geworben.
       
       Und einen Verein gegründet. 
       
       Nein, ich wollte das nie, weil ich ein freier Mensch sein wollte. Um
       Spendenbescheinigungen ausstellen zu können, hat der damalige
       Kammerspiel-Chef Ulrich Waller ein Unterkonto eingerichtet. Er hat auch die
       erste Matinee ausgerichtet, in der Ulrich Tukur aus Briefen von
       Überlebenden las. Der Theatersaal war voll, und ich habe viele weitere
       Patenschaften gewonnen. Daraufhin hat Demnig die ersten 20 Steine
       hergestellt.
       
       Wem galt der erste Hamburger Stein? 
       
       Dem Mediziner Siegfried Korach, einst Chef des Israelitischen
       Krankenhauses, den die Nazis 1943 als 88-Jährigen nach Theresienstadt
       deportierten und umbrachten. Seine Verwandten hatten sich retten können,
       aber er hat gesagt: „Ich bin deutscher Patriot, ich war im Ersten
       Weltkrieg, ich bleibe hier.“
       
       Inzwischen liegen in Hamburg über 4.800 Stolpersteine. Recherchieren Sie
       noch allein? 
       
       Nein. Inzwischen sind wir eine Initiative von etwa 80 Ehrenamtlichen, die
       recherchieren und unter Anleitung einer Mitarbeiterin des Instituts für die
       Geschichte der deutschen Juden die Biografien für die Stolperstein-Bücher
       schreiben. Die Landeszentrale für Politische Bildung finanziert die
       Homepage und die Bücher, die bereits für 16 Hamburger Stadtteile entstanden
       sind.
       
       Und was ist Ihr Part? 
       
       Ich bereite mit einem Mitstreiter die Listen mit Namen und Anschriften der
       Opfer für Demnig vor, organisiere die Patenschaften und die Verlegung.
       
       Die Initiative legt fest, wer einen Stolperstein bekommt? 
       
       Nicht nur. Seit wir die Homepage haben, bekommen wir auch immer mehr
       Anfragen von Angehörigen aus aller Welt, die Steine für ihre ermordeten
       Verwandten möchten. Dann gibt es immer wieder Schüler, die wissen wollen,
       ob einstige Lehrer ihrer Schule ermordet wurden. Und manchmal fragen
       Menschen an, ob es in den Häusern, in denen sie leben, Opfer gab. Wir
       prüfen das dann und verlegen gegebenenfalls die Steine.
       
       Hat sich die Opfergruppe, auf der der Fokus liegt, inzwischen verschoben? 
       
       Da gibt es kein System. Allein für homosexuelle Opfer liegen schon über 300
       Steine. Außerdem mehren sich in letzter Zeit die Anfragen nach Steinen für
       Euthanasie-Opfer. Die Eltern, die die Todesursache oft totschwiegen, leben
       nicht mehr, und jetzt kommen die Geschwister auf uns zu und sagen: „Wir
       haben die Akten gefunden und festgestellt, die waren in der der
       ’Heilanstalt‘, können Sie uns mehr darüber sagen?“ Dann setzen wir uns mit
       den Alsterdorfer Anstalten in Verbindung, wo viele Namen registriert sind,
       und organisieren auf Wunsch die Verlegung.
       
       Und wie steht Hamburgs Bürgertum, dem auch Sie angehören, zu dem Projekt? 
       
       Wenn wir neue Namen und Adressen recherchiert haben, teile ich das den
       Anwohnern schriftlich mit. Da gibt es dann manchmal Stimmen – gerade aus
       dem bürgerlichen Umfeld –, die sagen: „Müssen Sie die Steine gerade vor
       meinem Haus verlegen? Mein Vater hat das Haus damals billig bekommen, aber
       ich habe darüber nie mit meiner Familie gesprochen. Wenn die Steine da
       liegen, muss ich das allen erklären.“
       
       Wie reagieren Sie darauf? 
       
       Ich sage: „Das ist deutsche Geschichte. Sie gehören einer anderen
       Generation an, aber Sie werden damit leben müssen. Ich habe die Genehmigung
       von der Stadt, ich darf den Stein auf dem Gehweg verlegen – und dann
       erzählen Sie doch bitte Ihrer Familie, was da passiert ist.“ Andere
       Gespräche verlaufen nicht so nett: In einer teuren Wohngegend kam während
       einer Verlegung ein älteres Ehepaar raus und sagte: „Immer für die Juden!
       Wir haben im Osten alles verloren! Und für uns werden keine Denkmäler
       aufgestellt.“ Da habe ich gesagt: „Sie haben den Osten überlebt, Sie wohnen
       in einer teuren Gegend – worüber beklagen Sie sich? Warum gönnen Sie den
       ermordeten Menschen diesen kleinen Stein nicht?“
       
       Ist das ein Einzelfall? 
       
       Nein. Ich habe festgestellt, dass ich aus meinem bürgerlichen Umfeld die
       wenigsten Stolperstein-Patenschaften bekomme.
       
       Aber gibt es auch eine „Willkommenskultur“? 
       
       Ja, natürlich! Manchmal kommen die Leute aus den Häusern und sagen: „Schön,
       dass wir auch einen Stolperstein haben!“ – was ja eigentlich makaber ist.
       Oder der Autor Harry Rowohlt: Als wir Steine vor seinem Haus verlegten, kam
       er raus und sagte: „Ich begrüße euch, meine alten Nachbarn, ihr seid
       wiedergekehrt über diese Steine! Ich werde die Steine putzen und pflegen!“
       Solche positiven Reaktionen überwiegen bei Weitem.
       
       Verlaufen die Einweihungen eigentlich immer ähnlich? 
       
       Vom Ablauf her ja, aber im Detail natürlich nicht. Da wird dann doch jeder
       Akt sehr individuell gestaltet, mit Ansprachen, Lesungen, Musik, Blumen und
       vielleicht einer Schweigeminute. Und danach wollen die Angehörigen meist in
       die Wohnung. Oft ist das möglich, und dann geht dieser alte Mensch durch
       den Flur und sagt: „Ich zeig Ihnen mal, wo mein Kinderzimmer war.“ Dort
       guckt er aus dem Fenster und ruft: „Die Bäume sind aber groß geworden!“
       Danach wollen mir fast alle zeigen, wo sie zur Schule gegangen sind. 90
       Prozent der Angehörigen reagieren so.
       
       Weinen Sie manchmal mit den Angehörigen? 
       
       Tatsächlich treten mir oft die Tränen in die Augen. Da kommen wildfremde
       Menschen auf einen zu, umarmen einen und freuen sich über den
       Erinnerungsort. Das ist doch unglaublich! Wo kann man so etwas erleben?
       
       Trotzdem: Eigentlich müsste der Staat dieses Gedenken organisieren, statt
       es einem Künstler zu überlassen. 
       
       Das finde ich nicht. Was staatlich gemacht wird, hat etwas Verordnetes. Ich
       finde dieses Bürgerengagement besser.
       
       Aber dass der Staat sich da ganz raushält … 
       
       Tut er ja nicht. Er finanziert die Homepage und Hamburgs
       Bürgerschaftspräsidentin hat Geld für die Steine für die 20 ermordeten
       Abgeordneten gesammelt, die heute vor dem Rathaus liegen. Im Gegenzug
       schenken die Bürger der Stadt das größte dezentrale Kunstdenkmal.
       
       Gab es besonders anrührende Einweihungen? 
       
       Ja, zum Beispiel die Stolperstein-Verlegung aus dem Jahr 2001 für die
       Angehörigen des damaligen Hamburger Ersten Bürgermeisters Ole von Beust.
       Seine Familie mütterlicherseits stammte aus Lübthen in
       Mecklenburg-Vorpommern und betrieb dort ein kleines Kaufhaus. Die Nazis
       haben vier Familienmitglieder ermordet. Ich habe von Beust gefragt, ob er
       sich über Stolpersteine für seine Familie freuen würde. Er sagte: „Ja, aber
       es soll eine Privatveranstaltung sein.“ So haben wir es gemacht. Während
       der Einweihung gab es anrührende Dialoge mit Menschen, die das Kaufhaus
       noch gekannt hatten.
       
       Damals koalierte der CDU-Mann Ole von Beust mit dem Rechtspopulisten Ronald
       Schill. 
       
       Ja, und auch da gibt es eine Geschichte. Schills Großvater war Kommunist
       und wurde von den Nazis ermordet. Ich habe damals Innensenator Schill
       angeschrieben und gefragt, ob er sich über einen Stolperstein für seinen
       Großvater freuen und an der Einweihung teilnehmen würde. Sein Sekretariat
       antwortete: Er habe nichts gegen die Aktion und erteile als
       Familienmitglied die Genehmigung für die Verlegung. An der Zeremonie könne
       er aber aus Zeitmangel nicht teilnehmen.
       
       Wie verhält es sich eigentlich mit der Beschriftung der Steine? Die
       Hamburgerin Liane Lieske hat kürzlich gegen das Wort
       „Gewohnheitsverbrecherin“ auf dem Stein für ihre Großmutter protestiert.
       Demnig hat das dann erst nach zähen Debatten geändert. 
       
       Ich persönlich sage, ich würde mit den Angehörigen zu einem Konsens kommen
       wollen. Der Künstler sagt aber, das sei sein Werk und er habe zu
       entscheiden, welche Texte eingeschlagen werden. Das ist sein gutes Recht,
       schließlich hat er die Steine entwickelt.
       
       Aber seine Entscheidungen betreffen andere, teils noch lebende Menschen.
       Insofern ist das Beharren auf künstlerische Autonomie problematisch. 
       
       Ja, es ist etwas schwierig, in allen Bereichen mit ihm einig zu werden. Ich
       persönlich habe den Begriff „Gewohnheitsverbrecher“ anfangs allerdings
       selbst nicht problematisch gefunden, weil er in Anführungszeichen stand.
       Und der Künstler wollte ja niemandem schaden.
       
       Allerdings hat Demnig bei Juden und Behinderten den Verurteilungsgrund
       nicht genannt, bei anderen aber sehr wohl. Das ist nicht konsequent. 
       
       Nein, und da kann ich dem Künstler auch nicht folgen.
       
       Könnten Sie sich im Zweifel gegen Demnig durchsetzen, wenn Ihnen eine
       Inschrift missfällt? 
       
       Nein. Aber bisher haben wir uns fast immer einigen können.
       
       In Hamburg liegen inzwischen fast 5.000 Steine. Wie lange wollen Sie die
       Aktion noch weiterführen? 
       
       Solange ich Patenschaften gewinnen kann, mache ich weiter.
       
       15 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
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