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       # taz.de -- Regierung und Opposition in Russland: Mafia in Moskau
       
       > Die willkürliche Gewalt in Russland erreicht mit dem Nemzow-Mord eine
       > neue Qualität. Das Land entwickelt sich zu einer Diktatur der reinen
       > Selbsterhaltung.
       
   IMG Bild: Trauerbekundungen am Ort Nemzows Ermordung.
       
       Autoritäre Regime unterscheiden sich voneinander in Stil und Größe. In
       einigen Staaten wird die politische Opposition ihrer Einfluss- und
       Partizipationsmöglichkeiten mit friedlichen Mitteln beraubt. In anderen
       werden Oppositionelle regelmäßig ermordet. In Malaysia etwa wurde der
       Oppositionsführer Anwar Ibrahim wegen Sodomie verurteilt, in Thailand lässt
       man Thaksin Shinawatra voraussichtlich nicht wieder ins Land, in China
       stand der frühere Premier Zhao Ziyang unter Hausarrest. In den Tagen des
       Autoritarismus in Argentinien oder Chile war es „normal“, dass
       Oppositionelle tot aufgefunden wurden oder „verschwanden“. Erst Jahre
       später erfuhr man von Straflagern oder davon, dass Oppositionelle aus
       Hubschraubern ins Meer geworfen worden waren.
       
       Bis zur Ermordung von Boris Nemzow hat wohl niemand geahnt, wie weit
       Russland sich mittlerweile vom pragmatischen Diktaturtypus entfernt hatte.
       Nemzow war ein erfahrener Oppositioneller. Er ging, nachdem er die
       Regierung einmal mehr gegeißelt hatte, zum Abendessen in ein Restaurant und
       anschließend zu Fuß durch Moskau. Was in Pakistan oder China ein
       unvorstellbarer Luxus ist, war in Russland bis zu seiner Ermordung normal.
       Doch die Nacht, in der Nemzow erschossen wurde, hat gezeigt, dass der
       russische Autoritarismus einen neuen Weg eingeschlagen hat. Russland
       entwickelt sich zu einer ideologiegetriebenen Diktatur der reinen
       Selbsterhaltung.
       
       Unabhängig davon, wer nun geschossen hat und auf wessen Befehl: Ein Land,
       in dem ein Regimekritiker eher fürchten muss, auf offener Straße erschossen
       als bei einer Demonstration verhaftet zu werden, ist ein anderes Land. Seit
       Langem arbeiten Kräfte daran, dass Russland sich zu einer lupenreinen
       Diktatur entwickelt. Allerdings macht es das opake, fast geschlossene
       System unmöglich zu sagen, wie nahe sie dem Machtzentrum bereits gekommen
       sind.
       
       Und es gibt noch eine weitere entscheidende Differenz zwischen
       autokratischen Systemen: In einigen Ländern hat der Staat die repressiven
       Mechanismen monopolisiert. In anderen hat er dieses Monopol verloren. Die
       Repression ist dort außer Kontrolle und erfasst die Massen. Letzteres
       passiert in der Regel nicht, solange die Gesellschaft und ihre Führung sich
       mithilfe steigender Lebensstandards konsolidieren, was in den ersten zehn
       Jahren von Putins Herrschaft genauso wie in China zwischen 1990 und 2000
       der Fall war. Jedoch verliert der Staat das Repressionsmonopol, sobald er
       die Feindschaft zum politischen Gegner zum entscheidenden Ordnungsprinzip
       erhebt.
       
       ## Diffamierung ganzer Klassen
       
       Das Regime setzt dann alles daran, die Gesellschaft in gut und böse
       aufzuspalten, um so unliebsame Fragen zu tabuisieren und sich die
       Zustimmung der Bevölkerung zu sichern. Die Guten bleiben Bürger, die
       einigermaßen vom Gesetz geschützt werden. Die Bösen hingegen werden ihres
       Bürgerstatus und damit jedes Schutzes beraubt. Sie finden sich auf Listen
       radikaler Patrioten wieder, die sie als „Verräter“ bezeichnen und ihre
       Bestrafung fordern. Einige nehmen diese Aufforderung dann wörtlich: Habt
       ihr nicht gesagt, Feinde müssen vernichtet werden? Wir haben sie
       vernichtet!
       
       In den letzten Jahren wurde der russische Wortschatz um eine Reihe von
       Bezeichnungen für diejenigen erweitert, die zentrale innen- wie
       außenpolitische Entscheidungen kritisieren – etwa, dass Putin ins
       Präsidentenamt zurückkehrte, dass die nationale Identität rund um die
       sexuelle Orientierung konstruiert wird, dass man die Krim annektierte und
       in der Ukraine intervenierte. Diese nicht Einverstandenen werden als
       „fünfte Kolonne“, „feindliche Kollaborateure“, „Zerstörer des Landes und
       seiner Werte“ bezeichnet.
       
       Gleichzeitig finden sich neue Namen auf den geheimen Abschusslisten:
       Nawalny, Makarevich … Nemzow. Hinzu kommen die „fremden“ Fernseh- und
       Radiostationen wie Doschd (Rain TV) und Echo Moskaus; die Hochschule für
       Wirtschaftswissenschaften oder die „schlechten“ Theater. Ganze soziale
       Gruppen wie die „kreative Klasse“ werden diffamiert. Und zwar von unten wie
       von oben.
       
       Diese Unterscheidung zwischen guten und bösen Bürgern wird nicht nur durch
       Worte, sondern vor allem durch Taten befördert. Ich denke dabei nicht nur
       an die bizarren Gerichtsverhandlungen gegen Nawalny und andere, in denen
       die Opfer der Beklagten aussagten, sie hätten gar keinen Schaden erlitten –
       und die Richter einfach widersprachen und harte Strafen verhängten. So
       zeigte der russische Sender NTW einen Clip mit dem Titel „Die Patrioten
       erteilen den Menschenrechtsanwälten eine Lektion“. Darin stürmen
       undefinierbare Leute ein NGO-Büro, richten ein Chaos an und ziehen den
       Mitarbeitern Plastiktüten über den Kopf.
       
       ## Erzwungene Stabilität
       
       Nachrichten von russisch-orthodoxen Aktivisten, die irgendwo eindringen,
       Sachen zerstören und Menschen jagen, gehören mittlerweile zum Alltag. 2011
       wurde auf das Autodach von Nemzow eine Toilettenschüssel geworfen. Als er
       als Bürgermeister für Sotschi kandidierte, schüttete ihm jemand Ammoniak
       ins Gesicht. Seine privaten Telefonate wurden während der Proteste im
       Winter 2011 im Sender Life News veröffentlicht. Niemand wurde zur
       Rechenschaft gezogen. Warum also sollte man nicht den nächsten Schritt
       wagen? Zumal mit dem Beginn des Krieges im Donbass die Regierung den
       bewaffneten Kampf legitimiert hat. Die zurückkehrenden, eigentlich
       illegalen Kämpfer werden indes nicht behelligt.
       
       Natürlich gab es auch schon früher die ein oder andere Hexenjagd, etwa als
       der estnische Botschafter von einer rechtsradikalen Jugendbande durch die
       Stadt gejagt wurde. Diese Mitglieder der Jungen Garde standen aber noch
       unter einem gewissen staatlichen Einfluss. Heute werden die Oppositionellen
       allesamt von erwachsenen Menschen drangsaliert, von Vertretern des
       zwielichtigen militärischen Reenactments, von gewalttätigen Patrioten, die
       pseudoreligiösen Organisationen angehören und obskure Auftraggeber haben.
       
       Viele von ihnen konnte man bei den jüngsten Anti-Maidan-Protesten in Moskau
       sehen. Waren sie bis vor ein paar Monaten noch private, inoffizielle
       Helfer, die Freiwillige und Sponsoren für den Donbass mobilisierten, haben
       sie nun entscheidend an Einfluss gewonnen und können sich zeigen.
       Unterstützt werden sie von Teilen der politischen und wirtschaftlichen
       Elite, die vom Regime ein noch härteres Vorgehen gegen die vermeintlichen
       „Feinde des Vaterlands“ erwarten.
       
       Die ausländische Presse ist der Ansicht, dass mit Nemzow der wichtigste
       Rivale von Putin getötet wurde. Das ist aus russischer Sicht zu kurz
       gedacht: Russland hat kein System, worin Putin ein Rivale erstehen könnte.
       Nichtsdestoweniger offenbart der Mord die Verschiebungen im Vergleich zu
       der von Putin angeführten sogenannten Stabilität. War diese früher im
       ökonomischen Wachstum begründet, basiert sie inzwischen darauf, die
       Bevölkerung gegen den inneren Feind aufzuhetzen. Aber wenn die Bevölkerung
       gegeneinander aufgehetzt wird – von welcher Stabilität reden wir dann noch?
       
       ## Die Vernichtung der Feinde
       
       Das Besondere am russischen Autoritarismus ist: Man kann Putin offen in der
       Presse, im Fernsehen oder Radio kritisieren, ohne etwas befürchten zu
       müssen. Aber klar: Sobald man als ehemaliger Teil seiner Entourage das
       Lager gewechselt hat, wird man als Verräter geführt. Noch gefährlicher ist
       es, die Gefühle oder Interessen irgendeines Provinzbürgermeisters zu
       verletzen oder auch nur des Autohändlers aus der Nachbarschaft. Präsident
       Putin wird sich zweimal überlegen, was er davon hat, wenn er einen
       Journalisten oder Oppositionsführer umbringen lässt.
       
       Aber diese Provinzfürsten und Kleinoligarchen kümmert es nicht, was das
       Ausland denkt. Kommst man ihnen in die Quere, kann das dein Ende bedeuten.
       So geht es in halb Lateinamerika zu, häufig in Afrika, den postsowjetischen
       Republiken und auch in Teilen Osteuropas. Natürlich sind die Regime für das
       Klima verantwortlich, das „wahren Patrioten“ oder Mafiosi erlaubt, ihre
       Gegner zu eliminieren.
       
       Aller Wahrscheinlichkeit nach wird Putin einen Mord, der ihm ungelegen
       kommt, auch untersuchen lassen. Im Zuge dieser Untersuchung wird man ihm
       ein Szenario anbieten, das besagt: Ein Feind hat den anderen ermordet, um
       das Regime in Verruf zu bringen. Das nun Tschetschenen angeklagt sind,
       passt in dieses Muster. Genauso hatte man damals die Morde an den
       JournalistInnen Politkowskaja und Litwinenko verkauft. Dabei ist Putin
       natürlich klar, dass das, was innerhalb Russland problemlos funktioniert,
       im Ausland niemanden überzeugen wird. Er wird also versuchen, den Mord an
       Boris Nemzow eher kleinzureden.
       
       Aus dem Englischen von Ines Kappert
       
       15 Mar 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alexander Baunov
       
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